Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Januar 2004
Falsch verbunden
von Elsa Rieger

„Telefonseelsorgedienst, guten Abend. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Wer ist dort? Aha, Sie sind ein freiwilliger Helfer. Nein, ich würde gern mit dem Chef sprechen. Ja richtig, dem Pastor.
So ... er telefoniert nicht ...
Nun, es geht um schwerwiegende Dinge, die kann ich nicht einfach ... verstehen Sie? Könnte man eine Ausnahme -?
Gibt es eine Telefonnummer, wo ich ihn doch - ?
Mhm. Sie meinen, Sie würden ihm alles berichten, was ich zu sagen habe? Wie wollen Sie das machen, Wort für Wort? Sie lassen ein Tonband - ja, nun dann müssen wir es wohl ...
Es ist wirklich sehr wichtig, verstehen Sie?
Gut, dann werde ich mit Ihnen sprechen. Haben Sie das Tonband an? Ja. Gut ...
Sie sind ein religiöser Mensch, sonst würden Sie diese Arbeit nicht tun, nicht wahr? Ja, natürlich... Sie glauben an Gott – zsss und dieses ganze Himmel und Hölle Zeugs?
Wie bitte - also ich höre Sie klar und deutlich ... etwas in der Leitung, meinen Sie? Das denke ich nicht, nein. Also Sie glauben an das alles, ja?
Nein, ich will damit nichts Spezielles sagen, möchte es bloß wissen.
Selbstverständlich kann man auch Higher Power sagen, oder das Universum -
Ja, Sie sagen lieber Gott - zssss ... in Ordnung ... also ich fange jetzt an, ja?
Vergessen Sie nicht das Tonband, es ist mir viel daran gelegen ... haben Sie’s?
Eingeschaltet, meine ich, fein ...

Sehen Sie, ich habe da ein großes Problem. Seit Monaten fliege ich durch diese Welt – übrigens, Ihre Flugzeuge sind ja wirklich etwas fantastisches, wie ich beobachten konnte, wissen Sie, wie schnell die Menschen da auch schon von A nach B gelangen, verblüffend, beinahe so rasch wie ich ...
Nun, also ich fliege da seit Monaten in der Gegend herum, ich war jetzt praktisch überall und finde es nicht. Wie? Bitte haben Sie etwas Geduld, ich muss ein wenig ausholen, um Ihnen meine Notlage verständlich zu machen ...

Wissen Sie, ich habe mir da so Planquadrate auf den Planeten gezeichnet, damit ich keine unnötigen K – zssss - Kreu - zssss hach! Kreuz- und Querflüge mache - Wie? Schon wieder eine Störung? Nein, ich habe nichts gehört – nein.
Ja? Nun warten Sie doch, ich bin noch nicht so weit –
Doch! Es ist durchaus mein ganz persönliches Problem, nein, ich weiß schon, wofür Sie zuständig sind, es ist mir vollkommen bewusst. Ich bin zwar reichlich alt, doch leide ich keineswegs an getrübter Wahrnehmung.
Sie sind für Hilfesuchende da, geben ihnen Beistand, Mut und das alles im Namen Gottes – zssss. Und nun gewähren Sie mir Ihr offenes Ohr, darum bitte ich Sie.
Wo ich auch hinkam, ob das nun Frankreich war, Belgien, Deutschland oder Österreich – nichts. Gar nichts. Überall das Gegenteil meiner Erwartungen, ehrlich gesagt, ganz Europa ist zu vergessen.
Asien? Ein Sumpf, ich meine, diese ganze Kinderprostitution, ich bitte Sie! Allein die Kinderarbeit, da frage ich mich schon, wo bleibt da die Menschlichkeit? So etwas kann nicht einmal ich goutieren, obwohl es mir keineswegs an diesbezüglicher Kreativität mangelt ... auf so etwas muss man mal kommen ...

