Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Dezember 2003
In des toten Seemanns Kiste
von Elsa Rieger und R. Ritch Funke


Buten

Guiletta wurde unruhig. Der Termin ihrer mündlichen Geschichtsprüfung war bedrohlich nahe gerückt und das Mädchen hatte noch immer kein Thema. Nervös spielte sie mit den Fingern in ihren dichten roten Locken, die in Kaskaden ihr Gesicht umrahmten.
Ein Ausschnitt der spanischen Kolonialzeit stand auf ihrem Notizblock, den sie zu ihrem 17. Geburtstag bekommen hatte. Der Block bestand aus echtem Papier, nicht aus den holzfreien, synthetischen Stoffen, und war in einer Welt, in der die wenigen verbliebenen Wälder unter Naturschutz standen, etwas ganz Besonderes. Guiletta liebte dieses Geschenk einer nie erlebten Natur.

Am Vorabend der Prüfung setzte sie den Cyber-Helm der Klausurmaschine auf und startete das Lernprogramm. Es war ein legales Hilfsmittel, das alle Schüler besaßen. Man konnte den Computer mit einer Stichwortliste füttern, und das weltumspannende Informationsnetz lieferte die Daten aus denen eine multimediale Reise zusammengestellt wurde. Durch den Bildprojektionswinkel und die Surroundklänge ergab sich eine virtuelle Welt, die fast greifbar schien. Es unterstütze die Informationsaufnahme durch Simulation des Realen, doch Guiletta war an diesem Abend viel zu nervös, um sich zu konzentrieren. In der untersten Schublade ihres Schreibtisches lag eine Stanniolkugel, die den Inhalt vor der Oxidation der Raumluft schützte. Sie enthielt eine kleine grüne Pille, die in den dunklen Ecken des Schulhofes als Brainticket gehandelt wurde. Diese Psychodroge war synthetisch auf die Bild- und Tonmuster der Klausurmaschine abgestimmt und potenzierte das Konzentrationsvermögen bis an die Belastungsgrenze des menschlichen Geistes und manchmal auch darüber hinaus.
Sie hatte bisher immer Abstand von dieser illegalen Substanz genommen – Nur für den Notfall, hatte sie sich geschworen – und dieser Notfall schien nun gekommen.

Das Hirn gleicht einem gierigen Schwamm, der sich ohne natürliche Schutzmechanismen in sekundenschnelle bis an die physische Grenze aufblähen würde, um im nächsten Moment an der ungebremsten Informationsflut zu verenden. Guiletta kannte die Gefahr vom Hörensagen, aber sie sah an diesem Abend keine andere Möglichkeit, die Prüfung zu bestehen. Sie schluckte trocken und kehrte zu ihrem Programm zurück.

Einige Minuten lang geschah nichts. Die Klausurmaschine entwarf Bilder und Töne wie gewohnt und das Mädchen bezweifelte schon die Wirksamkeit der Droge.
Doch plötzlich öffnete sich ihr Geist und sie erkannte, welch verschwindend kleinen Bereich des Potentials sie bisher genutzt hatte. Die Informationen brannten sich in ihr Langzeitgedächtnis, so als hätte sie es schon seit frühster Kindheit gewusst. Die erste Barriere wurde außer Kraft gesetzt und sie genoss ihr neues Wissen und lernte, ohne sich anzustrengen.
Die Virtualität floss in den Bereich des Realen – so langsam, dass Guiletta der Übergang in eine andere Welt der Wahrnehmung nicht bewusst wurde ... eine frische Brise zog von Nord-Nord-Ost über die Insel und wog die Palmenblätter in gleichmütiger Bewegung – von Osten kündigte sich ein Sturm an. Jenseits des 16. Breitengrades sollte die letzte Jagd der Alhambra beginnen ...



Binnen

Logbucheintrag: Bahamas, 25. Breitengrad Nord. 12. August 1772, Süßwasser- und Nahrungsaufnahme auf Great Exuma.
Einen Tag und eine Nacht haben wir auf der Insel verbracht. Die Männer sind sturzbesoffen und fallen wie Tiere über die Insulanerinnen her, nachdem wir die letzten 3 Monaten auf See waren. Die Prise der holländischen Fleute hat folgendes erbracht:
100 Sack Gewürze, vor allem Zimtstangen und schwarzer Pfeffer.
10 Ballen Rohseide aus China.
1 Sack spanische Dublonen
und eine große Seemannskiste in der sich ein portugiesischer Zimmermann verbarg.
Im Morgengrauen laufen wir aus, um die Beute im nächsten freien Hafen zu versilbern und hernach die Hispaniola, das derzeit größte Handelsschiff auf ihrem Weg von Gibraltar nach Santiago de Cuba aufzubringen.
***

