Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Felix Tittel IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
November 2003
Die Luft, die wir atmen
von Felix Tittel


Air von Johann Sebastian Bach

“Lass dir doch erst ein mal den Wind um die Nase wehn!”, sagte Prof. Dr. Betzbach zu seinem 17-jährigen Sohn. Sie schauten sich lange an und als dem jungen Thomas Tränen in den Augen standen, wandte sein Vater ihm den Rücken zu und ließ ihn mit seiner Frage stehen.
Diese Reaktion war zu erwarten gewesen. Es war sowieso ein Wunder, dass der “große Professor” einmal Zeit gehabt hatte, um mit seinem Sohn zu sprechen. Ernstgenommen fühlte der 17-Jährige sich nicht, zumal sein Vater wahrscheinlich weniger an der Frage interessiert gewesen war, die Thomas ihm gestellt hatte, sondern wohl eher darauf aus war, seinem Sohn eine seiner vielen Lebensweisheiten um die Ohren zu hauen, von denen Thomas schon viel zu viele gehört hatte und mit denen er wenig anzufangen wusste.
Thomas’ Mutter stand erst sprach- und irgendwie hilflos da und begann, als Vater Betzbach gegangen war und ihr gemeinsamer Sohn sich zu ihr umgedreht hatte, mit dem Abräumen des Esstisches, der in der Mitte des riesigen Esszimmers stand, welches im Erdgeschoss der monströsen Villa der Betzbachs gelegen war.
Thomas war unschlüssig, ob er nun zu seiner Mutter hätte gehen können und mit ihr darüber hätte reden sollen, aber er entschied sich dagegen und verließ den Tisch, das Zimmer und die teure Villa, in der er sich nie sehr heimisch oder geborgen gefühlt hatte.

Auf dem Nachttischchen neben dem Bett lag ein verpacktes Präservativ und eine Zeitung. An dieser klebten Fliegen, die zuvor noch zahlreich und sehr lebendig um die Glühbirne geschwirrt waren, die das kleine Zimmerchen nur spärlich erleuchtete.
Alina saß auf dem Bett, das Gesicht in die Hände gedrückt und schluchzend.
Seit vier Jahren verdiente sich die bildhübsche Russin ihr Geld mit der Prostitution. Einen anderen, ebenso einträglichen Weg hatte sie nicht gesehen und da ihre Familie zu zehnt in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebte, war dies ihr Beitrag zum kärglichen Überleben.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetstaates hatten beide Eltern ihre Arbeit verloren und Alina fasste den Entschluss, ihren Körper gegen Bares zu verkaufen, nicht allein.
Sie war jetzt zwanzig Jahre jung und hatte schon zuviel erlebt.
Jeden Abend dachte sie daran aufzuhören, doch der gleich darauf folgende Gedanke an ihre Eltern, an ihre Großmutter und an ihre Geschwister trieb sie weiter, vorwärts, rückwärts und aus der Bahn.

Gerard war dreiundachtzig, als seine Frau, die fünf Jahre jünger war als er, starb.
Den Großteil ihres Lebens hatten sie zusammen verbracht. Sie hatten sich kurz nach dem Krieg in Marseille kennen und lieben gelernt.
Nun saßen ihre gemeinsamen drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, alle inzwischen mit eigenen Kindern, der Junge sogar mit Enkeln, um ihn herum und starrten sich gegenseitig an.
Nein, sie brauchten sich nie um ihre bis ins Alter sehr aktiven Eltern zu kümmern. Diese hatten es sogar abgelehnt, so fast schon penetrant umsorgt zu werden wie einige Altersgenossen.
Nun saßen die drei Kinder wieder zusammen, die zu dritt seit mehr als drei Jahren nicht bei ihren Erzeugern waren und die immer nur einzeln an einigen Feiertagen vorbeigeschaut hatten. Die Situation war gnadenlos und angespannt.
Gerard war stumm, sah seine Kinder nicht einmal an.
So voller Liebe war diese Ehe seit Anfang bis zu diesem bitteren Ende gewesen.
Mit einem Mal war alle Vitalität und Lebensfreude aus Gerards Gesicht gewichen.
Selbstverständlich war den beiden alten Leuten bewusst gewesen, dass der Tod nicht mehr sehr fern sein würde, aber im Moment des Eintretens dieses langen Schlafes war Gerard nicht darauf gefasst und schon gar nicht vorbereitet gewesen.
Der letzte Atemzug war getan. Ein letztes Mal hatte Josephine, Gerards Frau, die Luft durch ihre Lunge ziehen lassen. Sie war beim Mittagsschlaf gegangen, ganz ruhig, um ihren Mann nicht zu wecken. Als er aufwachte, sah er ein Lächeln auf ihren Lippen.

