Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Dezember 2003
Ein „echter“ Piratenkapitän
von Matthias Meyeul


John O’Donnel verfluchte sich selbst für den zu langen Aufenthalt im letzten Piratennest. Die Mannschaft hatte es nach Prostituierten und Alkohol gelüstet, da war ein Kapitän machtlos, außerdem hatten sie es sich redlich verdient. Seit Tagen fuhren sie nun schon hart am Wind, trotzdem würde die Silberflotte vor ihnen die Rey-Inseln erreichen.
„Käpt’n, soll ich eine Weile das Steuer übernehmen?“ Pierre, sein erster Maat, war an ihn herangetreten. O’Donnel führte das Ruder mit festem Griff, er stand nun schon seit zehn Stunden auf seinem Posten. „Ich lasse dich rufen, wenn ich Schlaf benötige.“
„Mann über Bord! Auf Steuerbord.“ Das war nun schon der zweite Mann, den er in dieser Nacht verlor. „Pierre, übernimm.“
Langsam humpelte er über Deck, das Holzbein nur vorsichtig belastend. Von links eilte sein ältester und erfahrenster Pirat, Gérard Dominé, auf ihn zu.
„Es war einer der Neuzugänge vom letzten Hafen.“ Ein breites Grinsen überzog Gérards Gesicht. Er liebte es, sich am Leid anderer zu ergötzen. Das Lachen reichte fast von einem zum anderen Ohr, so weit zog er die Mundwinkel nach oben. „Beugte sich zu weit raus, jetzt ist er Fischfutter.“
O’Donnel fand das Gehörte weniger lustig, verabscheute es vielmehr. Quittierte es aber anstandshalber mit einem kurzen Lacher, so wie es die Piraten von ihm erwarteten. Innerlich wühlte es ihn auf. Schließlich konnte jeder der nächste sein. Einen kurzen Moment starrte er Gérard noch mit seinem verbliebenem, blutunterlaufenen Auge an, dann drehte er sich um und hinkte unter Deck, seiner Kabine zu. Nur wenige Kerzen erhellten mit ihrem Flackern den schmutzigen Gang, der zu seinem Kammer führte. Geschickt glich er das wilde Schwanken des Schiffes aus, wenn sie in ein neues Wellental stürzten. Erschöpft betrat er den großzügig eingerichteten Raum.
Ian erwartete ihn, das letzte Mitglied seiner alten Crew. Der Rest baumelte entweder am Galgen oder war in der letzten Schlacht untergegangen. Ian verdankte er es auch, hier zu stehen und sich der Vergangenheit erinnern zu können. Dieser deutete stumm auf sein nasses Gewand, gleichzeitig hielt er eine Flasche Bier in der Hand. „Hilf mir erst einmal heraus.“
Ian trat an ihn heran, behutsam half er seinem Kapitän aus den Kleidern. Dann holte er ein Tuch und begann ihn damit trocken zu reiben.
John genoss das Gefühl der Geborgenheit in seinen Armen. Seit seiner Rettung verspürte er eine gewisse Art der Verbundenheit zu diesem Jüngling. War es bloße Dankbarkeit, oder etwas anderes? Genau wusste John es nicht, zerbrach sich darüber auch nicht großartig den Kopf. Ian half ihm, die einsamen und zumeist langweiligen Ruhezeiten in seiner Kabine zu überbrücken. Er genoss diese Stunden nun tatsächlich. Seine einzige Sorge war, dass die Mannschaft einen falschen Eindruck von ihm gewinnen könnte, wenn er zuwenig Zeit am Steuer verbringen würde. Es war wichtig für die Moral des Schiffes, einen Kapitän zu haben, der präsent war. Außerdem konnte sein Steuermann nicht länger als acht, neun Stunden Dienst tun. Ein brillanter Kartograph, doch was für ein verweichlichter Franzose! Er machte zu schnell schlapp, ihm mangelte es an der richtigen Einstellung. Darum stellte er sich auch weiterhin zehn oder mehr Stunden den rauen Verhältnissen des Pazifiks. „Komm ins Bett.“