Es war Miguels erster Landgang seitdem man ihn als lebendes Beutegut der Fleute schanghait hatte und er genoss die vermeintliche Freiheit. Die letzten Jahre hatte er als Leichtmatrose auf einem holländischen Handelsschiff verbracht und sich vom Schiffjungen bis zum Zimmermann hochgearbeitet – sein Pech war nur, dass die Alhambra grade einen Zimmermann gesucht hatte. Freiwillig hätte er nie auf einem Piratenschiff angeheuert, schon gar nicht auf einem spanischen. Doch nun musste er sich in sein Schicksal fügen ... oder den letzten Weg über die Planke nehmen.
Seine neuen Kameraden waren hartgesottene Männer aus allen Teilen der alten und neuen Welt, Mörder und Frauenschänder, handverlesene Galgenstricke, denen kein zivilisierter Mensch ein christliches Begräbnis zugestanden hätte. Und mittendrin Miguel, ein Außenseiter und Fremdkörper in dieser Zwangsgemeinschaft.
Er saß am Steuerblatt, als das Beiboot zum Strand des Eilands ruderte. Die Männer grölten und lachten lauthals und zahnlos über zotige Witze, die sich allesamt um Frauen und wie man sie ranzunehmen hatte, drehten. An den Gestaden standen barbusige Insulanerinnen mit bunten Blumenkränzen und winkten – die wenigsten von ihnen würden den Besuch der Alhambra später in guter Erinnerung behalten. Am Abend begann die Mannschaft, die friedliche Idylle ein für alle Mal zu zerstören.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Miguel zum ersten Mal den Kapitän zu Gesicht bekommen und er erschrak bis ins Mark. In seiner Vorstellung war ein Piratenkapitän stets der Stärkste der Gemeinschaft - jener, der sich mit allen Mittel durchzusetzen vermochte und Angst und Schrecken unter der restlichen Brut verbreiten konnte. Doch dieser Schiffskommandant war eine Frau – mehr noch, sie war eine junge Dame, groß, schlank, mit unbändigen roten Locken, meergrünen Augen und feinen Sommersprossen auf ihren hohen Wangenknochen. Ihre Haut war weiß wie Elfenbein, gleich einer senhora der feinen Gesellschaft in Lissabon. Für Miguel glich sie einem Engel, der die Heerscharen der Hölle anführte. Das Gesindel senkte den Blick zu Boden, wenn sie mit ihnen sprach. Seefahrerlegenden rankten sich um sie – sie war die Rote Hexe des Golfs von Mexiko. Wer über sie zu berichten wusste, konnte von Glück reden, lebend davongekommen zu sein. Was mochte die Mannschaft dazu bewegen, Befehle von einem zartem Mädchen entgegenzunehmen, fragte sich der Zimmermann.
Miguel beobachtete seinen Kapitän aus sicherer Entfernung. Sie spreizte am Feuer vornehm ihre kleinen Finger während sie an einem Geflügelschenkel nagte und um sie herum der Schleier des Bösen über der Insel lag. Ihre Männer begnügten sich im Rausch nicht mit der Notzucht, sondern taten unbeschreiblich grausame Dinge. Doch die Rote Hexe, die man Guiletta nannte, nahm keine Notiz von ihrer Umwelt, sie nagte die Knochen, bis sie so weiß wie ihre Haut waren und tupfte sich das Fett mit einem rüschenbestickten Tuch von den blassen Lippen. Ihre Augen, die wie jene einer Katze bei Nacht leuchteten, trafen sich mit Miguels. Sie stellte das Kauen ein und ihm zog ein kalter Schauer über den Rücken.
„Olá“, rief sie ihm auf portugiesisch vom Feuer herüber, „hat er keinen Hunger? Komm, setze er sich hier und leiste seiner Kaptein’ Gesellschaft.“
Miguel wagte es nicht, zu widersprechen. „Ay, wenn es Kaptein’ beliebt.“
„Aus Lisboa stammt er? Erzähle er mir von der Mode der feinen Damen. Welch Gut und Tuch lohnt, bei unserer nächsten Fahrt zu kapern? ...“

Am nächsten Morgen stach die Alhambra wieder in See. Am Strand standen keine winkenden Insulanerinnen mehr ... Iguanas schlichen zwischen den Palmen umher, nahmen züngelnd die Witterung auf und ließen die Früchte links liegen, um sich fleischlicher Nahrung zu widmen.
.


Logbucheintrag: 30. Breitengrad. 24. September 1772.
Bei 15 Knoten Wind machen wir gute Fahrt mit 130 Seemeilen
Tagessoll. Heute haben wir Cuba passiert. Wenn der Wind anhält, werden wir bald die Hispaniola kreuzen, die Kurs auf Vera Cruz nimmt.
Die Mannschaft ist unruhig in der Aussicht auf die bevorstehende Prise. Spanische Handelsschiffe sind in der Regel gut bewaffnet und scheuen keine Schlacht zur Verteidigung ihrer Güter. Den Männern sitzt der Schrecken in den Gliedern vom letzten Jahr, als sie beinahe aufgerieben wurden und nur mit knapper Not entkamen. Noch haben wir genügend Rum an Bord, das hält sie bei Laune. Der zweite Steuermaat führt ab heute das Ruder – möge er fähiger sein als sein Vorgänger.
***