Thomas stand an der Bushaltestelle, während ein kräftiger Herbstwind ihm die braunen Blätter entgegenwehte. Er hatte kaum etwas gegessen und ihm war schlecht.
Sein jugendlicher Drang nach Selbstbestimmung und noch sehr wachen Idealen hatte ihn weiter von seinem Elternhaus weg geführt, als er dachte.
Zusammen mit seiner gleichaltrigen Freundin Julia wollte er die Schule abbrechen und ins australische Outback gehen, um dort ein völlig anderes Leben als zum Beispiel sein spießbürgerlicher Vater zu führen.
“Sich den Wind um die Nase wehen lassen, pah!”, flüsterte Thomas.
Genau das wollte er doch in “down under”. Sollte er so kreuzbrav wie sein Vater oder die meisten seiner Klassenkameraden einen Abschluss und ein Studium, womöglich sogar Betriebswirtschaftslehre, hinter sich bringen, um dann einen festen Lebensweg mit sicherer Arbeit, regelmäßigem Einkommen und gesicherter Rente vor sich zu haben? Meinte sein Vater DAS mit dem Wind, der ihm um die Nase wehen sollte?
Julia hatte nur noch eine Mutter, der Vater war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ihre Mutter war klasse, dachte Thomas. Die war selbstbewusst und gleichzeitig locker. Sie hatte kaum Bedenken wegen des gemeinsamen Traumes der beiden jungen Menschen, unterstützte sie sogar noch.
Seine Mutter dagegen war einfach nur die Hausfrau gewesen, immer. Sie hätte, so dachte Thomas, auch als Haushälterin von Prof. Dr. Betzbach durchgehen können. Mehr als das und die Präsentierdame in der Öffentlichkeit war sie für Herrn Betzbach wohl auch nie gewesen. Ach so, dachte der 17-Jährige, die Mutter, die den Nachwuchs des Alten heranzüchtete war sie natürlich auch. Thomas wusste nicht, wohin er fuhr, als er in den Bus einstieg. Die Luft draußen war frisch, kalt und groß gewesen. Drinnen im Bus war sie stickig, warm und verbraucht.

