Burgturm im Nebel
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"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Dezember 2003
England ohne Schiff
von Josef Th. Thanner


Logbucheintrag Captain William B. Laird, 17. Januar 1723: Kreuzten den gestrigen Tag und die ganze Nacht gegen Ostwinde vor Madagaskar, erreichten im Morgengrauen die Bucht St. Augustine, wo wir vor Anker gingen. Sandte vier Jollyboats auf die Insel, um von den dort lebenden Leuten neue Vorräte abzukaufen und Frischwasser aufzunehmen sowie zwei Klafter Holz für die Reparatur des beschädigten Besanmastes. Gerade eben – es ist Mittag – kommt Joyce mit dem Boot zurück und berichtet mir aufgeregt, dass er glaubt, Edward England in St. Augustine gesehen zu haben. Lasse mich übersetzen, um die Beobachtung zu prüfen.

Der Wind blies vom Meer eine salzige Brise heran, als Laird über die Bootswand an Land sprang. Der Langmantel, unter dem er heftig schwitzte, flatterte im Luftzug. Er hielt den Degen fest, damit der nicht gegen die Hüfte schlug, während er mit weiten Schritten über die Mole eilte. Der dritte Bootsmann, Joshua Ballantine, wartete vor den Hütten und Häusern der Siedlung. Für einen einfachen Merchantman ist es nicht ratsam, seine Vorräte an einem solchen Ort aufzufrischen, aber Laird war einst selbst Pirat gewesen und genoss unter seinen früheren Bundesgenossen immer noch einen entsprechenden Ruf. Nach der Königlichen Amnestie von 1719 fuhr er für die Far East Trading, doch das änderte nichts daran, dass ihn die Piraten immer noch zu ihresgleichen zählten. Oder zumindest hielten sie ihn für jemanden, den sie nicht fürchten mussten. Ein Handelsschiff unter seinem Kommando war für sie tabu.
»Wo ist England?«, rief Laird dem dritten Bootsmann von Weitem zu.
»In einer der Hütten in der Nähe, Sir. Ich führe Euch dorthin.«
»Ist er es wirklich, Ballantine?«
»Ich glaube ja, Sir.«
»Wie kommt es, dass du ihn erkanntest?«
»Er war einer der zahllosen Bettler am Straßenrand, Sir. Gestrandete und Piraten auf der Flucht. Ein Mann gab ihm eine halbe Flasche Rum, und als er sich mit einem Fluch bedankte, erkannte ich seine Stimme, Sir.«
»Soso. Du erkanntest seine Stimme.«
Ballantine senkte sein Gesicht. »Ich fuhr vor einigen Jahren unter Captain England, Sir. Aber ich nahm die Königliche Amnestie von 1719 an. Von Captain Englands Raubzügen machte ich keinen mit. Seit vier Jahren fahre ich auf einem anständigen Schiff Seiner Majestät King George, Sir.«
»Schon gut, Ballantine.« Laird klopfte seinem Bootsmann auf die Schulter. Eine kleine Staubwolke löste sich aus dem Flanell.
Sie gingen nebeneinander durch eine Gasse, in der Menschen strömten, braungebrannte Einheimische mit Bananenstauden oder Tuche oder einer Beuge Brennholz auf dem Kopf, Händler mit ihren Waren am Straßenrand, Käufer, Handwerker, Bauern. Durch schmale Fenster wurden Goldstücke hinein- und gebratenes Schweinefleisch herausgereicht. Einige Piraten lehnten faul an einer Hauswand, rauchten Pfeife und beobachteten die Vorübergehenden. Eine exotische Mischung aus allerlei Gewürzen und dem Salz des Meeres hing in der Luft.
»Die Leute nennen ihn England ohne Schiff«, sagte Ballantine.
»Weißt du auch, woher er den Namen hat?«, fragte Laird.