Der Deckdienst war hart und kräftezehrend. Für den Zimmermann gab es jede Menge Arbeit – viele Planken der Schaluppe waren morsch oder zerschossen. Miguel fiel auf, dass die Alhambra keine Galionsfigur besaß und fragte den Bootsmann nach dem Verblieb derselben. Der Decksmaat schaute ihn finster an, entblößte seine schwarz-fauligen Zähne und zeigte in Richtung der Kaptein’, die hinter dem Steuermann stand und jenem wütend Befehle ins Ohr schrie.
„Dort steht unsere Galion. Die Glypte, die sich eines Tags vom Kiel befreite, um uns lauthals und gallig die Richtung zu weisen.“
Miguel war sich unsicher, ob er die Worte des Maats richtig verstand. „Ihr meint, sie sei die Galion?“, fragte er nach.
Der Maat schloss seine Augen und flüsterte mit gequältem Ausdruck: „Sim, português ... das zu Fleisch gewordene Wahrzeichen der Alhambra. Wir verloren die Galion in einem Gefecht nahe der Bermudas. Sie ging unter wie ein Stein. Ein böses Zeichen – nur durch ein Wunder überlebten wir den Kampf. Als sich der Nebel lichtete, sahen wir sie auf dem Wasser treiben. Haie umkreisten sie, doch griffen nicht an. Sie rief uns zu: ‚Zieht mich hoch, ihr Affen!’“ Der Maat spuckte aus, dann fuhr er fort: „Du hättest das Entsetzen in den Blicken der Männer sehen sollen - sie glich unserer Galion bis ins Detail. Unser Kapitän erstarrte als sie vor ihm stand und sie nutzte sein Erstaunen, indem sie einen Dolch ergriff und ihm das Eisen in den Hals stach. Nun ist sie die Kaptein’, so will es unser Gesetz ... das einzige Gesetz, welches unsere Bruderschaft akzeptiert. Nur wer von außen kommt, darf den Kapitän herausfordern. Willst du es versuchen, unserer Hexe die Zunge herauszuschneiden, Zimmermann? Hast du schon mal gegen ein Stück Holz gefochten? ... “
Der Schuss eines Forderladers hallte über das Deck und der Steuermann fiel mit zerrissener Schädeldecke über die Reling.
Kaptein’ Guiletta winkte dem Maat mit ausgestrecktem Arm und schwingendem Handgelenk zu und schrie aufgebracht: „Hol er mir ein fähiges Surrogat! Und spute er sich, Plankensau, Decksaffe, verdammter Hurenbock!“
Der Bootsmann rannte Vorschiffs und stieg die Treppe zu den Mannschaftsquartieren des Zwischendecks hinunter – „Ay, Kaptein’!“
Miguel war allein mit Guiletta. Sie verschränkte ihre Arme vor der flachen Brust und wirkte wie ein zickiges Gör, das nicht seinen Willen bekam. Doch dann sah sie zu Miguel herunter und lächelte – zum ersten Mal. In all ihrer brutalen Eigenartigkeit war sie doch von bezaubernder Schönheit in seinen Augen, und seine Angst wich einem Gefühl der Hingabe für dieses bizarre Weib. Wäre er ein Kleingeist gewesen und hätte an Seemannsgarn geglaubt, dann hätte vielleicht auch er sich der Überzeugung hingeben können, dass Guiletta ehemals als Galionsfigur den Kiel der Alhambra geschmückt hatte ... auch weil ihr Haar den Glanz und ihr Kommando die Härte eines Stücks geschnitzten Amazaque besaßen.

Der Kontakt zur restlichen Mannschaft gestaltete sich schwierig für den Portugiesen. Miguel war von schmächtiger Statue und den rauen Umgangston der Spanier nicht gewohnt. Die Piraten und Berufsverbrecher nahmen ihn nicht als ihresgleichen wahr. Und so begann Miguel des Nachts mit seiner hölzernen Seemannskiste zu sprechen – sie hörte ihm zu – und manchmal, im Rausche des Rums, antwortete sie ihm sogar.



Logbucheintrag: 31. Breitengrad. 27. September 1772. Keine Kursabweichung.
Heute wurde vom Ausguck ein Schiff gesichtet. Das muss die Hispaniola sein. Die Mannschaft macht sich bereit. Wohl könnte die Schaluppe 20 Kanonen vertragen, doch bedauerlicher Weise müssen uns 14 davon genügen. Über die Wanten entern die Tüchtigsten in die Takelage hinauf, um die Rahsegel für den Nahkampf zu prüfen. Nun, da die Alhambra auf Kaperfahrt ist, verbessert sich die Stimmung zusehends.
Dieser Português stellt sich gut an mit der Zimmerei. Doch die Mannschaft wird nicht recht warm mit ihm. Schmächtig, doch sehnig gebaut, wie er ist, erwarte ich dennoch seinen vollen Einsatz bei der bevorstehenden Schlacht.
***

