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November 2003
Angels In Hell
von R. Funke


©2003 R. “ritch” Funke / Jimi Hendrix “Angel” comercial version ©1971

[Angel came down from heaven yesterday. She stayed with me just long enough to rescue me …]

Mit dem letzten Tageslicht fuhren die automatischen Jalousien hoch und mein Stützbett drehte sich in die Vertikale, um mir einen Blick aus dem Fenster zu bescheren.
Am Horizont umarmten sich der Mond und das tiefblaue Meer.

[... and she told me a story yesterday – about the sweet love between the moon and the deep blue sea ...]

Ab zwanzig Uhr stiegen Raumfrachter im Minutentakt aus den Tiefen und transportierten die Erzeugnisse der unterseeischen Fabriken und Bohrkomplexe in die Weite der bekannten Galaxie. Die Doppelverglasung meines Krankenzimmers vibrierte mit sonorem Ton, wenn ein Frachter in den oberen Atmosphärenschichten die Antimaterieannihilation des Strahlkernantriebs [*1] zündete. Die Luft kondensierte und bildete düstere blau-violette Ringe, die wie verlaufende Ölfarben zäh ins Meer hinabflossen. Ich konnte trotz Klimafilter den stechenden Geruch des Ozons wahrnehmen – zumindest bildete ich es mir ein. Auf den Wellenkämmen formten sich riesige Methanblasen, befreit von den Abbruchmaschinen aus dem Gestein der Tiefsee. Hin und wieder platzte eine Blase auf und wurde von den Antriebsdüsen der Frachter entflammt. Das Meer brannte, wie der Fluss zum Vorhof des Hades. In den schwarzen Wolken stieg die Asche verkohlter Meerestiere gen Himmel, regnete wieder hinab, vermischte sich mit Fett und Tran und gab der Oberfläche einen schmierigschwarzen Glanz.
Außerhalb der Mauern gab es keine höherentwickelten Lebewesen mehr, deren Lungen dem Angriff der Gase schutzlos standhielten.
Typisch Mensch, dachte ich, wieder ein Planet mehr, den wir unbewohnbar gemacht haben.
Wo wir auftauchten, hinterließen wir eine entkernte Ökologie – perforiertes Gestein, saures Wasser und eine vergifte Atmosphäre. Die Aliens nannten uns Sauger ... und sie hatten Recht mit dieser Bezeichnung ... wir waren die alles in sich einsaugenden Kreaturen der Hölle.
Und ich war, bis zu meinem Unfall, einer ihrer Förderingenieure gewesen.

Mein Bewegungstherapeut hatte sich vor Begeisterung fast überschlagen, als er sah, dass ich die Finger meiner rechten Hand wieder unter Kontrolle hatte.
„Das ist ein gewaltiger Fortschritt, Jacques“, hatte er gesagt.
Ich teilte seine überschwängliche Freude nicht – was ist schon eine Hand, wenn alles unterhalb des Beckens nicht mehr vorhanden ist ....
„Sie werden sehen, Jacques, bald werden Sie auch wieder richtig laufen können.“
Ohne Beine? Schlechter Scherz.

Neben dem Bett stand ein Foto meiner Familie. Meine Frau und mein kleiner Sohn waren nun besser dran als ich – sie hatten den Unfall nicht überlebt. Und sie mussten sich keine Selbstvorwürfe machen.
„Kommt“, hatte ich zu Susan gesagt, „ich habe ein wenig Geld gespart und Urlaub bekommen. Wie wäre es, wenn ihr mich auf der Aussichtsplattform von Seaworld besucht? Wir könnten uns ein paar erholsame Tage gönnen. Die Sonnenuntergänge sind ein himmlisches Erlebnis.“
Susan hatte in der Fertigungskontrolle von Kyrotec einen schlechtbezahlten und einsamen Job bekleidet. Uns trennten zehn Lichtminuten für elf Monate im Jahr. Ihre Produktionsandroiden waren nicht auf zwischenmenschlichen Smalltalk programmiert und Susan vermisste die Wärme menschlicher Kollegen, wenn sie ihre Mittagsration aus dem Kantinenautomaten zog, den man nur für sie installiert hatte. Einsam und verlassen hatte sie am Rande der Halle gesessen, mitangesehen, wie sich ihre metallischen Mitarbeiter stoisch durch die Pausen gearbeitet hatten – ohne ihre Vorarbeiterin auch nur eines Blickes oder Wortes zu würdigen.
Ich hätte mich mehr um sie und ihre Seele kümmern sollen. Ich wünschte, ich hätte eine zweite Chance.
Doch schlimmer war, dass ich die ersten Worte und Schritte meines Sohnes nur in einer Aufzeichnung des InterCOM miterleben durfte. Für mein Kind war ich ein Fremder gewesen. Ich hasste meine Arbeit, die mich von meinen Lieben getrennt hatte – und nun hasste ich auch mein Leben.

