Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Januar 2004
Enthüllung
von Lutz Schafstädt

Monika S., eine Frau mittleren Alters, ist aus dem Fenster ihrer Wohnung im vierten Stock gestürzt. Gegen sieben Uhr morgens fiel sie in die Hecke vor dem Haus Nummer zwölf in der Wallstraße. Die Wucht des Aufpralls zerschmetterte ihre Wirbelsäule. Noch vor dem Eintreffen der Hilfskräfte erlag sie ihren Verletzungen.
Als Polizeikommissar Kruse den Unglücksort erreicht, ist die Leiche bereits abtransportiert. Feuerwehrleute sind dabei, abgebrochene Zweige aus der Lücke in der hüfthohen Hecke zu schneiden und Blut vom Laub zu waschen. Kruse nickt ihnen zu, deutet mit der Hand einen Gruß an und geht ins Haus. Ein Mann mit Werkzeugkoffer kommt ihm im Treppenhaus entgegen.
„Haben Sie die Tür geöffnet?“
„Ist erledigt, Chef.“
Kruse ist zufrieden. Alles läuft in professionellen Bahnen. Spätestens am Mittag wird er wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Jetzt noch mit ein paar routinierten Blicken Fremdverschulden ausschließen und die Sache kann zu den Akten.
Er erreicht die Wohnung. Ein Kollege wartet davor.
„Sie mussten den Schließzylinder aufbohren?“
„Der Schlüssel steckte von innen.“
„Alleinlebend?“
„Sieht danach aus. Eine Nachbarin hat sie gefunden. Möchten Sie gleich mit ihr reden?“
„Ja, bitte.“
Kruse geht hinein, durch den winzigen Flur, rechts in die Küche. Der einzige Stuhl in dem schmalen Raum steht unter dem noch immer geöffneten Fenster. Er schiebt ihn zur Seite, schließt die Fensterflügel, richtet die Vorhänge, schaut sich um. Alles ist bemerkenswert aufgeräumt. Auf der Arbeitsfläche neben dem Herd liegt die Morgenzeitung. Daneben steht eine Tasse. Auf der Milch in ihr liegt eine Fliege. Er stupst sie mit dem Zeigefinger an. Noch ein Selbstmord, kommt ihm in den Sinn, als sich keines der Beinchen regt.
Schritte nähern sich. Der Kollege bringt die Nachbarin, eine kleine alte Dame in Kittelschürze und aufgeregt zuckenden Augen.
„Das ist Frau Weinert, Herr Kruse.“
„Guten Morgen Frau Weinert. Sie haben die Polizei benachrichtigt?“
Er reicht ihr die Hand, bietet ihr den Stuhl an. Sie macht eine abwehrende Geste, atmet hastig.
„Sollen wir uns lieber in Ihrer Wohnung unterhalten?“
„Nein, nein, schon gut. Es ist nur so schrecklich. Die junge Frau. Ist an mir vorbei gefallen. Vor dem Fenster. Ich habe gerade meine Blumen - wie furchtbar. Ganz verrenkt und krumm hat sie im Gestrüpp gelegen, wissen Sie. Aufgespießt. Voll Blut.“
„Kannten Sie sich gut?“
„Wie man sich so kennt, wissen Sie. Guten Tag, guten Weg. Manchmal haben wir uns auf der Treppe eine Minute unterhalten. Die nette Frau. Heute früh traf ich sie noch, als sie von der Arbeit kam. Und nun ist sie schon nicht mehr.“
„Was hat sie denn beruflich gemacht?“
„Was mit Telefon. Hat sie mir erzählt, wissen Sie. Einsame Leute haben bei ihr angerufen. Die Zeiten sind ja so. Keiner kümmert sich mehr um den anderen. Sogar die Familien gehen kaputt. Und wenn so jemand mal über seine Sorgen reden wollte, war sie da. Die gute Frau. Ich habe sie gefragt, wissen Sie. Man wundert sich ja, wenn einer immer nachts arbeitet. Aber gerade dann, meinte sie, bräuchten die armen Menschen sie am nötigsten.“
„Hat Frau S. oft Besucher empfangen?“
„Nein. Weiß ich nicht. Hab mich auch gewundert, wissen Sie. Dass sie sich keinen Mann gesucht hat. Immer allein ist nicht gut, hab ich ihr gesagt. Am Ende braucht sie noch selber Hilfe. Ist doch schlecht auf die Dauer.“
„Darüber haben sie mit ihr gesprochen?“
„Natürlich. Sie hat gesagt, dass sie raus will. Neulich erst. Ist doch klar, das man irgendwann genug hat, den Kummer fremder Leute auf sich laden zu lassen. Sie hatte nicht mehr genug Kraft dafür, wissen Sie.“
„Das hat sie gesagt?“
„Na, nicht wörtlich, aber ungefähr. Erzählt hat sie mir, dass sie eine neue Arbeit machen will. Und vorher ausspannen und verreisen. Die arme Frau. Nun ist sie in den Tod gesprungen. Schrecklich.“
„Danke, Frau Weinert. Sie haben uns sehr geholfen. Ich werde mich noch einmal an sie wenden, wenn ich Fragen habe.“
