Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Januar 2004
Freie Zeit
von Christiane Quenel

Es war keine dieser Neu- oder Vollmondnächte. Also waren nicht viele Anrufe zu erwarten.
Das Telefon klingelte gegen halb zwölf. Selma
hattte es sich zur Gewohnheit gemacht, nicht
gleich beim ersten Klingeln abzunehmen. Für die meisten Leute war es nicht einfach, bei der Telefonseelsorge anzurufen. Und es war auch nicht wirklich leichter für die Menschen, die über einen solchen Anruf schon nachgedacht hatten. Sie mussten sich mit dem Gedanken vertraut machen, von dem Ort, an dem sie waren und zu diesem Zeitpunkt hier anzurufen. Andererseits
durfte man die Leute auch nicht zu lange warten
lassen. Ansonsten könnten sie das Gefühl haben,
nicht willkommen zu sein. Zwischen dem dritten und
vierten Klingeln nahm Selma das Gespräch entgegen
und war zufrieden, dass ihre Stimme ruhig und
sicher klang, obwohl sie so lange nicht gesprochen
hatte.

Der Mensch am anderen Apparat holte tief Luft und
machte dann eine kurze Pause.
"Guten Abend, mein Name ist Maria Magdalena
Reimann, und ich rufe aus dem Buchenweg 12 A an."
Bei den ersten Silben hatte die Stimme der alten
Frau noch unsicher und suchend geklungen. Es
stellte sich aber heraus, dass die Stimme an Halt,
Sicherheit und Stärke gewinnen konnte. Und damit
sie sich wirklich willkommen und angenommen
fühlte, begrüßte Selma sie noch einmal, indem sie
sagte: "Guten Abend Frau Reimann."

"Das, weswegen ich anrufe, ist eigentlich keine
große Sache. Für Leute, die so alt werden wie ich,
ist diese Erkenntnis, wenn man so will,
stinknormal. Aber ich hatte gedacht, besser
gesagt, gehofft, dass ich wenigstens langsam
begreifen dürfte. Aber so ist es dann natürlich
nicht gekommen. Vielleicht hatte ich mir auch zu
viel vorgenommen, um in aller Ruhe zu verstehen.
Aber heute abend war es dann so weit. Wissen Sie,
heute ist mein Egon beerdigt worden. Und dann kam
ich nach der Trauerfeier in die Wohnung, alles war
so, wie es immer war, jedenfalls, wenn man es
nicht so genau nam. Aber nach allem, was so
passiert war, blieb mir nichts anderes übrig, es
genau zu nehmen. Irgendwann kann man dann doch
nicht mehr ausweichen. Es ist einfach so, dass
nach über fünfundachtzig Jahren, nach all der
Schufterei für die Eltern und Geschwister, bei der
Arbeit, auf der Flucht, für meine Kinder und Enkel
und für meinen Egon für mich nichts mehr zu tun
übrig geblieben ist, dass ich nicht mehr gebraucht
werde, weil ich verbraucht und alt bin. Und es spielt überhaupt keine Rolle für wen oder für was man seine Kräfte
verbraucht hat, worüber man alt geworden ist. Denn
verbraucht und alt ist und bleibt verbraucht und
alt. Und obwohl ich weiß, dass es ganz genau so
ist, ist es für mich alles andere als egal. Und
was fängt man an, wenn alles verbraucht ist, wofür
man da war?"

Selma spürte die Frau Reimanns Geduld und ließ
sich deshalb Zeit, das, was ihr eingefallen war,
während die alte Frau gesprochen hatte, in ihrem
Kopf zu ordnen.
"Viele Leute ärgern sich darüber, dass Menschen
nur den Bruchteil ihrer Möglichkeiten benutzen.
Aber vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Wenn
man bedenkt, wie viel sich