Die Kontrolle meiner Hand war noch nicht stark genug, um die Kabel meiner Lebenserhaltung zu durchtrennen – aber ich machte Fortschritte. Die Erlösung von der Schuld und meinem sinnlosen Dasein war fast greifbar.
Ich hörte den Öffnungsmechanismus er elektronischen Schiebetür. Eine Nachtschwester trat ein und stellte sich zwischen Bett und Fenster. Sie war ein Wesen dieser einstmals gesunden Welt – ein Alien, wie wir sie nannten. Ich fühlte mich unwohl in ihrer Gegenwart. Erst zerstörten wir ihre Planeten, dann zwangsintegrierten wir sie in unsere Gesellschaft. Was mochten sie fühlen? Hassten sie uns oder hatten sie sich an die neue Ordnung angepasst und sie akzeptiert?
So als könnte sie meine Gedanken lesen, begann sie zu reden.
„Das Problem bei euch Saugern ist, dass ihr mit unsäglicher Ignoranz, Oberflächlichkeit und egoistischer Gier ausgestattet seid“, sagte sie in ruhigem Ton, fast beiläufig, während sie mein Kopfkissen aufschüttelte. „Ihr kommt hier an, scannt unsere Heimat nach Verwertbarem und entkernt sie. Die Bewohner eurer Produktionsstätten werden nicht gefragt – entweder sie unterwerfen sich oder werden kurzerhand beseitigt.“
Ich hätte ihr gern widersprochen, doch der Wahrheit ließ sich nichts entgegenstellen.
„Nicht alle Menschen sind so. Früher zumindest gab es mal einen Menschen, der von Mitgefühl und sozialer Kompetenz geleitet war.“
Sie warf einen verächtlichen Blick auf meine Ingenieursuniform, die über einer Stuhllehne hing. Doch dann lächelte sie. „Wirklich? Erzähle mir von ihm.“
An ihrem Hals bemerkte ich die Narben der entfernten Kiemenöffnungen und um ihr Handgelenk lag ein schwarzer Armreif, den man als elektronische Fluchtsperre bezeichnete. Sklaverei - das war unsere Vorstellung von Integration. In diesem Moment wusste ich nicht, was ich mehr bedauern sollte – meine fehlenden Gliedmaßen, oder ihre Unfreiheit.
Sie zog einen Stuhl an mein Stützbett, setzte sich und schaute mich erwartungsvoll an.
„In der Nachtschicht passiert für gewöhnlich nichts besonderes. Ich habe Zeit“, sagte sie immer noch lächelnd.

Die Doppelverglasung erzitterte – ein Sternenkreuzer der Medusa-Klasse hatte soeben die Stratosphäre durchbrochen und seine Zerfallsprodukte der Mikrofusion [*2] färbten die Ozonwolken ultramarin. Das Flagschiff der Militärs stoppte kurz oberhalb des Meeresspiegels und öffnete seine Containerluken zur Schadstoffverkappung. Tausende Tonnen aggressiver Säuren und Spaltabfälle ergossen sich in die kochende See. Wieder starben unzählige Lebewesen durch die von meiner Nachtschwester erwähnten Ignoranz. Anschließend tankte das Schlachtschiff Meerwasser für die Deuteriumgewinnung und filterte die darin enthaltenen Tiere zur Herstellung von Proteinnotrationen für die biologischen Kampfeinheiten.
So sind die Sauger.

Ich erzählte ihr die Geschichte, die mir mein Großvater mündlich überliefert hatte. In seiner Kindheit hatte er ein Buch über einen Menschen gelesen, der mit der grenzenlosen Liebe für alle Lebewesen ausgestattet war – und für eben diese Liebe durch Menschenhand gerichtet wurde.
„Wie hieß dieses Buch?“
„Das Evangelium des ... ich weiß es nicht mehr genau.“

Die Medusa hatte ihr schmutziges Geschäft erledigt und stieg mit gewaltigem Grollen wieder ins All empor – bereit, um neue Welten zu erkunden und zu unterwerfen. Seaworld war nicht mehr zu retten. Der ökologische Kollaps war vorprogrammiert, billigend in Kauf genommen und am Ende vielleicht sogar beabsichtigt. In den Köpfen der Strategen war es nur einer von vielen Außenposten der Logistik des interstellaren Krieges, dessen Front nur wenige Lichtjahre entfernt verlief.