Langsam zog Alina ihre Kleider vor den glotzenden Augen des Mannes aus, der mittleren Alters und schon mehrmals bei ihr gewesen war.
Als er sie berührte, bekam sie eine Gänsehaut wie bei den allerersten Freiern.
Sie schaute ihm nicht ins Gesicht, wirkte steif und angespannt. Das merkte auch der Mann und wurde grober. Er hielt sie am Nacken mit der Linken, mit der anderen versuchte er ihr den BH abzustreifen. Alina wurde auf einmal sehr übel, sie fühlte die kalte Pranke des Mannes auf ihrem Oberschenkel. Ein eisiger Schauer lief ihr den Rücken hinab.
Er war gerade dabei, sich die Hose zu öffnen und brummte etwas vor sich hin, als Alina wie vom Blitz getroffen vom Bett hochschnellte, sich das nächstbeste Bekleidungsstück über die Schultern warf und aus dem Zimmer rannte. Der Mann stakste aus seiner Hose, brüllte und fiel der Länge nach auf den Boden, weil er sich in einem Hosenbein verhedderte.
Alina lief und traute sich nicht zurückzusehen.
Erst als sie unten auf der Straße war, bemerkte sie, dass sie den Mantel ihres Freiers erwischt hatte. Sie kramte immer noch rennend in den Taschen des sehr teuer aussehenden Kleidungsstückes und fand eine dicke Brieftasche.
Als sie sie öffnete, quollen ihr die Geldscheine entgegen. Sie überlegte, ob sie ein Taxi rufen sollte, entschied sich dann aber für einen Bus, der gerade an einer Haltestelle wartete.
Sie fuhr bis zu einem Restaurant in der Altstadt, stieg aus und ging geradewegs auf das Nobelgasthaus zu, aus welchem laute Musik und sehr helles goldenes Licht drang.
Drinnen wollte ihr ein Mann an der Tür den Mantel abnehmen, doch sie verweigerte ihm dies, denn sonst hätte man noch schneller auf ihre “unzureichende Qualifikation” für dieses Restaurant schließen können. Schon so spürte Alina die Blicke vieler neugieriger Gäste.
Sie bestellte sich einen Wein, ein Menü, bestehend aus Vorsuppe, Hauptgang und Dessert, und eine Extraportion Eis.
Noch nie hatte sie das Produkt edler Trauben gekostet, noch nie so viel auf einmal gegessen und noch nie war sie so verwöhnt worden.
Sie fühlte sich trotz der Blicke der tuschelnden Gäste fast wie im Paradies und ließ es sich gut gehen, immer mit einem Auge auf die Eingangstür gerichtet, falls der ungewollte Gönner dieses Abends tatsächlich hier auftauchen sollte.
Auch die Kellner waren unschlüssig, ob sie nach Beendigung der Mahlzeit auch das dafür angemessene Geld sehen würden. Sie beäugten Alina nicht sonderlich wohlwollend und beruhigten einen aufgebrachten Gast, der sich über Alina aufregte.
Sie schien das alles jedoch zunehmend nicht mehr zu bemerken. Ihr ging es seit langer Zeit sehr gut, doch auch in diesem Moment waren ihre Gedanken bei ihrer Familie, welche sicher zu zehnt mit weniger auskommen mussten, als Alina jetzt überhaupt essen konnte. Deshalb bestellte sie auch noch zwei Gerichte, aß ein wenig davon und bat einen Kellner, den Rest doch bitte einzupacken.
Das war der Tropfen, der bei einer Gruppe dicker Russen das Fass zum Überlaufen brachte. Sie verließen unter großem Gezeter das Restaurant.
Alina war das gleich, sie trank den Wein aus, packte ihre “Fresspakete” zusammen und verließ das Lokal. Kurz bevor sie jedoch die Tür erreichte, drehte sie sich noch einmal zu den jungen tuschelnden Kellnern um und öffnete für einen Moment den Mantel. Den jungen Kerlen blieb der Mund offen stehen, einer ließ sogar ein Tablett zu Boden fallen.
Die junge Russin lief den Weg nach Hause und genoss dabei den frischen Herbstwind, der den rauchig-fettigen Dunst des Lokals aus ihrer Lunge vertrieb.

Gerard saß auf einer Parkbank, braune Blätter wirbelten um ihn herum und einige Passanten, die den Park durchquerten, fingen an zu rennen, denn es sah nach Regen aus.
Gerard kümmerte das wenig, er fühlte sich einsam und unbeachtet.
Seine drei Kinder waren relativ rasch wieder zu ihren jeweiligen Familien gefahren, hatten aber versprochen, bald wieder einmal vorbei zu kommen.
Auch das war Gerard egal. Seine Augen wurden vom kalten Wind und vom Gedanken an seine verstorbene Frau nass und er schluchzte kurz.
Eilige Beine nahten sich und waren vorüber, ehe Gerard aufsehen konnte.
Die Welt schien an Gerard vorbeizuziehen, Wind durchstöberte des alten Mannes lichtes Haar. Ein dicker Schal und ein zu großer Mantel ließen den Mann etwas hilflos und fast lächerlich wirken. Buchstäblich ein Häufchen Elend, was da saß und doch ganz woanders war.
Die ersten Tropfen trommelten auf den glattrasierten Parkrasen und auf den Gehweg, auf welchem nur noch wenige Naturfreunde schnell ein trockenes Plätzchen suchten, um einem heftigen Schauer zu entgehen.
Gerard streckte den Kopf in die kalte Luft und spürte die Tropfen auf seiner dreiundachtzigjährigen Haut. Seine warmen Tränen vermischten und verrannen mit den kalten Tropfen des großen und unendlich weiten Himmels.
Der Wind wurde heftiger und böiger. Er strich durch die Parkbäume und riss die letzten Blätter von den Ästen.
Als Gerard vom Himmel wieder hinab auf die Erde sah, traute er seinen Augen nicht.
Josephine, seine Frau, stand da im Regen und im Wind. Sie lächelte, er konnte sie kaum erkennen, aber sie lächelte, das sah er ganz genau. Sie ging auf ihn zu.
Der Wind heulte, Gerards Tränen wurden von ihm weggeweht. Er sah Josephine ganz deutlich vor sich. Sie waren wieder beisammen, hielten sich in den Armen, spürten ihre Wärme.
Gerard war Josephine gefolgt und beide waren an einem Ort, egal wo, aber beieinander.