durch die ständige Nutzung auch verbraucht, ist es
vielleicht sogar ein Glück, dass es nicht so ist.
So ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man
selbst in Ihrem hohen Alter noch etwas finden
kann, womit man etwas neues anfangen kann. Und bei
Ihnen gibt es wirklich etwas, das zwar alt ist
aber kein bisschen verbraucht."
Selma ließ eine Pause entstehen, um Frau Reimann,
die Möglichkeit zu geben, sich zu entscheiden, ob
sie der Spur, die Selma für sie gelegtt
hatte, folgen konnte und wollte. Und schließlich
fragte sie:
"Und was ist das?"
"Ihre Stimme!"
Selma wurde nicht ungeduldig, obwohl es ziemlich
lange dauerte, bis die alte Frau sagte:
"Naja, damit haben Sie etwas gefunden, dass man
selbst schlecht beurteilen kann. Und nicht nur,
weil das so ist, glaube ich Ihnen. Schließlich
gibt es einen Grund dafür, dass meine Stimme
beiweitem nicht so verbraucht ist wie z. B. meine
Knochen. Ich will mich nicht beklagen, aber es ist
so, dass ich nie viel zu sagen hatte, bei meinen
Eltern und Geschwistern nicht, bei meiner Arbeit
nicht, bei meinen Kindern und Enkeln auch nicht
und schon gar nicht bei meinem Egon. Der hat mir
sogar, als er selbst kaum noch sprechen konnte,
mit einem Fingerzeig zu verstehen gegeben, dass
ich gefälligst meinen Mund halten soll, erst
recht, weil er, der von Haus aus das Sagen gehabt
hatte, kaum noch einen Mucks von sich geben konnte.
Wahrscheinlich hätte ich sowieso kaum etwas
gesagt, weil mir kam allein schon der Gedanke,
etwas zu sagen, wie eine Schlechtigkeit vor, so
als würde ich bloß den Mund aufmachen, weil er
dazu kaum noch in der Lage war. Ich hatte das
Gefühl, dass ich ihm damit etwas weggenommen
hätte, was ihm, nur ihm zugestanden hatte."
"Aber jetzt ist es auf natürliche Weise
beschlossene Sache, dass er ausgesprochen hat, Sie
aber noch allerhand zu sagen haben. Mit dem, was
Sie zu erzählen haben, verhält es sich
wahrscheinlich ähnlich wie mit ihrer Stimme. Sie
haben eine lange Geschichte, aber die
ist noch unverbraucht, weil sie selbst von ihr
noch keinen Gebrauch gemacht haben. Und
vielleicht, wenn Sie von ihrer Geschichte Gebrauch
machen, sie erzählen oder aufschreiben, finden sie
noch mehr, was Ihnen zu tun übrig geblieben ist,
oder was sie schon immer mal für sich selbst, von
sich aus tun wollten."
"Was meine Lebensgeschichte betrifft, haben Sie
sicherlich auch recht. Aber, was fange ich
praktisch mit einer unverbrauchten Stimme und
einer unverbrauchten Lebensgeschichte an? - Also,
das ist so. Aufschreiben kann ich eigentlich
nichts mehr. Das machen die Hände nicht mehr mit.
Und erzählen? - Ich kenne niemanden,, der sich das
anhören würde. Selbst meine Enkel haben sich auf
meine Geschichte sozusagen, ihren eigenen Reim
gemacht und sind zufrieden mit dem, was sie über
mich wissen. Und die alten Leute, die ich so
kenne, hören sich am liebsten selbst reden, und
sie sind gute Bekannte von meinem Egon. Es mag ja
sein, dass ich noch ein brauchbares Stimmvermögen
habe, aber gegen die Maulhelden traue ich mich
nicht an. Und ich kann mir doch nicht selbst
meine Lebensgeschichte erzählen. So vor mich
hinredend, müsste ich mir ja senil vorkommen. Und
bei dem, was ich so erlebt habe, komme ich
bestimmt durcheinander mit dem, was ich schon
erzählt habe und wovon ich noch sprechen muss.
Damit ich zurechtkäme, müsste ich meine Erzählung
irgendwie aufzeichnen oder sogar filmen. Und dafür
bin ich nicht ausgerüstet. Ich habe nur was, um
Kassetten und diese CDs abzuspielen. Das Teil, in
dem auch ein Radio ist, habe ich geschenkt
bekommen. Aber bisher hat mein Egon darauf immer
seine Jodelmusik abgespielt, von morgens bis
abends. Für mich klangen diese Lieder ja schon immer wie
Hunde, die eine Halskrankheit haben. Ich höre ja
lieber Seemannslieder. Ich komme aus Danzig und
mein Großvater war noch ein richtiger Seemann. Das
war auch so was, worüber mein Egon immer wieder
gelästert hat. - Von wegen, in jedem Hafen eine
andere Braut und so was. Aber ich schweife zu sehr
ab."
Beiden Frauen war an diesem Punkt klar, dass Frau
Reimann sich, als sie in einem Satz von ihrem
Großvater und ihrem Egon gesprochen hatte, zum
Erstenmal fragte, warum sie ein Leben lang mit
ihrem Egon zusammengeblieben war. Und sie sprach
überhaupt nur von ihrem Egon, damit nicht auffiel,
dass sie eigentlich mit Haut und Haar seine Maria
Magdalena gewesen war, und das dies zu keinem
Zeitpunkt in Ordnung gewesen war.
„Ja, ich bin bei ihm geblieben. Ich hab` von frühauf nichts anderes gelernt, als mich ohne Murren für andere abzurackern. Mein Vater war ein verdammt harter Kerl, mit Scchimpfen, schlagen und auch treten. Aber ich muss sagen, der egon hat meinen Vater nicht einfach abgelöstt. Der Egon hatte auch noch ganz andere Sachen drauf, um mich gefügig zu halten. - Anschweigen, Nichtbeachtung, bis mich das schlechte Gewiisen gepackt hat, und ich wieder ordentlich funktioniert habe.“