Mit dem Doppelschlag der Schiffsglocke waren die Segel eines spanischen Viermasters mit freiem Auge erkennbar. Giuletta schrie ihre Befehle pausenlos über das Deck – die Schaluppe musste komplizierte Kreuzmanöver gegen den Wind führen, um mit der Geschwindigkeit des Spaniers mithalten zu können, denn es war nicht die Hispaniola, die am Horizont erschien, sondern eine Galeone mit dem Namen Esperanza - der berüchtigste Piratenjäger der Karibischen See.
Das Schiff besaß vierstöckige Kanonendecks, die bei einer richtig-platzierten Breitseite ausreichten, um die Hafeneinfahrt von Santa Cruz in Schutt und Asche zu legen. Die Esperanza war jedoch auf Grund ihrer Größe nicht in der Lage, schnelle Wendemanöver durchzuführen. Das war die Chance der Alhambra - ihre einzige Chance, käme es zu einem Gefecht.
Die Taue waren bereits blutdurchtränkt, die Haut der Handflächen hing in Fetzen, so sehr legten sich die Männer ins Zeug.
Es war eine ungleiche Jagd – ein Wiesel gegen einen Löwen. Die Kaptein’ richtete ihren Blick voll Verbissenheit gen Horizont – sie wollte das große Tier mit allen Mitteln zur Strecke bringen. Ein Kanonier wagte zu erwähnen, dass es keinen Sinn mache, ein Kriegschiff kapern zu wollen, da es außer Gefahr keine Beute versprach. Und selbst wenn sie es hätten entern können, so wäre aus Furcht vor spanischer Vergeltung kein Hafen im Umkreis von tausend Seemeilen bereit gewesen, ihnen Asyl zu gewähren. Für diese Bemerkung schlug ihm Guiletta ein Ohr ab und warf es zu den Fischen. Sie tobte: „Was ficht mich Gold und Gut an, wenn sich die Gunst ergibt, eine schwimmende Festung der Spanier zu versenken? Seid ihr Männer oder Mädchen?“
Miguel musste sich ein Grinsen verkneifen – das einzige Mädchen war die Kaptein’ selbst, doch außer ihm schien es niemandem aufzufallen.
Auf ihren Befehl flatterte die spanische Flagge am Mast, um den Gegner in Sicherheit zu wiegen, und nach einigen Tagen und unzähligen Manövern hatte es die Alhambra geschafft, dem Feind auf Kanonenreichweite nahe zu kommen.
Auf dem Mannschaftsdeck wurden Säbel und Messer gewetzt und die üblichen Zoten gerissen – nur einer betete kniend vor seiner Seemannskiste: Miguel.
Das Rahsegel wurde gerafft, während der Bootsmann Flaggensignale der freundschaftlichen Begrüßung an den Gegner sandte. Das Piratenschiff ließ sich eine Viertelseemeile zurückfallen und stand mit seinen Kanonen im schrägen Winkel zum Heck der Esperanza.
„Feuer!“, schrie Kaptein’ Guiletta voller Euphorie gellendlachend gegen den Wind, und die Backbordkanonen spuckten ihre Ladung gleichzeitig aus.
Die Balustrade der Kapitänskajüte zerbarst und mit dem nächsten Kanonenstoß schien auch die Ruderanlage des Gegners getroffen.
Die Alhambra hatte nun genügen Zeit, um sich steuerbords geschickt zu nähern und sich an der Heckseite eine weitere günstige Schussposition zu sichern. Man durfte dem Kriegsschiff nur keine Breitseite bieten. Der Feind schoss mit beweglichen Halb-Pfündern von der Reling zurück und verfehlte den Rumpf der Piraten nur um Haaresbreite.
Die zweite Salve knickte den hinteren Segelmast der Esperanza. Miguels Kameraden jubelten, die Kaptein’ hatte ein bösartiges Grinsen aufgelegt und wies wie eine Galionsfigur in Richtung des Gegners.
„Olá!“, rief sie Miguel durch den Geschützdonner entgegen, „will er ewig leben, português, oder an meiner Seite untergehen?“
Miguel ließ sich im Eifer des Gefechts von seiner Befehlshaberin mitreißen: „Mit Euch ewig zu leben, Kaptein’, mutet mir besser an, als mit Euch zu sinken! Doch wohlan, die Esperanza scheint ein zahnloser Löwe ohne Ruderanlage.“
Der Bootsmann rief ihr zu: „Kaptein’, wollt Ihr Befehl zum Entern geben?“
Sie lachte. „Hat er nicht die Worte des Einohrs vernommen? Was lohnt es, eine Galeone aufzubringen? Wir werden sie zu den Haien schicken. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird schwimmen und uns als Beute reichen. Zielt mittschiffs auf ihre Pulverkammern!“
Eine zweite Salve der Heck- und Relinggeschütze knickte den Hauptmast der Alhambra welcher im Fallen ein halbes Dutzend Piraten unter sich begrub. Der Bootsmaat, der nur zwei Meter neben Miguel stand, fiel plötzlich auf die Seite wie ein gefällter Baum. Ein Halb-Pfünder hatte ihm ein Bein abgerissen und sein Blut spritzte als Fontäne im Rhythmus seines Herzens über das Deck. Die Steuerbordreling zerbarst und die Holzsplitter bohrten sich in Fleisch und Augen der Angreifer. Miguel hustete gereizt von den Schwaden des verbrannten Schwarzpulvers und Fleisches. Aus den Kanonenluken sprangen brennende Seeleute in die peitschende See und die Haie nahmen sie gierig in Empfang.
„Feuer!“, schrie Guiletta unbeeindruckt durch den beißenden Qualm, während die nächste Salve der Esperanza den zweiten Mast der Piraten zerschoss.
Kurz darauf schlugen die Geschosse mittschiffs in der Pulverkammer der Galeone ein und das Kriegsschiff explodierte in einem Feuerball, dessen Ausläufer die restlichen Segelfetzen der Alhambra in Brand setzten. Der Vormast musste gekappt werden, um die Flammen nicht aufs Deck überschlagen zu lassen. Das Piratenschiff glich nun einem überdimensionalen Ruderboot – sämtlich Aufbauten und Masten waren zerstört, die Decksplanken leuchteten in der Haarfarbe der Kaptein’.
Die Esperanza versank ächzend und das Schreien der Seemänner und Soldaten durchschnitt das gleichmütige Rauschen des Ozeans, als die messerscharfen Gebisse hungriger Meeresbewohner sich der unverhofften Nahrung annahmen - sie sollten die einzigen sein, die von diesem Gefecht profitierten. Zwei halbvolle Süßwasserfässer und jede Menge Treibholz war alles, was vom Stolz der spanischen Kriegsmarine übrig blieb.