Meine Nachtschwester lauschte interessiert der Erzählung aus meiner Erinnerung. Ich musste es hier und dort mit ein wenig Phantasie ausfüllen, doch im Kern stimmte es wohl mit der Geschichte meines Großvaters überein.
„Und daraus ist dann eine Religion entstanden?“, fragte sie.
„Ich glaube schon ... zumindest hielt dieser Glaube einige tausend Jahre an – wurde zwar von den Herrschern mitunter missbraucht, aber soll angeblich ein Segen für die Menschheit gewesen sein.“
Sie stand auf, schaute aus dem Fenster auf die brodelnde See und schien zu überlegen.
„Mir gefällt der Abschnitt über die Engel. Denkst du, sie waren wirklich so schön und strahlend und besaßen diesen positiven Einfluss auf die Sauger?“
Ich wusste es nicht, aber auch mir gefiel diese Vorstellung von einer Lichtgestalt.
Ich spreizte meine Finger. Langsam kehrte das Gefühl in meinen Unterarm zurück. Mich trennte ein halber Meter von den Kabelanschlüssen der Lebenserhaltung.
Die Nachschwester beobachte meine verkrampften Bewegungen. „Kann ich dir irgendwie helfen? Was möchtest du?“
„Ja“, flüsterte ich, „schalte die Maschine ab und lass mich sterben.“
Ich wünschte, es gäbe eine Zentralbeatmung für alle Sauger, die sich mit dem Umlegen eines Schalters abstellen ließe.
Sie setzte sich auf meine Bettkante und strich mir die Haarstränen aus der Stirn. „Ich habe eine bessere Idee. Stell dir vor, ich wäre ein Engel wie aus deiner Geschichte und du dürftest dir etwas von mir wünschen, das wichtiger als dein Leben ist. Was wäre das, Jacques?“
Ich schaute auf das Bild neben meinem Bett. Susan und mein kleiner Sohn. Sie schienen glücklich, obwohl der Vater Lichtminuten entfernt als Handlanger der Ignoranz und Unmenschlichkeit fremde Interessen bedient hatte. Dann fiel mein Blick in die Augen der Schwester, die heimatlos und versklavt und dennoch ohne Hass in ihrem Herzen war.
„Ich würde mir eine zweite Chance wünschen“, sagte ich unter Tränen, „ich würde alles dafür geben, wenn ich noch mal ganz von vorn beginnen könnte, um den Unfall ungeschehen zu machen. Und ich wünschte, wir hätten niemals einen Fuß auf diesen Planeten gesetzt.“
Ich griff mit meiner rechten, wiedererstarkten Hand nach ihrem Armreif, schaute hinaus auf den vergifteten Himmelskörper und schluchzte „Verzeih mir, ich habe das nicht gewollt. Ich bin doch auch nur ein Sklave des Systems und habe Befehle zu befolgen. Es tut mir unendlich leid ...“
Sie nickte mitfühlend und betrachtete gedankenversunken das Familienfoto mit der schwarzen Kondolenzbinde.
„Hast du dich jemals gefragt, warum wir Wesen von Seaworld die offensichtliche Vernichtung unserer Heimat so geduldig ertragen?“
Ich besaß keine konkrete Vorstellung zur Beantwortung dieser Frage. Es mochte vielleicht Selbsterhaltungstrieb, Unterwürfigkeit oder Anpassungsfähigkeit gewesen sein ... ähnliche Gründe, die auch mich zu einer Marionette gemacht hatten.
„Nein“, sagte ich nach einer Weile, „ich weiß es nicht. Erkläre es mir.“
„Weil dieses oberflächliche Dasein keine Relevanz besitzt.“
Aus ihrer Schulter erwuchsen schneeweiße Schwingen und die Flügelspitzen vibrierten im Luftzug der Klimaanlage.

[... then she spread her wings high over me ...]