»Er sitzt hier schon seit Jahren auf der Insel fest. Niemand gibt ihm ein Kommando über ein Schiff. Edward England, ein Kapitän ohne Schiff.«
»Hoffen wir, dass es uns nicht einmal so ergeht, Mister Ballantine.«
»Jawohl, Sir.«
Ballantine hastete voran, durcheilte die sandige Straße und bog am Ende auf einen Weg ein, der zum Waldrand hinauf führte; dort stand eine halb verfallene Hütte. Mücken sirrten. Der Horizont waberte in der Gluthitze, und ein heißer Wind blies übers Meer heran. Lairds Haar flatterte, während er wartete. Die Tür hing schief auf nur noch einem einzigen funktionierenden Schweinslederscharnier. Ballantine zog sie auf.
»Er ist dort drin, Captain. Zwei seiner Männer sind bei ihm.«
»So? Davon sagtet Ihr ja gar nichts, Mister Ballantine.«
»Bitte entschuldigt, Sir.«
Laird zögerte keinen Moment, trat in das Dunkel der Hütte. Die Bretter, die die Wände bildeten, waren brüchig und die Schlitze dazwischen ließen Tageslicht in schmalen Streifen herein. Eine schäbige Gestalt lag am Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, eine andere in einer Ecke. Unrat lag überall herum, Essensreste, bleckende Knochen, aufgebrochene und ausgenagte Kokosnussschalen, Stroh, sogar Grasbüschel, die als Schlafunterlage dienen sollten.
»Werrr is’ da!«, rief ein Bass. Eine der liegenden Gestalten hob den Arm, nur um ihn wieder fallen zu lassen.
»Captain England? Edward England?«
»Aye, ’s binnnn ich«, schrie der Bass. »Bin England ohne Schiff.«
Eine Steinflasche stand auf seinem Bauch und hob und senkte sich bei jedem Atemzug, Laird vermutete, dass es sich dabei um die milde Gabe handelte, die halbleere Buddel. Wahrscheinlich war die Flasche selbst mehr Wert als ihr letzter Rest Inhalt, und England würde sie gegen ein paar Bissen Brot tauschen können, nachdem er sie vollends geleert hatte.
»Captain England, ich bin Captain William Laird.«
»Laird, alle Höllenhunde, alle Seeteufel! Bist du’s wirklich, William Laird?«
»Ich bin’s, Captain.«
»Guter Gott im Himmel, wie konnte es so weit kommen? Ich hab, verdammt noch mal, immer viel von Euch gehalten, Laird, und jetzt stehen wir uns als Feinde gegenüber — in der letzten Absteige, die mir noch geblieben ist.«
»Ich komme nicht als Feind, Captain.«
»Nennt mich nicht Captain, ich habe kein Schiff. Ich bin England ohne Schiff. So nennen sie mich, wenn sie denken, dass ich sie nicht höre. Aber immer bläst der Wind von See, und manchmal trägt er die Worte mit sich. Ich sitze am Ufer und höre sie. England ist ohne Schiff. Das ist der Preis dafür, dass ich gutmütig war, Laird, ein guter Mensch. Ein guter Mensch ist nämlich ein schlechter Freibeuter, wisst Ihr? Ein schlechter Freibeuter.«
England packte den Steinhumpen auf seinem Bauch und jonglierte die Öffnung vor seinen Mund. Dazu musste er sich etwas erheben und geriet in eine der schmalen Lichtbahnen, die das Sonnenlicht durch die Ritzen der Hüttenwand warf. Laird sah das Gesicht, in dem ein schmutziger, verklebter Bart wucherte. Breite Kieferknochen. Tränensäcke. Er schätzte England dem Aussehen nach auf Ende Vierzig, aber er wusste, dass er wesentlich jünger sein musste.
Englands Glucksen quoll in den Raum, und endlich setzte er die Flasche wieder ab.