Guiletta schritt über das Deck und stieß mit ihrer Fußspitze an die leblosen Körper und abgerissenen Gliedmaßen. „Was urteilt er?“, rief sie Miguel zu, „hat sich das Opfer gelohnt, um in die Geschichte einzugehen? Niemals zuvor ist es einer Schaluppe gediehen, eine schwimmende Bastion zu versenken. Und keiner wird es uns je gleichtun.“
Miguel stand noch immer an jenem Teil der Reling, der nicht von gegnerischen Geschützen perforiert war. Um ihn herum vernahm er das Stöhnen und Schreien seiner Kameraden. Er war erstarrt und hatte Angst, seinen Blick von den Kämmen der See abzuwenden – soviel Leid und Schmerz wollte er nicht erblicken. „Kaptein’“, sagte er monoton, „Ihr seid wahrlich eine Hexe.“
„Geschwätz, português, beeile er sich, die Kadaver über Bord zu stoßen, bevor ihre Verwesung mir die Stimmung verdirbt.“
Am Ende des Tages bestand die Besatzung der Alhambra aus sieben Matrosen, welche mit dem Leben davongekommen waren. Sie saßen stumm mit gekreuzten Beinen auf den Planken und beäugten Giuletta mit finsteren Blicken.
Sie stellte sich breitbeinig in ihre Mitte, stemmte die Hände in ihre Hüften und zischte: „Denkt nicht einmal daran. Mir seid ihr nicht gewachsen, fauliger Ausbund.“
Wie viel Schmach kann ein Mensch erdulden, fragte sich Miguel.

In den folgenden Tagen versuchte der Zimmermann mit den verbliebenen Männern einen Hilfsmast aus dem Treibholz der Esperanza zu errichten. Als Segel diente ein Stückwerk aus Leinen und Tuch. Sie schafften es sogar, die beiden treibenden Süßwasserfässer an Bord zu hieven.
„Ein reiche Beute hat uns die Hexe beschert“, murmelte der neuernannte Steuermann.
„Halts Maul, wenn Du leben willst“, fauchte ihn sein Kamerad an, „sie sieht und hört alles.“



Logbucheintrag: 15. Oktober 1772.
Seit 17 Tagen steht die Alhambra. Ich vermute, wir befinden uns etwa am 29. Breitengrad. Die Wasservorräte sind nahezu erschöpft.
Der Irrsinn, den der Durst hervorruft, ist nicht einzudämmen. Vier der verbliebenen Matrosen sind über Bord gegangen. Skorbut frisst das Zahnfleisch auf. Die Müdigkeit ist groß, die Männer klagen über entzündete Gelenke. Sie sind schwach. Niemand ist zu gebrauchen. Einzig Miguel ist auf den Beinen. Die Leichen begleiten uns, wollen nicht untergehen, werden nicht weggetragen. Sie stinken zum Himmel. Selbst Haie scheinen sich vor ihnen zu ekeln. Die Flaute hält an. Das Trinkwasser ist faulig, die Nahrungsreserven voll Maden. Wenn nicht ein Wunder geschieht, treiben wir direkt in die Hölle ...
***