“Du bist der einzige Mensch, der unser Schicksal bedauert. Somit bist du der einzige, der die Errettung verdient.“
Großvater hatte recht, dachte ich, es gibt einen Punkt im Universum, der außerhalb unserer Wahrnehmung liegt – an dem wir vielleicht schon oft vorbeigeflogen sind, ohne die wahre Größe zu erblicken.
„Konzentriere dich auf das Bild deiner Sehnsucht und vertrau mir“, sagte mein Engel und zog die Kabel und Schläuche der Lebenserhaltung aus der Maschine, „es ist nur ein kurzer Übergang – und am Ende steht die Erfüllung deines Herzenswunsches – deiner zweiten Chance in dem wahren Kosmos von Seaworld, so wie es lange kein Sauger mehr erblicken durfte.“
Das Deckenlicht flackerte und ich hörte ein letztes Mal die Vibrationen der aufsteigenden Raumfrachter – doch diesmal gab es keine Antimateriezündungen mehr – sie wurden durch tiefe, friedliche Stille ersetzt.
In dieser Stille stieß sie einen gellenden, hochfrequenten Schrei aus, womit sie das Fenster zur ökologischen, menschgewollten Hölle zerschmetterte. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und sog die gesamte vergiftete Atmosphäre des Planeten und alles was sich an Restleben in ihm befand in ihre Lungen. Am Rande des Sonnensystems pulverisierte die Medusa, die Speerspitze des Expansionswahns, kurz vor erreichen der Lichtmauer in einer Wolke glitzernden Sternestaubs, und die Wucht ihrer Explosion war noch Lichtjahre entfernt auf den Raum-Seismographen zu registrieren.
Die Wände der Krankenstation lösten sich auf und meine Lichtgestalt schwebte in einem Meer von Sternen.

[Fly on, my sweet angel - fly on through the sky …]

Mit ihrem Zeigefinger malte sie einen Kreis in den Sternenhimmel, an dessen Rand eine tiefblaue, elektromagnetische Gaswolke die Menschheit vom Rest des Universums trennte. Undurchdringlich für unsere Gier nach Macht – die letzte Grenze unserer Expansion.
Der Mensch und selbsternannte Beherrscher allen Lebens erzitterte beim Anblick dieser Katastrophe kosmischen Ausmaßes, auf die er nicht vorbereitet gewesen war.
„Schau, Jacques, sie haben sich ihre eigene Hölle geschaffen – nun werden sie bis ans Ende ihrer Tage in ihr existieren müssen ... bis sich einer der ihren sich ihrer erbarmt.“
Sie hielt meine Hand, während mich Leere und Dunkelheit umgab und sprach mit ihrer Engelszunge: „Oberflächlichkeit und Ignoranz kommt früher oder später vor den Fall. Das ist das Gesetz des Kosmos ... wenn das Ungeziefer überhand nimmt und eine Unordnung in die Natur aller Dinge bringen will, dann stülpe ein Glas über sie, auf dass sie sich gegenseitig die Luft zum Atmen stehlen und sich der Folgen ihres Handelns bewusst werden.“

Endlose Zeit verging ...

„Du kannst deine Augen nun wieder öffnen“, flüsterte mein Engel und strich mir liebevoll über die Stirn.