»England, Ihr wisst, dass im Königreich ein hohes Kopfgeld auf Euch ausgesetzt ist.«
»Zum Teufel damit! Sollen sie mich holen kommen. Die St. Augustine Bay wartet nur auf die Ostinder des Königs! Die Burschen, die hier ihr Dasein fristen, der Teufel soll sie holen. Sie geben mir kaum Rum, kaum einen Streifen Schinken, kaum einen Kanten Brot, geschweige denn ein erbeutetes Schiff. Ja, eines Tages wird der Teufel sie alle holen, und er tut wohl daran! Und Ihr? Hab Ihr Lust, mich nach England zu schiffen? Der Mann, der England nach England brachte, har, har.«
Laird sah ihn wortlos an, den Mann, der um so viel älter wirkte als er selbst, und der voll Bitterkeit war.
»Ihr wart selbst einmal Freibeuter und wisst, was es heißt, mit dem Letter of Marque in der Tasche die Sieben Meere zu besegeln. Wie schnell kommt einem da ein falsches Schiff in die Quere? Zum Henker, man hat schon eine Salve abgefeuert, da merkt man erst, dass der Angegriffene selbst Engländer ist.«
»Ich habe niemals einen Engländer angegriffen, Captain.«
»Ja, ja, deshalb hat King George Euch die Amnestie erteilt. Neuigkeiten sprechen sich herum, Laird. Ihr seid jetzt der Handlanger des Königreichs, werdet glücklich dabei.«
»Nun, Ihr hättet für Euch ebenfalls ein anderes Leben erwählen können, England.«
»Einen Teufel hätte ich tun können! Ich bin Ire, mein richtiger Name ist Edward Seegar, und ich lernte vor allem, was in Irland Recht ist: Nämlich das Recht des Stärkeren. Das Recht der Herren. Das Recht der Knechte dagegen bedeutet Dienen. Ich fuhr als Maat auf der Mary Astar nach Jamaika, als Mister Christopher Winter aus New Providence — der Teufel soll seinen Leichnam holen — die Schaluppe enterte. Er befreite uns alle, wie er es gerne nannte, und gab mir den Quartiermeisterposten auf seinem Seefalken . Damit begann mein Aufstieg, begann mein Untergang. Winter, der Teufelskerl aus New Providence!«
Er nahm erneut einen Schluck aus der Steinflasche, dann rollte er sie in einer heftigen Bewegung von seinem Bauch. Der Humpen kugelte über allerlei Unrat und polterte gegen die Hüttenwand. England erhob ächzend seinen Oberkörper.
»Dort drüben, Laird, bringt mir einen von den Schläuchen.« England hielt inne, betrachtete seinen auf der anderen Seite liegenden Kameraden, aber der schlief tief und fest. »Ja doch, bringt ihn mir«, drängte er.
Laird wandte sich um und sah neben der Tür vier kleine Getränkeschläuche aus Schweinsleder liegen. Sie waren schon alt und die Außenhaut porös, aber sie waren prall gefüllt. Laird packte einen davon und reichte ihn England, dessen Augen spöttisch aufzuleuchten begannen.
»Darf ich Euch zu einem Umtrunk einladen, Laird?«
Laird zuckte mit den Schultern.
»Der Gastfreundschaft muss Genüge getan werden«, grunzte England und reckte sich nach einer Holzschale, von der er angetrocknete Speisereste mit seinem dreckigen Hemdsaum abwischte. Er füllte eine milchigweiße Flüssigkeit ein, reichte den Holzteller Laird, und setzte sich dann die Schlauchöffnung an den Mund.
Laird nippte von dem weißen Saft, der unerwartet scharf auf seinen Lippen brannte; süß und scharf gleichzeitig.
»Das Zeug heißt Kolàkolà, es wird aus der Milch von Kokosnüssen hergestellt. Viel wässriger als Rum, aber wenigstens besser als Salzwasser.« England lachte über seinen eigenen Witz. »Die Einheimischen füllen mir die Schläuche, es ist das einzige, was man auf der Insel umsonst bekommt. Har, har. Außer der übergroßen Nächstenliebe der Freibeuter natürlich.«
Er setzte den Schlauch in seinen Schoß ab.