Kaum hatte das Schiff wieder leichte Fahrt aufgenommen, setzte eine Flaute ein – und zu allem Überfluss war das Trinkwasser faulig und führte bei den Matrosen zu den ersten Anzeichen des Skorbuts. Dahinsiechen oder verdursten – das waren die Alternativen in einem lautlosen Meer voller Wasser.
Miguel wickelte die Opfer der Krankheit in Decken, verschnürte sie und warf sie über die Reling. Sie wollten nicht untergehen und trieben tagelang in der Flaute neben dem Schiffsrumpf. Guiletta rollte Seekarten aus und berechnete die ungefähre Position. Die Alhambra befand sich immer noch auf der Hauptroute zwischen Vera Cruz und Cuba; wenn die Windstille sie somit nicht bezwingen konnte, so konnte man zumindest davon ausgehen, dass spanische Aufbringer dem Piratensegler den Rest geben würden. Mittlerweile könnte sich herumgesprochen haben, wer die Esperanza versenkt hatte, und das Kopfgeld war gewiss so horrend, dass es Prisenjäger wie Ratten aus allen Teilen des Golfs anlockte.
„So oder so, wir werden es nicht überstehen, Kaptein’.“
Sie stand an der Reling und spuckte Galle ins spiegelglatte Meer, wischte mit ihrem Hemdsärmel über den Mund und schaute Miguel durchdringend an. „Furcht, português? Solange wir spucken können, sind wir nicht entseelt. Ich hoffe nur, uns kreuzt ein inglês. Sie werden unsere Heldentat zu würdigen wissen. Wie würde mir der Rock eines Leutnants seiner Majestät King George stehen, Miguel? Festgezurrt mit goldenen Knöpfen, um jenes zu verbergen, was mich von den Herren der Kriegsmarine unterscheidet. In meiner Kajüte befindet sich das Gewand eines Admirals. Los, bringe er mir dieses zur Anprobe!“
Guiletta riss ihr Hemd entzwei und entblößte ihre flache Brust. Ihre Warzen standen hart empor. Miguel betrat die Kapitänkajüte und suchte wie befohlen die Uniform. Der Raum war karg, besaß keine Persönlichkeit, nichts was darauf schließen ließ, von einem Kapitän bewohnt zu sein. In einem Wandschrank hing der Rock eines portugiesischen Flottenobersten. Die Kleidung war über hundert Jahre alt, stammte aus dem ersten Jahrzehnt Portugals Unabhängigkeit. Miguel klopfte den Staub von der Uniform und stieg den Gang zum Vorderdeck empor.
Guiletta stand splitternackt am Bug und schaute in Richtung der untergehenden Sonne. Der Zimmermann legte die Jacke mit den goldenen Schulterstücken um seine Kaptein’. Er salutierte, als sie sich umwandt. Nicht nur ihr Haupthaar war leuchtendrot – auch Wangen und Scham besaßen diese Farbe. Und die Uniform stand ihr, als wäre sie maßgeschneidert.
„Gefalle ich ihm? Möchte er mein Adjutant sein und mir mit der Kraft seiner Lenden Vergnügen bereiten?“
Miguel dachte an die Geschichte des Decksmaats, wie die vermeintliche Galion den früheren Kapitän der Alhambra erstach, und wich einen Schritt zurück.
“Beschleicht auch ihn zuweilen der Eindruck, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht in dieser Welt?”
„Durchaus, a almiranta“, brachte er zögerlich hervor, „seid Ihr wahrhaftig die Galion dieses Schiffes, so wie es mir zugetragen wurde?“
Guiletta lächelte geheimnisvoll. „Spricht er mit seiner Seemannskiste und antwortet sie ihm, so wie es mir zugetragen wurde?“


Logbucheintrag: 1. November 1772. Es hat aufgefrischt. Der Wind treibt die Alhambra auf den Golf von Mexiko zu. Außer mir und Miguel ist keiner mehr an Bord. Der Português scheint irr geworden. Er will mir ein Mysterium anvertrauen. Er meint, es gäbe ein Wesen in seiner Seemannskiste, welches ihm befahl, hineinzusteigen, auf dass wir erretten würden. Ein Strohhalm nur, aber was haben wir zu verlieren? Ich werde es als erste versuchen ... Wir ringen mit dem Tod durch Hunger und Durst. Kein Schiff weit und breit. Mich beschleicht die Gewissheit, dass dieses meine letzte Inskription ist.
***



Prüfung

Die Doppeltür zum Prüfungsraum wurde geöffnet. Der Schuldiener Babtiste trat auf den Gang hinaus und rief: „Mündliche Prüfung, Geschichte. Guiletta? Sie sind die Erste.“
Im Vorbeigehen drückte er ihre Hand und flüsterte: „Viel Erfolg, du schaffst das schon. Der Ausschuss scheint heute gut gelaunt.“
Guiletta mochte den altväterischen Hausmeister seit der ersten Klasse. Er hatte immer ein Ohr für die Probleme der Schüler besessen und seine Schulbrote schmeckten besser als die synthetischen Produkte aus dem Automaten.
Er war die gute Seele des alten Gemäuers.
Guiletta betrat den Saal, verbeugte sich vor der Kommission und stellte sich hinter das Prüfungspult. Ihr Thema waren die Kaperfahrten und das Leben auf See in der spanischen Kolonialzeit. Sie beschrieb es in realistischen Farben, ungeschönt, faktual und wurde während ihres Vortrags kein einziges Mal durch eine Zwischenfrage unterbrochen.
Der Hausmeister lehnte an der Tür, zeigte ihr seine gedrückten Daumen und nickte lächelnd. Auf seinen freien Oberarmen stellten sich die Haare auf.
Nach dem Ende ihrer Rede hätte man den Fall einer Stecknadel hören können. Die beklemmende Stille wurde durch ihren Geschichtslehrer unterbrochen: „Nun gut, Guiletta. Danke für diesen aufschlussreichen Vortrag. Das Ergebnis wird Ihnen morgen mitgeteilt.“
Beim Verlassen des Saales fragte sie den Hausmeister: „War das okay?“
„Hast du ihre Gesichter gesehen? Ich glaube, solch eine Prüfungsrede haben die Herrschaften noch nie vernommen. Es war sehr überzeugend, meine Kleine.“
Und ganz leise fügte er hinzu: „Du hast doch nicht etwa Brainticket geschluckt, oder?“
„Und wenn es so wäre, Signor Babtiste? Würden Sie mich verraten?“
„Selbstverständlich nicht. Es ist dein Leben und deine Entscheidung, und ich denke nicht, dass du grundlos zu solchen Mitteln gegriffen hast. Aber sei gewarnt ...“, seine Mine verfinsterte sich, „Brainticket ist keine der üblichen Designerdrogen, die dem Konsumenten schöne, bunte Träume bescheren. Dieser Stoff erschafft zuweilen Kreaturen, die man nicht mehr los wird, weil sie nicht der Phantasie, sondern einer anderen Realitätsebene entspringen.“
Guiletta sah ihn erschrocken an, doch dann lachte sie, „keine Angst, Babtiste, ich verspreche Ihnen, das war das erste und letzte Mal.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und lief beschwingt den langen Gang hinunter.
Die gute Seele schaute ihr gedankenvoll nach und kratzte sich an jener Körperstelle, wo sein Hemd die Tätowierung eines spanischen Bootsmanns verbarg ...
Ay, Kaptein’, Ihr müsst es ja wissen, dachte er.