Kommissar Kruse verabschiedet sich, begleitet die Nachbarin bis zur Tür und geht dann ins Wohnzimmer. Beruflicher Druck als Motiv für diesen Selbstmord? Er zweifelt daran. Private Probleme? Er hofft, ein Indiz dafür zu finden. Einen Abschiedsbrief vielleicht. Wer gießt sich erst Milch in die Tasse und springt dann aus dem Fenster?
Sein Blick fällt auf einen Kartonstapel neben dem Sofa. Er öffnet die oberste Schachtel, identische Buchrücken reihen sich aneinander. Er zieht ein Exemplar heraus. „Abgründe der Seele“ lautet der Titel. Monika S. ist die Autorin. Sie hat über ihre Erfahrungen bei der Telefonberatung ein Buch geschrieben und es auf eigenes Risiko verlegt. Das müssen einige hundert Exemplare sein, denkt Kruse. Geldsorgen als Ursache? Oder ist der Inhalt so brisant, dass jemand die Veröffentlichung verhindern wollte? Er widmet sich der Rückseite.
Mit psychologischem Gespür und emotionaler Tiefe, steht dort, erzählt Monika S. von einsamen und unglücklichen Menschen. Ihre Episoden fügen sich zu einer Anklage gegen eine herzlose, berechnende und brutale Gegenwart, ohne jedoch in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu verharren ...
Kruse legt das Buch zurück, geht zum Wohnzimmerschrank hinüber, öffnet die Schubfächer. Er nimmt einige geheftete Blätter Papier hervor. Sie tragen den Briefkopf der lokalen Tageszeitung. Es ist der Wortlaut eines Interviews, an Monika S. adressiert und mit dem Vermerk „Zur Kenntnisnahme“ versehen. Er überfliegt die Zeilen. Ein wohlwollendes Frage-Antwort-Spiel über die Autorin, ihr Buch und immer wieder über langjährige Erfahrungen in der Telefonberatung.
Kruse beschließt, den Journalisten anzurufen, der das Gespräch geführt hat. Möglicherweise hat er erfahren, ob Monika S. sich mit ihrem Buchprojekt finanziell übernommen hat oder es ernste Einwände seitens ihres Arbeitgebers gab.
Das Telefon steht neben dem Fernseher.
„Hier ist Polizeikommissar Kruse. Guten Morgen, Herr Fleischer. Ich habe eine Frage zu Ihrem Interview mit Monika S.“
„Polizei? Jetzt sagen Sie nicht, das die Frau mich angezeigt hat!“
Kruse stutzt.
„Nein, warum sollte sie das tun?“
„Na, das finde ich auch. Die Story hat voll eingeschlagen. Die Leute werden ihr das Buch aus den Händen reißen.“
„Ich halte hier Ihren Brief mit dem Wortlaut des Interviews in Händen. Ja, ein guter Beitrag.“
„Nein. Das ist der Stand von letzter Woche. Ich habe da noch etwas recherchiert und überarbeitet.“ Fleischer lacht. „Sie haben die Zeitung von heute wohl noch nicht gelesen. Aber sagen Sie, was wollen Sie überhaupt von mir.“
„Nichts, Herr Fleischer. Wir führen in Zusammenhang mit Frau S. polizeiliche Ermittlungen durch und sie gehören zu den Menschen, die in den letzten Tagen Kontakt mit ihr hatten.“
„Das verwundert mich nicht. Die Frau lügt, dass sich die Balken biegen. Aber mich konnte sie nicht hinters Licht führen. Ich habe gleich vermutet, dass sich hinter ihren Allgemeinplätzen über Telefonberatung mehr verbirgt. Das verständnisvolle Sensibelchen hat es faustdick hinter den Ohren. Darf ich fragen, was sie auf dem Kerbholz hat?“
„Tut mir leid, Herr Fleischer, aber das verstehen sie sicher.“
Kruse beendet das Gespräch, geht in die Küche. Dort liegt die Zeitung. Er schlägt sie auf und wird schnell fündig. In fetten Lettern springt ihm die Überschrift ins Auge:
„0190-Hure auf Psycho-Trip“
Rechts darunter ein Foto. „Monika S. (46), Jungautorin aus unserer Stadt. Bisher löste sie als die heiße Elvira sexuelle Krampfzustände ihrer Mitbürger und lockte mit dem Slogan: Ruf mich an! Reife Frauen über vierzig warten auf dich! Jetzt startet sie durch, in ein neues Leben.“
Kruse schiebt die Zeitung zur Seite. Die Tasse Milch, auf der die Tote Fliege schwimmt, steht direkt neben ihm. Er nimmt sie, gießt sie in den Ausguss, spült mit Wasser nach.
Er ruft nach seinem Kollegen, bittet darum, für ihn weiter nach Hinweisen auf Angehörige zu suchen und die Wohnung anschließend zu verschließen.
Kruse geht aus dem Haus. Die Spuren an der Hecke sind beseitigt. Schon in kurzer Zeit wird auch die lichte Stelle im Geäst verschwunden sein.

Lutz Schafstädt, 2004

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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