»Bis Juli 1718 fuhr ich mit Winter. Nach seinem Tod wählten sie mich zum Captain. Mir war vor nichts bange, und ich wäre mit einem Degen und einer Pistole in Händen und einem Entermesser zwischen den Zähnen dem Seeteufel in den Rachen gesprungen, wenn er mir begegnet wäre! Waren das Zeiten! An der Westafrikanischen Küste machte ich meine erste eigene Prise, die Pearl, und benannte sie um in Royal James. Taylor war damals mein Maat, und wir fuhren um Kap Horn, machten gute Beute, gute Beute. 1719, da hat die Welt vor mir gezittert! Da nannte mich noch niemand England ohne Schiff! Dann hatte ich die Fancy und eine starke Mannschaft! In zwei Monaten habe ich zwei Dutzend Prisen gemacht. Zwei Dutzend! Ich war wirklich erfolgreich, Laird, das könnt Ihr mir glauben. Damals machte ich John Taylor zum Captain auf der Victory. Hat es mir übel gedankt, der Höllenhund.
Wollte immer besonders vorsichtig sein, aber heute weiß ich es besser: Er war feige! Aber das heißt nicht, dass er nicht ein harter Knochen war. Ein Schweinsknochen, hohoho. Ja, das gefällt mir: Er war ein Schweinsknochen. Das Schwein hat mich im Kampf gegen die Cassandra im Stich gelassen.«
»Ich hörte, das war Euer letztes Gefecht, England.«
»Ganz recht habt Ihr da gehört, Laird. Gegen Captain Macrea von der Cassandra.«
»Wie kam’s, dass Ihr auf ihn gestoßen seid?«
»Wie’s kam? Nun, ganz einfach. Mutter England jagte die Freibeuter an allen Enden der Sieben Meere. Also sind wir ab gen Osten. Wir hatten in der Roten See große Beute gemacht, ein paar Nachzügler der Mokkaflotte aufgerieben, und wollten nichts anderes als an einem ruhigen Ort vor Anker gehen, um die Beute zu teilen. Ich steuerte St. Mary’s Island an, wo wir von einem Piratendorf wussten. — Nichts! Es war nicht mehr da. Die Einheimischen hatten mit dem Dorf kurzen Prozess gemacht. — Was ist heute noch von Bestand, Laird, frage ich Euch? Heute ist hier ein Ort, morgen ist er fort!«
»Das ist nun mal der Lauf der Dinge.«
»Wir segelten jedenfalls weiter, nach der Johannainsel. Dabei stießen wir auf drei Ostindienfahrer, zwei Holländer, einen Engländer. Die Holländer legten sich in den Wind und machten sich davon, aber James Macrae’s Cassandra lief mir ins Messer. Oder ich ihm. Har, ich dachte natürlich, wir nehmen ihn in die Zange, Taylor und ich, aber damit war nichts. Taylor hielt sich fern von allem Kanonendonner. Und die donnerten achtzehn Stunden lang! Achtzehn lange Stunden. Dann lief die Cassandra auf Grund . Ja, dann hatten wir sie.«
Er blickte nicht sehr erfreut drein über seinen Erfolg, denn der war keiner:
»Es hatte mich fast hundert Männer gekostet, während Macrae nur vierunddreißig verloren hatte. Als wir uns ihm näherten, sprangen er und seine Leute über Bord und schwammen auf eine nahe gelegene Insel. Wir suchten sie vergeblich, zehn volle Tage lang, doch dann stellten sie sich, vom Hunger getrieben. Damit begann der Ärger erst richtig. John Taylor wollte dieses Pack an der höchsten Rahe aufknüpfen lassen. Ich diskutierte eine ganze Nacht lang mit ihm, um das zu verhindern, und es kostete mich ein ganzes Fass Rum. Schließlich stimmte Taylor zu, und wir entließen Macrae und seine paar Getreuen mit der schwer beschädigten Fancy. Sie stachen, wenn ich mich nicht irre, in Richtung Indien in See.«
»Richtig«, sagte Laird. »Macrae und seine Leute segelten bis nach Bombay. Sieben Wochen waren sie unterwegs, geplagt von Hunger und Durst. Es hat sich herumgesprochen, Captain England. Aber Macraes Lohn blieb nicht aus: Bei seiner Ankunft in Bombay wurde er wie ein Held empfangen und gefeiert, und jetzt ist der im Gespräch als nächster Gouverneur von Madras .«