Den Nachmittag verbrachte Guiletta im Infocenter der digitalen Bibliothek und recherchierte die spärlichen Schiffdaten um 1770. In einer kubanischen Datenbank entdeckte sie einen Eintrag über die Alhambra aus dem Logbuch eines spanischen Prisenjägers: Die Alhambra, das Schiff der Roten Hexe, wurde am 3. November 1772 von uns aufgebracht und in den Hafen von Vera Cruz geschleppt. An Bord befand sich keine Mannschaft - nur in einer Seemannskiste unter Deck fanden wir einen toten Matrosen, der die Kleidung der holländischen Handelsmarine trug ... seine Hand umkrampfte ein seltsam silbernes Papier, welches eine grüne Kugel verbarg ... unser Bootsmann löste sie in Wasser auf und trank dieses unheimliche Gebräu. Seitdem ist unser Kamerad Babtiste nicht mehr bei Sinnen und faselt Verworrenes über Klausurmaschinen und andere unbegreifliche Dinge, sodass wir ihn in ein Hospiz verbringen müssen. Die Hexe scheint sich seiner bemächtigt. Ein teuflischer Zauber – Gott stehe uns bei ...

Eine Träne löste sich aus Guilettas Auge. „Allmächtiger, das war mein Werk“, flüsterte sie, „ich habe Miguel zurückgelassen in meinem Psychotrip. Den einzigen, der selbst die dunkle Seite in mir liebte ... er hat nicht verstanden, wozu die Pille dient. Statt dessen habe ich Babtiste aus seiner Welt gerissen.“
Sie sprang auf und rannte durch die Schulkorridore, durch den Innenhof, entlang der Backsteinmauer, der altehrwürdigen Kadettenanstalt für höhere Seeoffizierstöchter bis zu jener dunklen Stelle, an der die Träume einer alternativen Realität gehandelt wurden.
Sie hatte Angst vor der grünen Pille, doch noch mehr fürchtete sie um Miguels Schicksal, den sie insgeheim, über alle Grenzen des Begreifbaren hinweg, lieben gelernt hatte ...

***

Die Sonne brannte heiß auf ihrer Haut und ihre Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. Welches Datum haben wir heute?
Schatten tanzten vor dem Gestirn – Möwen!
Guiletta kam mühsam auf die Beine und wankte die Stiege zu den Mannschaftsquartieren hinunter – dort, wo sich vor kurzem noch der Springbrunnen des Schulhofs befunden hatte.
Die Kiste, ich muss die Kiste finden ...
Sie stemmte den schweren Deckel mit aller Gewalt auf.
„Miguel! So sage doch etwas!“
Der Zimmermann atmete sehr flach, aber er lebte zumindest noch.
Der erste oder zweite November, schoss es der Kaptein’ durch den Kopf, als sie versuchte, ihn aus der Truhe zu ziehen und an Deck zu zerren, noch ein Tag, bis sie uns finden.
Möwen, eine Insel ... das Beiboot, ja, das Beiboot.
Mit letzter Kraft hievte sie Miguel ins Boot und ließ es an einem Flaschenzug herunter.
Rundern ... eine Insel ... rudern ...
Das Hilfssegel der Alhambra blähte sich, ein starker Wind kam auf und trieb das Geisterschiff steuerlos gen Westen, so als wollte es auf seiner letzten Reise die Häscher von der Fährte seiner Galion abbringen.
Guiletta zog wie in Trance die schweren Ruderblätter durch die aufschäumende Gischt und biss sich die Unterlippe blutig, um bei Bewusstsein zu bleiben. Wehmütig sah sie der Schaluppe nach, die rasch an Fahrt gewann.
Alhambra, treue Gefährtin, Schrecken des Golfs, mögen Dir die Winde wohlgesonnen sein auf deiner letzten Fahrt!
E remar ... e remar ... komm Mädchen, du trägst den Rock des Admirals, also kannst du auch rudern wie ein solcher, feuerte sich Guiletta an, zeige deinen mannhaften Vorfahren und der gesamten Admiralität, aus welchem Holz du geschnitzt bist! Zeige ihnen, was ein vermeintlich schwaches Weib zu leisten vermag und strafe ihren männlichen Dünkel Lügen! Rudere, Hexe, rudere! Für Miguel ... und das neu aufkeimende, stolze portugiesische Seereich ... und all die Kameraden, deren Blut an spanischen Händen klebt ... rudere!
Nach Stunden des Kampfes gegen die aufgebrachte See schwanden ihr die Sinne. Die Blasen an ihren Händen brannten vom salzigen Wasser und wie durch einen Schleier vernahm sie das Brandungsrauschen einer Insel.

