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Januar 2004
Keine Schwächen
von Renate Hupfeld

Wie er sie ansieht! Provozierend und eindringend. Carina hasst diesen Blick. Sie rückt mit dem Stuhl ein wenig weg vom Tisch, als könne sie ihm ausweichen. Eklig das schmutzige Geschirr hier überall. Erst gestern hat sie ihn aufgefordert, in der Küche Ordnung zu schaffen. Muss ihm das etwa erst beibringen? Allmählich verliert sie die Geduld, sie hat keinen Plan mehr für die Arbeit mit ihm. Schon während der Autofahrt hierher musste sie gegen ihre Widerstände ankämpfen, kommt doch immer das Gleiche dabei heraus, nämlich nichts. Er sieht nicht so aus, als hätte er seinen Hintern heute schon vor die Tür bewegt. Das heißt, seinen Termin beim Arbeitsamt hat er sausen lassen, wieder mal.
Da hängt er am Küchentisch und demonstriert Coolness. Das ganze Leben ist ein Spiel, so hätte er es gerne. Wenn er wüsste, wie sie über ihn denkt. Spürt er, wie er sie unruhig macht? Nein, sie darf nicht zulassen, dass er mit ihr sein Spielchen treibt. Er ist dreist genug ihr nachzustellen und sie zu Hause anzurufen. Sogar einen Liebesbrief hat er ihr geschrieben. Dein geiler Hintern macht mich an, ich will mit dir schlafen, steht darin. Was soll sie damit? Ist ja nichts dagegen zu sagen, dass sie ihm gefällt in ihren engen Jeans, aber er darf es ihr nicht zeigen, nicht so. Ja, er sieht gut aus, blonde halblange Haare, blaue Augen und dunkler Teint, kommt gut an bei den Mädchen. Zugegeben, sie ist nicht viel älter als er und durchaus an attraktiven Typen interessiert. Aber im Gegensatz zu ihm hat sie einen Job und eine eigene Wohnung. Sie ist die Erzieherin, er ihr Zögling.
Ein Zögling, der alle Register zieht, um es seiner Erzieherin schwer zu machen. Er wohnt hier in der betreuten Wohngruppe, weil er auf der ganzen Linie gescheitert ist. Aus der Schule rausgeflogen, zu Hause rausgeflogen. Und nichts deutet darauf hin, dass er hier sein Leben in den Griff kriegt. Er steht kurz vor dem Rausschmiss.
Das geht ihm alles am Arsch vorbei, hat er ihr gestern gesagt. Es wird ihn auch nicht weiter beeindrucken, dass sie schon wieder hier sitzt. Es ist egal, wie sie das Gespräch beginnt, es wird auch diesmal nicht zum Ziel führen. Er wird weiter abhängen. Eigentlich verplemperte Zeit.
„Sascha ...“, beginnt sie. Er hebt doch tatsächlich ein wenig den Kopf und verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln, während er sie immer noch fixiert. Einen Zauberspruch hat sie auch heute nicht parat.
„... weißt du, im Zusammenleben der Menschen gibt es Regeln und die wichtigste ist, Verantwortung ...“
„Er ist an allem Schuld“, unterbricht er heftig sein Schweigen. Wütend springt er auf Carina zu. Sie zuckt zusammen, ihre Hände werden eiskalt. Mit eingezogenem Kopf sitzt sie auf dem harten Holzstuhl.
„Ein Arschloch ist der“, brüllt er weiter, „meine Mutter war vorher ganz anders. Am Arsch lecken können sie mich. Alle. Meine Mutter. Dieser verdammte Idiot. Das Jugendamt.“
Er setzt sich wieder und beginnt zu weinen.
„Sie bescheißen mich doch,“ sagt er schluchzend.

