Alles an diesem Morgen war anders: Der Wecker zu laut, der Kaffee zu lasch, meine Laune schlecht.
Der morgendliche Blick in den Spiegelschrank des Badezimmers bestätigte meine grobe Vorahnung. Die zu dieser Zeit üblich schlaff hängenden Augenlider, hingen schlaffer als gewohnt. Die Mundwinkel tiefer, als üblich. Die Haare streckten sich, ähnlich einem wilden Haufen Mikadostäbchen, höher zur Decke, als nötig.
Gerade war ich im Begriff das allmorgendliche Ritual des Waschens und Zähneputzens abzuwickeln, als meine Gefühle zu Eis erstarrten. Unmöglich! Was ich da eben im Spiegel des Badezimmers ausgemacht hatte, konnte unmöglich wahr sein. Langsam, wie von unsichtbarer Hand geführt, näherte sich mein Gesicht der spiegelnden Glasoberfläche.
Meine Augenlider spannten sich. Die Spitzen der Mundwinkel zogen sich, durch die schlagartig zusammengepressten Lippen, in die Waagerechte. - Nur bei den Haaren, hielt jedes für sich, stur an der einmal eingeschlagenen Richtung fest.
Was da, im matten Licht der Badbeleuchtung zum Vorschein kam, war schockierend: Ein graues Haar. Rechts über dem Ohr. Oder war es nur eine Lichtreflexion? Nein. - Nun war es deutlich auszumachen. Mitten zwischen den anderen dunkelblonden Haaren tummelte sich plötzlich ein graues. - Moment mal. So dunkelblond waren die Nachbarhaare gar nicht.
Meine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen. Elektrisiert starrte ich auf das chaotisch auseinanderstrebende Büschel sehr heller Haare, die in die unterschiedlichsten Richtungen zeigten.
Ich wendete den Kopf nach links, nach rechts. Schielte neugierig durch die Augenwinkel in die klappbare Spiegeltür: Das Haar blieb grau. Und zu meinem Schreck musste ich jetzt feststellen, dessen Nachbarn auch.
Vorsichtig pulte ich das zuerst gesehene aus dem Büschel der anderen heraus. Was sollte ich nun damit tun? Das eigenwillige spaghettihafte Stückchen Horn ignorieren? Es braun einfärben? Es radikal knapp über der Kopfhaut abschneiden? Und mit den anderen? Sollte ich damit genauso verfahren? Gab es eventuell noch mehr davon auf meinem Kopf? Haben sie sich bisher nur durch unachtsame routinemäßige Blicke in den Spiegel meiner Wahrnehmung entzogen?
Meine Pupillen zogen sich zu stecknadelkopfgroßen blauen Punkten zusammen. Habichtgleich durchforsteten sie eilig den Rest meines Hauptes. Doch außer diesem grauen Nest waren keine weiteren Fehlbildungen auszumachen.
Da ich nicht wusste, wie das Problem zu lösen sei, setzte ich das unterbrochene Ritual der Reinigung fort. Während die Zahnbürste im Mundraum Hin und Her tanzte, wich mein Blick für keinen Moment von dem grauen Bündel Haare. Und selbst, als ich die Augen bei der Gesichtswäsche schloss, sah ich den verwünschten grauen Fleck wie ein Brandmal vor mir schweben. Noch nie zuvor verließ ich das Badezimmer so in Gedanken versunken, wie an diesem Morgen.
Erst, als ich auf dem Weg zur Arbeit fast überfahren worden wäre, fand ich wieder zu mir selber. Ich wurde älter. Daran war nichts zu ändern. Statt dem Schicksal zu grollen, nahm ich mir vor, mich mit ihm zu arrangieren. Schließlich war es keine Schande älter zu werden. Im Gegenteil. Es gab Kulturen auf der Welt, da galt Altsein als eine Art Privileg.
An diesem Morgen hatte ich ganz besonders den Eindruck, dass mich die Leute anstarrten. Unverkennbar, wie ihr Blick erst auf meine graue Stelle im Haar und dann kurz in mein Gesicht fiel. Was mochte diesen Mitbürgern durch den Kopf gehen? So was Besonderes waren diese paar silbergrauen Hornstäbchen ja nun auch wieder nicht. Immerhin teilte ich das Los mit einem Großteil der Bevölkerung.
Beim Betreten meines Büros empfing mich mein Kollege mit einem Schmunzeln. "Wenn ich mir dein Haar so ansehe ...," frotzelte er, "mit dieser blonden Strähne rechts ..."
"Was geht dich meine Strähne an?!" entgegnete ich etwas gereizt.
"Es ist weniger die blonde Strähne. Mehr die Frisur selber."
Lässig ergriff ich den Spiegel unserer Kollegin, mit dem sie ihre roten Kunststofflocken immer auf richtigen Sitz überprüft. - Herjeh! In der Aufregung heute morgen hatte ich ganz und gar vergessen mich zu frisieren.
Ich stellte den Spiegel wieder zur Seite und sprach zu meinem Kollegen in freundschaftlichem Ton: "Im übrigen ist es keine blonde, sondern eine graue Strähne ..."
Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 11.44 Uhr Dieser Text enthält 4299 Zeichen.