Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
„Eheprobleme, Probleme mit Eltern und Kindern, allgemeine Lebensberatung, völlig anonym und kostenlos, rund um die Uhr.“ Aha.
Eheprobleme. Habe ich welche? Nö. Aber wenn ich`s mir recht überlege… Er will Sex, und ich will nach Paris. Sex in Paris kommt nicht in Frage. Warum, wissen wir beide nicht. Keiner von uns ist irgendwie auf die Idee gekommen, das auszudiskutieren. Ein Problem. Er meint, ich sollte seinem Lendenbereich mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich meine, er sollte mich als eigenständiges gleichberechtigtes Wesen akzeptieren. Ein Wesen, das ab und zu Kopfschmerzen hat.
„Mit Kopfschmerzen fährt man nicht nach Paris“, wendet er ein.
„Dann habe ich keine“, kontere ich.
Schweigen. Anschließend verlässt er schnaufend das Zimmer und hinterlässt bei mir das bittere Gefühl der Aussichtslosigkeit. Wie oft habe ich es versucht, diesem Menschen zu erklären, was ich bin und was ich will. Nie hat er mich verstanden, ja, er hat eigentlich nie richtig zugehört. Irgendetwas mache ich falsch. Aber was? Ich greife zum Hörer, meine Hände zittern ein wenig. So etwas mache ich zum ersten Mal. Nee, im Ernst: warum tu ich das jetzt? Ist doch lächerlich, deswegen eine Seelsorge anzurufen! Ausgerechnet ich, ausgerechnet jetzt? Egal. Ich rufe die Leute an, basta!
„Katholisch“ oder „Evangelisch“? Welche Seelsorge soll ich nehmen? Eigentlich sind wir katholisch. Was kann ein katholischer Priester zum Thema „Sex“ sagen? Na ja, wollen wir mal sehen.
Auf dem Display erscheint: „0800-… wählt.“ Dann: „Besetzt.“
„Vielleicht ein Notfall“, denke ich und lege auf. In der Tür baut sich Helmut, mein Mann, auf. Sein Gesichtsausdruck lässt keine Zweifel übrig, dass es auch bei uns gleich einen Notfall geben wird.
„Wann gedenkst du, mit den Kindern Klavier zu üben?“ giftet er.
Ach ja, Kinder. Wie war das noch: „Probleme mit Eltern und Kindern?“ Meine Große hängt im Englischunterricht durch, meine Mittlere kann nicht rechnen. Mein sehnlichster Wunsch ist, im Zwischenzeugnis ein „Ausreichend“ stehen zu sehen - keinen Vermerk „Versetzung gefährdet“ und auch nicht „Gespräch erwünscht“. Was sage ich nun dem Lehrer? Dass ich selbst kein Englisch spreche? Oder, dass ich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr denselben Albtraum hatte, nämlich meine Algebraprüfung?
Ich habe versagt. Tränen stehen mir in den Augen. Ich taste mich durch diesen feuchten Nebel zum Telefon und drücke „Wahlwiederholung“. Wie ein Orkan Stärke fünf fegt meine Kleine an mir vorbei, stolpert über das Kabel und reißt es samt Steckdose aus der Wand. Die Leitung ist tot.
Ich fahre mir mit der Hand über die Augen, dann unter die Nase, wische die Hand anschließend an meiner Jeans ab und krieche unter den Schrank, um den Schaden zu begutachten. Ein Schraubenzieher muss her. Wo habe ich zum letzten Mal dieses komische Ding, wie hieß es noch? - „Set für Feinmechanik“ - gesehen? Keine Ahnung. Helmut ist verschwunden, aber er weiß es mit Sicherheit auch nicht. Er weiß nie etwas!
Ich geistere durch die Wohnung auf der Suche nach dem lebensrettenden Schraubenzieher. Diese Kleine. Neulich hat sie ihren Teller mit der Suppe umgestoßen. Die Aufräumaktion in der Küche nahm die ganze Zeit in Anspruch, die ich eigentlich für ein nächstes tief greifendes Gespräch mit meinem Gatten eingeplant hatte.
A propos, Küche. Da ist es, das Set! Unter den leergegessenen Plätzchenverpackungen begraben.
Ich schraube die Steckdose wieder zusammen. Jetzt kann ich endlich anrufen und für meine angeschlagene Seele sorgen lassen. Besetzt. Anscheinend sind es heute viele, die keinen Ausweg mehr sehen.
Mein Blick fällt auf die Zeitung, die auf dem Tisch liegt. Ein buntes örtliches Blatt mit Klatsch und Tratsch aus der Region. Wir finden dieses bescheuerte Blatt jede Woche in unserem Briefkasten. Unaufgefordert, unausweichlich. Manchmal habe ich das Gefühl, ich ersticke bald unter der Flut der weltbewegenden Neuigkeiten über entlaufene Köter, entwendete Einkaufstaschen und Elternabende im Kindergarten, die das Thema „Traumatische Kindheitserlebnisse und moderne Kunst“ haben. Normalerweise machen wir mit Hilfe dieses Blattes Feuer in unserem Kamin. Um, sozusagen, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen, und überhaupt …
Nur nicht heute. Ich blättere die Seite um. Hier! „Lebenshilfe – völlig kostenlos, Sie zahlen nur das Telefongespräch.“ Meine Brille sitzt schief, ich rücke sie zurecht: „1,86 Euro/Min.“ Ich starre zur Decke und rechne aus, wie viel Zeit ich brauchen werde, um alles mit Helmut und Paris, mit Englisch und Mathe, mit der Küche und dem Set für Feinmechanik im Küchenschrank zu schildern. Die Paneele auf der Decke müssen übrigens auch von den Spinnweben befreit werden. Was bei dieser Rechnung herauskommt, stürzt mich in eine noch größere Krise.
Bleibt nur das Internet. Eine Welt, fern von Bergen ungebügelter Wäsche, von Schokolade unter Kinderkissen, Kontoauszügen im Briefkasten und Hundehaaren auf der Zahnbürste. Eine Welt, wo ich zuhause bin.
Google. Gesucht wird: „Die Seelsorge online.“ Ja-a-a! Tausend und Abertausend Suchergebnisse. Ich klicke mich durch.
„Bitte geben Sie Ihre Postleitzahl an, damit wir Ihre Nachricht an die zuständige Beratungsstelle weiterleiten können.“ Hm.
„Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir an Sonn- und Feiertagen keine Beratung vornehmen können.“ Noch besser.
„Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir bei deutlicher Selbstmordgefährdung Ihre Daten weitergeben müssen (Strafgesetzbuch – unterlassene Hilfeleistung).“ Soll ich mich etwa umbringen, damit irgendetwas passiert? Ich gebe auf. Der blaue Bildschirm verabschiedet sich fröhlich und ich schleppe mich ins Wohnzimmer.
Das Telefon. Ich wähle die Nummer meiner Freundin.
„Hi“, zwitschert sie. „Lust, vorbeizuschauen?“.
Habe ich. Mit der Schachtel Pralinen, die es geschafft hat, in diesem Haus zu überleben, und einer Flasche Rotwein in den Händen kehre ich meiner Familie den Rücken zu. Ich habe es eilig. In wenigen Minuten geht die Seelsorge los.
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