Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Der Schatz oder: One-Way Ticket to Hell von Fran Henz
„Es muss etwas geschehen, Männer.“
Die eiserne Entschlusskraft, für die Capitan Barba Blanca weit über das karibische Meer hinaus berühmt war, schwang in seiner Stimme mit. Wie er mit gespreizten Beinen und vor der breiten Brust verschränkten Armen auf der Brücke stand und die Lage souverän überblickte, bot er einmal mehr ein imponierendes Bild von Macht und Autorität. Allerdings blieben diejenigen, an die sich sein entschlossener Appell richtete, gänzlich unbeeindruckt.
Juan lehnte mit geschlossenen Augen am Steuerrad, das mit einem Seil an der Reling fixiert war, Hernandez schnarchte lautstark in seiner Hängematte und Esteban inspizierte seinen Zeigefinger, den er gerade aus dem rechten Nasenloch gezogen hatte.
Diego Carrida, auch genannt Barba Blanca, sandte einen Blick gen Himmel, wobei ihm wieder einmal der jämmerliche Zustand der Takelage ins Auge sprang. Zwei Stürme noch und die Segel sahen aus wie Brüssler Spitze.
Es musste etwas geschehen.
Er zog die Pistole aus seinem Gürtel und schoss in die Luft. Hernandez kippte aus seiner Hängematte, Juan riss die Augen auf und Esteban wischte sich die Hand an seinem fleckigen Hemd ab.
„Capitan, wir folgen dir. In die Hölle und zurück“, riefen die Männer, die ihr Stichwort kannten.
Diego hörte hinter sich die Kombüsentür quietschen.
„Zurück wird schwierig“, sagte eine Stimme mit französischem Akzent. „Wenn man den Großmast genau betrachtet.“
Diego wandte sich dem Mann zu, der neben ihm stehen blieb. Louis putzte gewissenhaft seine Brille und schob sie dann auf die Nase. Schon diese Geste verriet eindeutig den Klugscheißer in ihm und zum hundertsten Mal fragte sich Diego, warum er ihn nicht einfach über Bord warf. Aber ein Smutje, der ein genießbares Mahl zubereiten konnte, war Mangelware. Außerdem verfügte Louis über medizinische Kenntnisse und hatte mit einer mutigen Amputation zur rechten Zeit schon dem einen oder anderen das Leben gerettet. Und einen Mann an Bord zu haben, der Lesen und Schreiben konnte, war auch nicht verkehrt.
„Vorschläge, Louis?“, bellte er ihn an.
Louis verschränkte die Hände vor der Brust. „Fakt ist, wir brauchen Geld, um die Chonchita in einen brauchbaren Zustand zu versetzen. Fakt ist weiter, dass die Chonchita derzeit kein Seegefecht gewinnen wird. Also ...“
„Sehr schön, Louis, demoralisiere unsere Männer ...“
„ ... also müssen wir auf anderem Wege zu Geld kommen“, schloss der Franzose.
„Und zwar?“
„Neulich hörte ich in Fort-de-France, dass der Comte de Saint-Vire seine Tochter aus Europa anreisen lassen hat, um sie mit dem Marquis de la Fessange zu verheiraten.“ Er beugte sich vor und schnippte ein Stäubchen von seiner ehemals schwarzen Jacke. „Wir könnten die Kleine entführen und Lösegeld verlangen. Vom Vater und vom prospektiven Ehemann.“
Diego hatte zwar keine Ahnung was prospektiv bedeutete, aber er begriff die Grundidee und sie gefiel ihm.
Ein junges Mädchen mit zierlicher Statur zu entführen, sollte für die Mannschaft zu schaffen sein. Ebenso, wie im Verborgenen abzuwarten, bis die Dublonen rollten. Kurzentschlossen ließ er Kurs auf Martinique setzen und ging in einer Bucht im Norden der Insel vor Anker.
Seine Männer schwärmten aus und verteilten sich unauffällig auf dem Anwesen des Comte de Saint-Vire, um die Gegebenheiten auszukundschaften. Louis verfasste derweil zwei höfliche Briefe mit der Aufforderung, 500 Goldstücke für eine wohlbehaltene Rückkehr der Comtesse de Saint-Vire an einer geheimen Stelle zu hinterlegen.