Die Eingeborenen lasen sie vom Strand auf, trugen sie in den Schatten, öffneten Kokosnüsse und Papayas – sie kannten die Rote Hexe nicht, aber ihre feurige Lockenwirrnis und die goldglitzernde Uniform flößte ihnen Respekt ein. Miguel kam zu sich und schaute in das verschwommene Antlitz seiner Kaptein’. „Was ist geschehen? Wo ist unser Schiff?“, röchelte er benommen und sog gierig den Saft der Früchte auf.
„Ruhig, favorito. Wir wurden errettet. Der gute Teil der Guiletta ist nun bei dir, ... mein kostbarster Schatz. Die Rote Hexe weilt nicht mehr unter den Lebenden dieser Epoche.“
Wieder zu Kräften gekommen, legte er die Papayas zur Seite und grub seinen Mund in jene Früchte, die der Leib seine Kaptein’ ihm offenbarte.
Nach einigen paradiesischen Monaten der Abgeschiedenheit tauchten die Segel eines portugiesischen Händlers am Horizont auf. Miguel entzündete einen Holzstoß und Guiletta winkte mit Palmenblättern ...

***

Die drückerlose Tür des gepolsterten Raumes wurde geöffnet. Babtiste trat auf Strümpfen ein. „Zwei Minuten“, sagte ein Wärter, der hinter ihm den Raum wieder verschloss.
Babtiste kniete sich neben einer jungen Frau auf den weichen Boden, fasste sie am Kinn, drehte ihren Kopf und blickte in ihre ausdruckslosen Augen. „Bist du uns also wieder mal entwischt, Guiletta Gonçalves. Dich zu jagen, ist wahrlich ein schweres Unterfangen. Ich wünschte, ich könnte in deinen Gedanken lesen, wo du dich nun befindest ...“
Guilettas Oberkörper wippte mit vor der Brust verschränkten Armen hospitalistisch.
„Es wird dich wahrscheinlich nicht mehr interessieren, aber du hast die Geschichtsprüfung mit Bestnote bestanden. War es das wert, einen Keil quer durch vormals autarke Dimensionen zu treiben?“, sagte er und legte seine Hand auf ihre Schulter.
Ihre Unterlippe vibrierte und an ihren Mundwinkeln floss schaumiger Speichel herunter. Der Wärter öffnete die Tür und Babtiste wandte sich zum Ausgang.
„Olá“, schrie sie unvermittelt, setzte eine furchterregende Grimasse auf und fügte auf altportugiesisch mit tief-rauer Stimme hinzu, „ich scheiß auf die Prüfung! Die 29. Latitude ist verdammt lang – such er mich doch, harthörige Plankensau!“ Daraufhin senkte sie ihre Stimme und zischte bösartig: „Aber vielleicht werde ich ihm zuvorkommen, seine vom Wahn gezeichnete Hülle in einem Hospiz finden und ihn kielholen ... Drüben, auf der anderen Seite des vermeintlich Wirklichen, sehen wir uns wieder, espanhol ...“
Mitten im Satz wechselte ihre Stimmung ins Weinerliche und sie begann abermals zu wippen: „Was habt ihr mit meinem Schiff gemacht? Ich brauche es, ich muss euch doch jagen – durch den Golf von Mexiko, und wenn es sein soll, bis in die Hölle!“
Babtiste sah sie mitleidig an und wischte mit einem Taschentuch den Speichel von ihrem Kinn. „Du bist bereits in der Hölle angekommen, Guiletta.“
Sie reagierte nicht mehr auf ihre Umwelt und sang lachend: Fünfzehn Mann auf des toten Seemanns Kiste! Und ´ne Buddel voll Rum ...


*FIM(?) – Talvez ...*

„Eine wunderschöne alte Uniform, a senhora. Wie viel verlangt Ihr?“, fragte der Schneidermeister und strich über die samtbeschlagenen, golddurchwebten Kuverts.
Das Mädchen mit den gebändigten roten Locken sah sich die Auslage an. „Ihr müsst wissen, sie hat einst einem Admiral gehört, aus einer langen Ahnenreihe von großen Kriegshelden, der es gramgebeugt nie verwunden hatte, dass er an Stelle eines strammen Burschens nur eine wertlose Enkelin erwarb, die als Weib diesen Rock niemals tragen durfte. Aber ich fordere nicht viel von Euch, weil die Kleidung ihre Schuldigkeit getan hat. Ein weißes Kostüm, einen noblen Gehrock, einen Spazierstock für den Herrn aus Amazaque und zwei goldene Ringe, Meister.“ Dann wandte sie sich ihrem Begleiter zu und hauchte ihm zärtlich ins Ohr: „Oder was urteilst du – ist meinem Aufgebot etwas entfallen, Miguel?“
„Ich beuge mich stets Eurem Geheiß, Kaptein’“, gab er mit einer lächelnden Ehrenbezeugung zurück, schrieb eine Lieferadresse ins Auftragsbuch des Schneiders und mischte sich mit seiner Seemannsbraut engumschlungen ins Altstadtgetümmel von Lissabon ... wo sich die Spur der Roten Hexe des Golfs von Mexiko entgültig verlor.
Und fern ab, in einer anderen Dimension, lächelte ein rothaariges Mädchen in einem schalldichten Raum und flüsterte zufrieden im Schleier der Tranquilizer kaum hörbar: „Fim.“

Letzte Aktualisierung: 28.06.2006 - 16.09 Uhr
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