Die Sonne stand im Zenit und ihre Strahlen tänzelten über die Wellenkämme. Möwenähnliche Vögel durchzogen die Lüfte, umkreisten sich, stießen kreischende Laute aus und tauchten in den Fluten nach kleinen, silbernen Fischen. Die Luft schmeckte salzig und roch nach Seetang.
Auf einem breiten Holzpier flanierten strahlende, geflügelte Wesen. Sie lachten, tanzten mit bunten Bändern und scherzten – einige liefen über das Meer und spielten mit den Kreaturen der Tiefen, denen es vergönnt war, das Licht der Oberfläche zu erblicken.
„Ist das die Welt, die wir vernichtet haben?“, fragte ich meinen Engel.
„Aber nein“, erwiderte sie lächelnd, “diese Welt könnt ihr mit eurer materiellen Technik nie erreichen. Den Wesen deiner ehemaligen Art fehlt das Auge und Herz für das wahre Seaworld, das ihr vor vielen tausend Jahren mal Paradies genannt habt.“
Sie zeigte in Richtung Mole. „Man erwartet dich, Jacques. Nun bist du einer von uns und wir lieben dich. Mach das Beste daraus ...“
Am Ende des Stegs standen Susan und mein kleiner Sohn. Sie warfen Brotkrumen ins hellblaue Wasser und erfreuten sich am Spiel der Vögel und der intakten Natur.
Ich rief ihnen zu und winkte. Sie erkannten mich, liefen mit ausgestreckten Armen meinem Herzen entgegen – und auch ich lief ihnen entgegen, auf neuen Beinen, da meine Flügel noch zu schwach waren, um das Gewicht meiner Seele zu tragen - wieder vereint in der zweiten und wahrhaftigen Chance meines bisher blinden, sinnlosen Daseins.
Ich hob meinen Sohn in die Luft und setzte ihn auf meine Schulter. „Hey, bist du groß geworden!“ Er kicherte vergnügt – von Entfremdung keine Spur.
Susan nahm mich in den Arm, wir wanderten am schneeweißen Strand entlang und suchten nach Muscheln und Seesternen, die das Licht der Sonne in den Farben des Regenbogens reflektierten. Ihre Depression schien verschwunden.
Hin und wieder fanden wir ein seltsames Tier namens Mensch, das durch seinen Glauben an das Gute mit der Flut an das Gestade unserer Insel gespült wurde ... doch keines von diesen Geschöpfen erreichte den Strand lebend.
„Du hattest recht“, sagte Susan am Abend, „der Sonnenuntergang ist ein himmlisches Erlebnis ... und schau nur, wie der Mond die tiefblaue See umarmt ...“
Meine Flügel erstarkten und zitterten in der abendlichen Brise. Irgendetwas erschien mir seltsam in der Perfektion meines vermeintlichen Wunschdenkens: Es war die Perfektion an sich.
Das Paradies verlor an Qualität, durch die Erkenntnis seines Vorhandenseins.
Die Unerreichbarkeit sollte der Sinn alles Strebens sein.
Jene, die mich an diesen Strand gebracht hatte, stand in den Fluten und breite ihre Schwingen aus.
„Verstehst du nun, was wirklich wichtig ist, Jacques?“
„Ja, es geht nicht darum, das persönliche Paradies gefunden zu haben, sondern den Glauben daran zu vermitteln und zu erhalten ... für jene, denen es nicht vergönnt ist, es mit eigenen Augen zu schauen.“
Sie schien erfreut von meiner Erkenntnis.
„Nun weißt du, was uns die offensichtliche Vernichtung unserer Heimat so geduldig ertragen lässt“, sagte sie und stöpselte die Kabel und Schläuche wieder in die Maschine meiner Lebenserhaltung, worauf ich wieder Bewusstsein erlangte und mein Krankenzimmer re- materialisierte.

Über die folgenden Monate lernte ich, mit der künstlichen Intelligenz meiner neuen Hightech-Prothesen umzugehen – sie waren nicht so perfekt wie meine Flügel, aber sie erfüllten ihren Zweck. Meine engelsgleiche Krankenschwester begleitete mich auf meinem Weg zu neuem Lebenswillen; und eines Tages war ich stark genug, um den Armreif ihres Sklavendaseins zu zerbrechen.

[Fly on my sweet Angel, Tomorrow I’m gonna be by your site.]

„Es wird Zeit für ein neues Evangelium“, sagte sie.
Wir verließen das sterbenskranke Seaworld und flogen gemeinsam dorthin, wo der Mensch den Glauben an das Paradies am nötigsten hatte: Ins Zentrum der selbsterschaffenen Hölle am Rande unserer Galaxie – ein kleiner, unscheinbarer, ehemals blauer Planet, den man Erde nannte – inmitten einer Gaswolke, aus der es für die Sauger kein Entrinnen mehr gab.


[*1] Der Strahlkernantrieb arbeitet mit den Zerstrahlungsprodukten der Materie-Antimaterie-Reaktion. Der Triebwerksstrahl besteht nahezu aus Licht (Gammaquanten). Protonen und Antiprotonen werden in eine magnetische Düse geleitet, wobei aus der Reaktion geladene und ungeladene Pionen entstehen. Die ungeladenen Pionen wandeln sich wieder in Gammastrahlen um. Die geladenen Pionen legen eine Strecke von ca. 21 Metern in 70 Nanosekunden mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zurück, bevor sie in Neutrinos und Myonen zerfallen. Die Myonen leben länger als die Pionen und durchqueren 1,85 km innerhalb von 6,2 Mikrosekunden, bevor diese wiederum in Positronen, Neutrinos und Elektronen zerfallen. Die Zwischenprodukte der Zerfallsreaktion verhalten sich wechselwirkend mit der magnetischen Düse und erzeugen so den Schub.
[*2] Die Antiprotonenkatalysierte Mikrofusion ersetzt die (Zündungs-) Laser durch eine kleine Menge an Antiprotonen, deren Annihilationsenergie für die Zündung der Kernfusionsreaktion reichen sollte. Als Brennstoff für experimentelle Fusionsreaktoren nutzt man Deuterium und Tritium. Deren Reaktion besitzt aber den Nachteil, dass Tritium hochradioaktiv ist und Neutronen als Reaktionsprodukte auftreten.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 11.14 Uhr
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