Als Julia die Tür öffnete, fiel ihr Thomas in die Arme, so dass die junge Frau nicht wusste, wie ihr geschah. Noch nie war Thomas ohne Vorankündigung vorbei gekommen. Nun stand er da, hatte rote Augen, schluchzte noch ein wenig und lachte sie an. Er war glücklich, bei ihr zu sein, das merkte sie ihm an. Doch ihr ging es anders, sie wirkte versteinert. So standen sie mindestens zwei Minuten lang da. Er dachte, sie müssten doch nicht sprechen, sie aber wusste überhaupt nicht, was sie sagen sollte.
Sie versperrte ihm den Weg in die Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter lebte.
Doch diese war eigentlich noch auf Arbeit. Thomas hörte ein Geräusch aus der Küche, ging auf die Zehenspitzen, um über Julia, die etwa gleich groß war, hinwegzusehen, wer dort in der Wohnung sei.
Julia zitterte leicht, sah Thomas abwechselnd vorwurfsvoll und hilflos an.
Plötzlich stand da in der Tür zur Küche ein Mann, wenig älter nur als Thomas.
Der Mann hatte außer Boxershorts nichts an und eine Milchpackung in der Hand. Er sah kurz zu Julia herüber, ging in ihr Zimmer und fragte im Vorbeigehen: “Kommst du? Wer is’n das?”
Julia schaute Thomas mit großen Augen an, schwenkte die Tür unschlüssig hin und her und sagte sehr langsam: “Das war grad Henri. Tut mir leid, Thomas, echt. Ich konnte ja nich wissen, dass du...”
Sie sah Thomas wieder an, der mit geöffnetem Mund und verwirrten Augen dastand.
Er griff sich an die Stirn und bekam sehr schlecht Luft.
Julia schien die Tür schließen zu wollen, sie wusste nicht, was sie noch für Thomas hätte tun sollen. Er versuchte ihren Blick zu erhaschen, aber sie starrte nur zu Boden.
Ein leises “Tschüss” konnte er noch hören, bevor ein heftiges Pochen in seinem Kopf begann. Er atmete schwer und tastete sich langsam an den Briefkästen im Erdgeschoss entlang.
Er verließ das Haus, es war inzwischen schon dunkel geworden und die Straßenlaternen schalteten sich ein. Die eisige Luft durchfuhr seinen zitternden Körper. Ein Wind wehte ihm um die Nase, der ihn an das Gespräch am Mittag desselben Tages mit seinem Vater erinnerte. Thomas glaubte sich übergeben zu müssen, was er auch in eine nahegelegene Mülltonne tat.
Der Gestank aus diesem Behälter ätzte sich durch seine Atemwege und Thomas fuhr mit einem Mal hoch. Er wusste in diesem Moment nur, dass noch so viele Winde um seine Nase wehen würden, wie sein Vater vielleicht nie zu riechen bekommen würde.
Thomas sah in den Himmel und spuckte in die Tonne. Die völlige Leere dieses Augenblicks in seinem Körper und in seinem Geist war offen für Neues.

Alina ging das Herz über, als sie sah, wie sich ihre Geschwister auf das reichliche und gute Mahl stürzten. Ihre Mutter streichelte besorgt die Wange ihre Tochter.
Die Atmosphäre in der kleinen Wohnung war weihnachtlich festlich. Die ganze Familie freute sich miteinander und Alina konnte für ein paar weitere Momente die Gedanken an den -gelinde gesagt- verärgerten Freier vergessen, welcher sicher einiges unternehmen würde, um seinen Mantel wieder zu bekommen.
Alina beschloss an diesem Abend zusammen mit ihren Eltern, die Prostitution aufzugeben. Sie beratschlagten lange und kamen darin überein, dass Alina erst einmal mit zu Hause helfen sollte, so lange, bis ein wenig Gras über die Sache mit dem Mantel gewachsen war und Alina sich wieder auf die Straße trauen konnte.
Sie ließ sich die Haare lang wachsen und kümmerte sich zunehmend um ihre Geschwister.
Die einzige Verbindung zur Außenwelt aus dieser kleinen, stickigen Wohnung heraus war für Alina ein großes Fenster im Schlaf- und Wohnzimmer der Großfamilie. An diesem saß sie jeden Abend, wenn es dunkel geworden war.
Dann sog sie die kalte Winterluft ein und lies sie in ihrem Körper, der fortan -das schwor sie sich- nur noch ihr gehören sollte, zirkulieren.

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 10.40 Uhr
Dieser Text enthlt 15037 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.