England sog tief Luft ein. »Eine nicht zu unterschätzende Leistung! Hut ab vor Macrae. Er war mein Feind, aber ich erkenne einen fähigen Seemann. Und diesen fähigen Seemann hätte Taylor umbringen wollen.« England schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht begreifen. Dies waren keine Menschen, Laird. Sie plünderten nicht nur, sie töteten. Und sie hatten Freude am Töten. Könnt Ihr Euch das vorstellen?«
Er hatte den Oberkörper ruckartig nach vorne bewegt und seine Hand auf Lairds Schulter gelegt. Jetzt drückte er heftig zu. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»Den Schinder haben sie einfach umgebracht. Er war ein Abtrünniger, aber Gott weiß, dass ich nicht wollte, dass sie ihn umbrachten. Sie haben ihn über ein Geschützrohr gebunden und leere Flaschen auf seinem Leib zerschlagen, bis der arme Hund krepiert war! Sie haben den Schinder geschunden und dabei Liedchen geträllert. Sind das noch Menschen, Laird, noch Menschen? Wenn ich nur geübter in der Überredungskunst gewesen wäre, oder eine stärkere Persönlichkeit gehabt hätte — Roberts kommt mir da in den Sinn, ja, wenn ich so stark gewesen wäre, wie Bartholomew Roberts, hätten sie all die vielen Geschöpfe Gottes nicht einfach umbringen mögen. Aber ich war zu schwach, zu zaghaft, zu kurzsichtig. O mein Gott, mein Gott, vergib mir!«
Laird sah ihn beinahe erschrocken an. Ein Pirat, den Gewissensbisse plagten — das sah man nur allzu selten!
»Gott wird Euch vergeben, England«, sagte Laird, »wenn Ihr wirklich bereut.«
»Ich bereue meine Taten, ich bereue!«
»Sagt, befindet sich ein Priester auf der Insel?«
»Zum Teufel mit dem Pfaffen«, schnarrte England. »Ich spalte ihm den dreckigen Schädel, wenn er auch nur einen Fuß hier hereinsetzen sollte!«
Laird schwieg, und England schnaubte herb. Englands betrunkener Kamerad in der Ecke gab ein gurgelndes Schnarchen von sich, und Ballantine verhielt sich mucksmäuschenstill an der Tür. Schließlich holte England tief Luft, und begann noch einmal:
»Taylor hat es mir nie verziehen, der Hund. Nachdem ich Macrae frei bekommen hatte, hetzte er die Mannschaft gegen mich auf. Sie setzten mich und drei treue Kameraden bei Mauritius an Land, und wir schafften es bis nach St. Augustine. Das war 1721. Seitdem warte ich auf ein Schiff. Oder darauf, dass Taylor hierher kommt. Ich werde ihn mir zur Brust nehmen, in einem Kampf Mann gegen Mann. Mann gegen Schweinehund. Ich werde ihm den Schädel spalten.«
Englands Augen glitzerten fiebrig, während sich vor seinem inneren Auge abspulte, wie er um seine verlorene Ehre gegen Taylor kämpfte . Dann, nach einer Weile, schloss er seine Augen und ließ den Atem lange aus seiner Brust entweichen. So sackte er, gegen die Wand gelehnt, zusammen wie ein Ohnmächtiger.
Erneut trat eine längere Stille ein. Schließlich erhob sich Laird und blickte auf Captain England herab.
»Werde Euch ein Fass Rum übersetzen lassen, Captain England, damit Ihr Euer Gewissen eine weitere Weile betäuben könnt«, sagte er leise, aber Englands Augen öffneten sich nicht. Laird trat zur Tür. »Möge Gott Eurer Seele gnädig sein.«
Ohne eine weitere Regung abzuwarten, trat er hinaus und schloss vorsichtig den Verschlag, der schief auf dem einen Schweinslederriemen lief. Ein paar Sekunden verharrte er bewegungslos und lauschte, aber aus dem Innern der Hütte kam nur das Schnarchen von Englands Kumpan. Ballantine trat leise hinter Laird.