„1000 Goldstücke“, addierte Diego ergriffen. „Damit könnten wir ein neues Schiff kaufen.“
Louis grinste. „Ein Schatz für einen Schatz.“
Die Conchita nahm Kurs auf Santo Domingo, das innerhalb von sechs Tagen zu erreichen sein sollte. Der Schatz bekam weder Kleider noch Schuhe und auch kein Bad, aber Louis gab ihr aus dem Medizinschrank ein Stück Marseiller Seife, was sie dazu brachte ihr Keifen kurzfristig einzustellen.
Diego hatte nicht vor, ihre Fragen nach seinen Plänen ihre Person betreffend zu beantworten, was dazu führte, dass sich sein Wortschatz an französischen Schimpfwörtern täglich vergrößerte.
In der dritten Nacht erhob sich ein Sturm, der innerhalb einer halben Stunde zu einem Orkan ausartete und Diego klar machte, dass sie keine Chance hatten, Santo Domingo zu erreichen.
Das Schiff ächzte und stöhnte, als ahnte es, dass sein letztes Stündlein gekommen war. Die Männer schrien um ihr Leben, doch der Sturm und die von allen Seiten hereinbrechenden Fluten erstickten jedes Wort.
Diego kämpfte sich zu der Kabine vor, in der sie den Schatz gefangen hielten und schloss auf. In völliger Dunkelheit hockte sie in der Nische zwischen Seekiste und Bett. Ihre Hände hielten das Kreuz fest, das sie um den Hals trug, und sie murmelte monotone Gebete.
„Kommt“, befahl er barsch.
„Müssen wir sterben?“, piepste sie und jetzt klang ihre Stimme, als schabe ein Messer über einen Metallteller.
„Hier unten bestimmt. Kommt“, wiederholte er und hielt ihr die Hand hin.
Sie griff danach und er zerrte sie an Deck. In Sekundenschnelle waren ihre Kleider durchnässt und hingen wie Bleigewichte an ihrer zierlichen Figur. Er achtete nicht darauf, sondern zog sie weiter zum Großmast. Dort nahm er eines der Taue. Sie keifte wieder auf ihn ein, doch der Wind trug die Worte davon, ehe er sie verstehen konnte. Ihre kleinen nassen Fäuste hämmerten auf seine Arme und seine Brust, aber er drückte sie unbarmherzig an den Mast und knüpfte das Tau so eng und so oft um ihren Körper, wie er konnte.
Ein Blitz zerriss die Dunkelheit und ließ ihn ihr furiengleiches Gesicht sehen. Er las die Worte mehr von ihren Lippen, als dass er sie verstand. „Fahr zur Hölle, Bastard.“
„Einverstanden, und dort treffen wir uns wieder“, brüllte er zurück, ehe er von einer gigantischen Welle hochgehoben und wie ein Streichholz davongetragen wurde. Sein Mund füllte sich mit Wasser und seine Lungen begannen zu brennen. Dann war alles um ihn herum schwarz.
Feuer. In seiner Brust. Hinter seinen Augen. Auf jedem Millimeter seiner Haut. Mit einem Keuchen beförderte er einen Schwall Meerwasser aus seinem Körper und begann zu husten, als sich seine Lungen mit Sauerstoff füllten. Dann blinzelte er.
Es war Tag. Der Sand unter ihm weiß. Er hob den Kopf. In einiger Entfernung wiegten sich Palmen im Wind. Erschöpft blieb er liegen und versuchte die Tatsache zu verarbeiten, dass er noch am Leben war.
Nach einer Weile richtete er sich mühsam auf. Neben ihm trieben Holzstücke und Planken. Alles, was von der Conchita noch übrig war. Mit schleppenden Schritten überquerte er den Stand, bis er an einer Felswand ankam. Dort ließ er sich fallen und versuchte eine erste Bestandsaufnahme.
Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Die vorgelagerten Inseln waren so winzig und so zahlreich wie die Sterne am Himmel. Um ihn hier zu finden, musste man ihn erst einmal suchen, und er kannte niemanden, dem er so ans Herz gewachsen war, dass er sich um seinen Verbleib Gedanken machen würde. Auch dass es jemanden von seinen Männern ausgerechnet auf dieses Eiland verschlagen haben sollte, war mehr als unwahrscheinlich.
Ein Geräusch ließ ihn aufblicken. Eine Möwe oder ein Albatros, dachte er und blickte an der Felswand hinauf.
„Capitan“, kreischte es von oben und Diego fühlte, wie sich seine Nackenhaare einzeln aufrichteten. Die Hölle war also doch keine Erfindung der Prediger. Sie hatte sogar eine Stimme.
Und was für eine.