***

Ruckartig fuhr John O’Donnel hoch und knallte gegen den tief hängenden Deckpfeiler. Fluchend erhob er sich aus dem Bett. Er war alleine. Ian tat vermutlich gerade seinen Dienst in der Kombüse. Eine wässrige Suppe und Zweiback standen auf dem Speiseplan. Lediglich John, als Kapitän, bekam etwas Fleisch. Doch wie spät war es? Lautes Geschrei drang von oben durch das Holz zu ihm herunter. Eilig kleidete sich John an und machte sich auf den Weg an Deck. Unterwegs kam ihm Gérard entgegen. „Endlich sind sie wach, Käpt’n. Wir probierten es, doch konnten wir sie dem Schlaf nicht entreißen. Es ist vermutlich leichter ein Faultier wach zu bekommen, als einen betrunkenen Kapitän. Jedenfalls werden Sie an Deck benötigt.“
John ignorierte die Anspielung. „Was gibt’s?“
„Wir konnten den Unhold gerade noch davon abhalten.“
John erinnerte sich dumpf an eine Flasche guten Rums, an der er sich immer nach körperlichen Anstrengungen labte. Aber welcher Unhold? Wovor abhalten? John starrte ihn verwirrt an.
„Ian, der Schiffsjunge, wollte Sie im Schlaf erstechen.“
Langsam dämmerte es John, was vorgefallen sein musste. „Wer hat es gewagt, mein Quartier ohne Erlaubnis zu betreten?“
„Giuseppe; er wollte wissen, wie Sie ihr Fleisch zubereitet haben wollen. Da entdeckte er diesen Bastard, wie er mit Ihrem Säbel über Ihnen stand. Sie lagen da, schlafend, nackt.“
Der Vorwand war absurd, vermutlich packte den alten Giuseppe die Neugier, ob Ian in seinem Quartier vorzufinden war. Hatte er doch schon mehrere Andeutungen in diese Richtung gemacht. O’Donnel verfluchte sich, weil er eingeschlafen war. Und Ian, den er noch immer nicht davon überzeugt hatte, dass er nicht jedes Mal seine Waffen putzen musste. Dieser verdammte übereifrige Bengel! Das konnte sie beide in größte Bedrängnis bringen. Die Knabenliebe war unter Piraten verachtet. „Wo ist er?“
„An Deck. Die Planke wurde bereits befestigt.“ Gérards Gesicht überzog wieder jenes schamlose Grinsen, bei dem John ihm am liebsten die Zähne einschlagen wollte.
„Die Planke …“ Schnell schob er ihn zur Seite und eilte an Deck.
Ian lag gefesselt am Boden. Er wurde abwechselnd von der halben Mannschaft bespukt und getreten.
„Aufhören!“ Die Piraten hielten inne. Ihr Kapitän hatte noch immer das letzte Wort. Wussten sie doch, wem die Ehre gebührte, dieses Häufchen Elend weiter zu quälen.
„Ian …“
„Keine Gnade, keine Gnade!“ Gérard stachelte die anderen zu einem regelrechten Sprachchor an. Kommentarlos wandte sich John nach ihm um und schlug zu. Faulige Zähne flogen und Blut spritzte. Die Mannschaft wusste nicht so recht wie ihr gesah und Gérard starrte auf seine Zähne, die am Boden weiter schimmelten. Konnten sie doch nicht glauben, was vorgefallen war. Sie taten lautstark ihren Unmut kund. Mancher rasselte mit seinem Säbel, andere stampften lautstark mit ihren Holzbeinen auf.
„Verdammter Ian!“ John konnte sich nicht beherrschen. Er wusste was es zu tun galt, wollte er dies hier als Kapitän überstehen. Gérard war schon lange scharf auf seinen Posten und mit einem schwulen Kapitän würde er leichtes Spiel haben.
Ian nickte ihm zu, er konnte zwar kaum seinen Kofp heben, brachte aber ein kleines Lächeln zustande. Unentwegt starrte er ihn an. Vielmehr John schien es, als wusste er von seinen Gedanken und akzeptierte sein Schicksal. Dies machte es für John nichte gerade leichter. O’Donnel durfte keinerlei Schwäche zeigen, wollte er eine Meuterei verhindern. Loyalität war wie der raue Seewind, blies er noch in einem Moment in die richtige Richtung, konnte er sich binnen kürzester Zeit drehen. Sein treuer Ian war bereit, ihm das Leben erneut zu retten. Wieso gab er sein Leben hin für jemanden wie ihn? Er war doch nur ein Pirat, ein Kirchenschänder und Dorfverbrenner. So sollte nun ihre gemeinsamer Weg enden.
„Packt ihn.“ Johlend folgten die Piraten seinem Ruf, zerrten Ian hoch und führten ihn zur Planke, die aufs Meer hinaus ging. Der Pazifik war nun ruhiger, dennoch waren sie mehr als 20 Meilen von der Küste entfernt. Am Rande der Brüstung ließen die Piraten Ian los, die letzten Meter musste er sich alleine schleppen. Mit hängenden Schultern quälte er sich die letzten Meter. Einmal noch wandte er den Kopf John zu, öffnete seinen Mund, behutsam formte er Sätze.
O’Donnel mühte sich jene Worte abzulesen, doch vergeblich. Nach einer Weile richtete er sich an die Crew: „Durch deinen versuchten Mord, hast du gegen allgemein geltendes Piratengesetz verstoßen. Ein Kapitän ist, unantastbar.“ John O’Donnel presste es aus sich heraus. „Das Meer soll die Strafe für deine verruchte Tat sein. Gehe dahin!“
Ohne das Unausweichliche weiter hinaus zu zögern, sprang Ian. Kein Schrei nur ein leises Platschen war das Letzte, was man von ihm hörte. Die Mannschaft starrte beobachte gebannt das Meer. Erwarteten sie doch zumindest einen Todeskampf. War das doch eine willkommene Abwechslung zu dem meist ereignislosem Piratenleben an Bord. Manchmal lagen sie tagelang nur unter Deck und vernichteten ihre Biervorräte.
„Bier für alle!“ Wie als ob er Gedanken lesen könnte, rief der Schiffskoch Giuseppe zum Besäufnis, um das Spektakel zu begießen. Innerhalb von zwei Minuten leerte sich das Deck. Lediglich John starrte weiterhin gebannt auf den Ozean. Ian war doch nur sein Schiffsjunge! Nicht mehr. Ein kleiner Junge, den er einst halbverhungert aufgelesen hatte. Sein Vater hatte ihn geschlagen, seine Mutter war eine Hure, die ihn als notwendiges Übel akzeptierte. Er wäre schon viel früher gestorben. Genau! Ihn traf keine Schuld, vielmehr sollte Ian ihm eigentlich dankbar sein. Dummer Ian, was hätte er ihm wohl gesagt, würde er noch seine Zunge besitzen? Resignierend schüttelte John den Kopf, Rum war jetzt vonnöten. Drei Männer an einem Tag! Sie mussten schleunigst in ein sicheres Nest. Zur Kaperung der Silberflotte brauchte er eine vollständige Mannschaft.


© Matthias Meyeul

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 15.54 Uhr
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