»Sir?«
»Was gibt’s, Ballantine?«
»Hinter der Hütte ...«
Der dritte Bootsmann brach ab, als wollte er keine üblen Geister herbeirufen, indem er aussprach, was er hinter der Hütte entdeckt hatte. Laird stieß verächtlich Luft durch die Nase, dann umrundete er mit festen Schritten das Haus. Der Mann war noch nicht lange tot, aber Laird war klar, dass er kein anständiges Begräbnis bekommen würde. Seine Kleidung bestand aus abgerissenen Fetzen, war völlig dreckverkrustet, seine Füße steckten in löchrigen Schuhen. Fliegen umschwirrten den Leichnam. Einer seiner letzten Getreuen hatte Edward England verlassen.
»Ich habe diesen Mann mit Captain England heute Vormittag noch im Ort gesehen«, sagte Ballantine. »Er schleppte sich dahin, war sehr krank.«
»Viele Menschen sind sehr krank, Ballantine. Und nicht nur jene, denen man es äußerlich ansieht. — Sorge dafür, dass Captain England und der letzte Rest seiner Mannschaft, dieser armselige Kerl da bei ihm drin, ein Fass Rum erhält.«
Ballantine riss die Augen auf. »Ein ganzes Fass Rum für diese beiden ...?«
Laird nickte, was den Bootsmann zum verstummen brachte.
»Aye, Sir.«
»Wir kehren zur Amity zurück.«


»Captain! Captain!«
Laird sah von den Seekarten auf, die er auf seinem Navigationstisch ausgebreitet hatte. Der Erste Maat stand neben ihm, eine Lampe, die in der Mitte des Raumes aufgehängt worden war, spendete dürftiges Licht. Durch das geöffnete Bugfenster zog die Dunkelheit der Nacht und eine leichte Brise herein.
»Captain!«
Die Tür zur Offiziersmesse wurde aufgestoßen.
»Ich nehme an, es gibt einen triftigen Grund für solch plötzliches Erscheinen, Bootsmann Ballantine!«, versetzte Laird scharf.
Ballantine nahm sofort Haltung an. »Aye, Sir.«
»Nun?«
»Das Fass Rum, das ich Captain Engla...«
»Was ist damit?«, fiel ihm Laird hastig ins Wort. Es war nicht notwendig, den Namen des Captains unnötig oft und vor unnötig vielen Crewmitgliedern zu erwähnen. »Wurde es ausgehändigt?«
»Nein, Sir«, sagte Ballantine.
»Nein?« Ein düsteres V trat zwischen Lairds Augen. Er legte den Langzirkel auf die Seekarte und schob das Lineal weg. Dann trat er Ballantine entgegen.
»Warum nicht? Du hast es doch an Land gebracht, Mann?«
»Aye, Sir, das habe ich. Ich habe es den ganzen Weg zu der Hütte hinauf gerollt. Aber dort lagen sie, noch genauso, wie Ihr sie verlassen habt. Es war doch schon sieben Stunden her.«
Laird blickte ihn mit ausdruckslosen Augen an.
»Ich ... ich hab’ das Fass wieder mitgebracht, Captain.«
Laird wandte sich ab.


Logbuch des Captains William B. Laird, 20. Januar 1723: Die Mannschaft ist einem Gerücht aufgesessen; der besagte Mann war nicht Edward England, der sogenannte England ohne Schiff, sondern ein Bettler, dem man jedoch eine Ähnlichkeit mit dem Gesuchten nicht absprechen kann. Haben genügend Bauholz an Bord genommen und die Vorräte aufgefrischt; stechen morgen früh in See und hoffen auf weitere ruhige Überfahrt.


© J. Th. Thanner


Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 16.12 Uhr
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