Frau Reimann machte Pause, obwohl sie wusste, was
sie noch zu sagen hatte. Aber schließlich sagte
sie ganz offen:
"Wenn Sie nicht wissen, was ich genau machen
soll, mit meiner Stimme und meiner Geschichte.
Dann war alles, was wir bis hier besprochen haben,
nichts weiter als eine gut gemeinte Idee."
"Ja, und das wäre absolut bitter, weil es dann
genauso wäre, wie es leider allzu häufig ist: das
Gegenteil von gut ist gut gemeint. Ich weiß, dass ich solche Verabredungen in der Bereitschaft
Nicht treffen darf, Aber das kann Ihnen egal sein. Aber
ich habe sowohl die Möglichkeit, Ihre Geschichte
auf Kassette aufzuzeichnen, als auch das Interesse
an Ihrer Geschichte. Wenn es Ihnen recht ist,
besuche ich sie einfach und höre mir Ihre
Geschichte an."
"Und das würden Sie wirklich für mich tun?"
"Ich mache es für Sie und mein Interesse an
Geschichten. Am liebsten ist es mir, wenn man sich
am Abend trifft, man sitzt oder liegt gemütlich in
einem Zimmer, ringsherum ist es weitgehend still
und dunkel und jemand erzählt, was ihm oder ihr so
begegnet ist."
"Aber ich kann Ihnen doch nicht derartig die Zeit
stehlen!"
"Sie stehlen mir die Zeit nicht. Die Sache ist
nämlich so. Auch ich werde nicht gebraucht. Ich habe ja keine Familie und bin seit drei Jahren ohne Arbeit. Und
das, was ich hier tue, ist für mich dazu da, mir
sinnvolle Arbeit zu verschaffen. Und so viele Stunden sind es
leider auch nicht."
"Also sollten wir uns verabreden und zwar so bald
als möglich. Denn wer weiß schon ... - Und
vielleicht verlässt mich ja der Mut, wenn zu viel
Zeit über meiner Entscheidung vergeht. Aber
Dunkelheit und Stillemachen mich schon sicherer,
so wie das bei den Katzen auch ist. Meine Kinder
mochten mir früher aber so nicht zuhören. - Wie
früh ich bei ihnen mit dem einfachen Wort schon
nicht mehr angekommen bin! - Wie wäre es denn mit
morgen Abend gegen acht Uhr?"
"Ich werde zu Ihnen kommen. Ihre adresse haben Sie
mir ja gegeben."
"Aber, bevor sie auflegen, bleibt mir doch noch
etwas übrig, was ich Ihnen sagen muss."
Sie machte eine Pause:
"Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber
die wenigen Minuten, die wir miteinander
gesprochen haben, das Gespräch mit Ihnen war die
einzige, freie Zeit meines Lebens."
Selma legte den Hörer auf. Sie ließ die Verbindung von Stille und Dunkelheit auf sich einwirken. Die Tür der zweiten Kabine ging auf und Simone, die auch Nachtdienst hatte, kam in Selmas Arbeitsraum. Sie schaltete das Licht ein.
„Blindheit schützt vor dem Lichtmachen nicht! – Hast du nicht erzählt, wie du das als soziale Regel gelernt hast?“
„Ich habe mich heute nicht daran gehalten.“
„Warum denn nichtt?“
„Damit sich Dunkelheit und Stille verbinden können. – Kennst du das nicht? Man liegt abends ganz still im Bett, ringsum ist es dunkel und man spricht miteinander. Und meistens ist es besser, konzentrierter, siich so zu unterhalten.“
„Aha! – Kann aber wirklich sein.“
Moonika zündete sich eine Zigarrette an.
„Du bist ganz anders!“
„Dann ist ja alles normal. Schließlich sagt ihr mir immer, dass ich ganz anders bin.“
„Heute bist du noch gan anders als gewöhnlich.“
„Wie dem auch sei. Morgen melde ich mich vom Dienst ab, für immer. Die beiden Pflichtjahre habe ich ja längst hinter mir.“
„Du bist heute irgendwie so aufgeräumt. – Frisch verliebt? – Jemandem das Leben gerettet?“
„Nicht eigentlich. Aber ich weiß jetzt, was ich machen will, Geschichten sammeln, ausführliche Geschichten.“
„Was ist passiert? Du kansnst doch nicht einfach so mir nichts dir nichts aufhören. Du weißt doch, dass wir immer unterbesetzt sind. Außerdem ist das Spontane, eh, die plötzlichen Entscheidungen, doch gar nicht deine Art! Also, um drei Teufels Namen, was ist da passiert?“
„Eine alte Frau, die sich zunächst vollkommen verbraucht und deshalb überflüssig gefühlt hat, hat zu mir am Ende des Gesprächs gesagt, dass die Zeit, in der wir mit einander gesprochen haben, die einzige freie Zeit ihres Lebens gewesen ist. Und ich hätte fast geglaubt, an das Zeug, das ihr immer so hochgestochen von euch gebt, von der Unfreiheit der menschlichen Kommunikation durch die gegenseitige Erwartungshaltung usw.“


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