Nicht wieder weich werden, ihn jetzt ja nicht in den Arm nehmen, wie beim letzten Mal. Das alles hat sie doch schon ein paar Mal erlebt mit ihm. Warum lässt sie sich immer wieder verunsichern? Sie macht sich hier zum Affen. Ihre Hände zittern, als sie sich eine Zigarette anzündet.
Verantwortung. Wie er plötzlich hoch ging bei dem Wort. Ist das das Zauberwort? Unsinn, bei ihm nützt kein Zauberwort. Er dreht sich alles so, wie er es braucht. Und sie hat die Arschkarte. Der Kerl hat es faustdick hinter den Ohren.
Mit unsicheren Fingern schnippt sie die Asche auf den Kippenhaufen, denkt an die Ratschläge ihres Kollegen. Keine Schwächen zeigen, hat Thomas ihr erklärt, sonst fahren sie mit dir Schlitten. Zeig ihnen klar, wo die Grenzen sind. Lass dich nicht duzen. Lass dich auf keinen Fall zu Hause anrufen. Sag ihnen klar, was Sache ist und halte sie auf Distanz. Ganz einfach. Aber all das ist ihr wohl kräftig misslungen.
Das heulende Elend ihr gegenüber beruhigt sich schnell. Keine Träne mehr zu sehen und da ist er wieder, dieser eindringende Blick.
„Nur du kannst mir helfen, Carina“, sagt er und scheint mit seinen Augen fast in sie hineinzukriechen.
„Ich liebe dich.“ Er greift über den Tisch nach ihrer Hand.
Samtpfote, denkt sie und zieht die Hand weg.
Ratlos schaut sie den Jungen an.
„Sascha, so geht das doch nicht, es gibt gewisse Grenzen.“ Worte in den Wind gepustet, das ist ihr im selben Moment klar, als sie ausgesprochen sind. Sie drückt ihre Zigarette auf dem Kippenhaufen aus und steht auf. Langsam geht sie zur Wohnungstür. Dem Thomas würde so eine Episode niemals passieren. Was macht der anders? Was macht sie nur falsch?
„Du liebst mich doch auch“, grölt der Junge ihr hinterher.
„Carinchen.“
Wie ein Hammerschlag trifft sie das.
„Du hast den geilsten Arsch.“
Was hat der gesagt? Mit jedem Wort möchte sie tiefer in den Boden versinken. Sie spürt, wie seine Augen sich an ihrem Po festsaugen. Sie könnte kotzen.
Im Hausflur ist es dunkel. Ihre Finger tasten eine Weile über die raue Wand, bis sie endlich den Lichtschalter findet. Lautes Gepolter auf der Treppe. Einer seiner Mitbewohner kommt ihr entgegen. Frech grinst er ihr ins Gesicht.
„Hi Carinchen, mal wieder Sascha besucht?“
Carina hält sich die Ohren zu. Sie muss sich in Sicherheit bringen. Was für ein Scheiß Job. Sie kann bei den Jungen keinen Blumentopf gewinnen. Was würde Thomas sagen? Mit dieser wachsweichen Tour erreichst du nichts bei den Jugendlichen. Du musst sie härter anpacken.

Sie wirft sich auf das Bett, ihr ist immer noch übel. In ihrem Kopf dreht sich alles. Die Muster auf dem weißen Vorhang wirbeln im Kreis, tausend schwarze Löcher. Härter anpacken. Warum hat sie ihm nicht ihre Meinung ins Gesicht geschleudert? Dass er seinen Arsch nicht hoch kriegt und ein jämmerlicher Versager ist und dass ihr das alles stinkt? Dass sie es satt hat mit ihm? Warum hat sie ihm nicht seinen beschissenen Liebesbrief vor die Füße geworfen und ihm all ihre Gedanken über seine verkrachte Existenz um die Ohren geknallt? Warum ist sie sitzen geblieben, als der Kerl seinen Ausraster hatte? Warum lässt sie sich im Treppenhaus von einem grinsenden Nichtsnutz blöd anquatschen? Warum fällt ihr das alles erst jetzt ein? Warum lässt sie sich all diese Unverschämtheiten gefallen? Carinchen. Du liebst mich doch. Du hast den geilsten Arsch. Wie weit ist es eigentlich mit ihr gekommen?

Ich wate im Sumpfloch und komm nicht raus aus dem Schlamm, denkt sie. Wo kann ich mir einen Rat holen? Da gibt es doch so eine Nummer, bei der man anonym anrufen kann. Und wie kriege ich die? Wie heißt das noch ...? Ich versuche es Mal mit Googeln ...
Leicht zu merken die Nummer. Sie drückt die Tasten. Null Achthundert Eins Eins Eins Null Eins Eins Eins ... Nein, schreit sie in den Hörer, das hilft mir auch nicht weiter. Schluss damit, Schluss mit diesem Scheißspiel. Ich brauche keinen Seelsorger, ich brauche eine Entscheidung.
Warum ist sie nicht schon längst eher darauf gekommen? Sie wählt eine neue Nummer.
„Hallo Thomas, hier ist Carina.“ ... „Nichts ist passiert. Mir ist nur einiges klar geworden.“ ... „Nein, es geht um Sascha.“ ... „Ich warte nicht bis morgen.“ ... „Mit dem Jungen arbeite ich nicht mehr, ganz einfach.“ ... „Weil wir überlegen müssen, wie wir die Betreuung der Wohngruppe neu organisieren. Vielleicht kannst du dir dazu schon Mal ein paar Gedanken machen.“ ... „Die Karre ist im Sand. Er hat bei mir alle Grenzen überschritten.“ ... „Von mir lässt er sich nichts sagen, kapierst du es denn nicht?“ ...“Das ist schwierig, weil er mir nachstellt, anstatt mich als Erzieher ernst zu nehmen. Du hast den geilsten Arsch, hat er zu mir gesagt.“ ... „Rede nicht so einen Scheiß. Nein, ich kann ihn nicht mehr betreuen, auf gar keinen Fall.“ ... „Job aufgeben? Mach dich nicht lächerlich. Ich mach meinen Job und krieg das auch geregelt. Meinst du, ich kann nicht aus Fehlern lernen?“ ... „Klar sage ich ihm das selber. Bis Morgen im Büro. Gute Nacht.“

©Renate Hupfeld 01/2004




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