Afrika, Gott – zssss - im Himmel - zssss, bitte- ?
Ach, hören Sie doch auf damit, Sie wollen mich wohl loswerden, ja? Ich sage Ihnen, es ist niemand in der Telefonleitung außer uns beiden, seien Sie bitte nicht so irritierend, es ist von eminenter Bedeutung für mich, dass Sie mir zuhören –

Russland, nehmen wir Russland, gott – zssss - serbärmlich - zssss, kann ich Ihnen sagen, die Leute dort essen buchstäblich den Kitt aus den Fenstern. Ein Scherz meinerseits, doch trifft er gut den Sachverhalt. Was das ist? Kitt, das ist Ton, mit ihm wird das Glas im Fensterrahmen festgeklebt. Ja, Sie sind ein junger Mensch, Sie kennen nur Silikon. Egal.
Wo auch immer ich hinkam - nichts, nada, niente, nothing, rien, sage ich Ihnen. Dramatisch ist das für mich, wirklich dramatisch ... doch so schnell wollte ich nicht aufgeben und bin weiter nach Amerika. Allmählich ging mir dieses Herumgefliege auf die Nerven, vor allem, weil auch dort keine Chance war, zu finden, was ich suche ... wie? Nein, das Fliegen hat mich nichts gekostet, außer vielleicht meine Nerven wegen der enttäuschenden Ausbeute. Wie das möglich ist bei so viel reisen? Nun, ich habe da gewisse Privilegien um gratis von da nach dort- doch wir schweifen ab, nicht wahr?
Wie gesagt, auch im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten schlecht ... sieht sehr schlecht aus dort drüben, weniger als nichts von dem, was ich suche ...

Bitte? Was dieses Nichts eigentlich sein soll?
Haben Sie mich denn immer noch nicht verstanden? Begreifen Sie nicht, wieso ausgerechnet ich mich an Ihre Institution, an die Kirche wende?

Keine guten Menschen mehr! Es gibt so gut wie keine mehr, das ist ein Faktum! Der Anteil ist verschwindend gering geworden, zwanzig Prozent höchstens nach meinen letzten Berechnungen! Achtzig Prozent der Seelen dieser Welt sind verseucht mit Superbia, Avaritia und dem ganzen Zeug, ist das nicht grauenvoll?
Wie bitte -?
Welche Krankheiten das sein sollen, fragen Sie? Sagen Sie, bibelfest sind Sie wohl wirklich nicht, was? Bei Ihrer Tätigkeit da sollten Sie Gottes - zssss Wort schon kennen. Sie hören mich doch? Na eben, dann hören Sie auf mit diesem gestörte Leitung Ding.
Diese Krankheiten - wie komisch, Krankheiten! - heißen in Ihrer Sprache Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei und Überdruss. Ich spreche von den Todsünden, die übrigens Sie, also nicht Sie persönlich, die Kirche erfunden hat! Achtzig Prozent, sage ich Ihnen! Wie jetzt?
Sie können das nicht glauben? Sie, Sie ... Gutmensch, Sie!

Die Kinder? Ha! Da kann ich nur lachen! Nein, ich schreie überhaupt nicht, mein Lachen ist eben so, verzeihen Sie.
Die Kinder, sagt er!
Eure Erben verpassen sich den Schuss im Schulklo, stimmen sich ein auf ihr Lebensniveau. No Future, wenn Sie wissen, was ich meine! Bitte? Für Sie mag das möglicherweise überspitzt klingen, doch so sieht das leider aus.

Machen Sie die Augen auf, Kruz- zssss - ifix - zssss – zum Teufel noch einmal!
Äh ... da sehen Sie, wie nervös ich schon bin ... Ja -? Weil ich schon gar nicht mehr weiß, was ich sage, wie Sie vielleicht bemerkt haben.
Ich weiß schon, die Armut wächst, Sie brauchen mich nicht zu belehren. Ich habe alles genau notiert, glauben Sie mir.
Jene, die noch Arbeit haben, sind ausgebrannt, werden gemobbt, schweigen aber, buckeln nach oben in die Chefetagen und treten nach unten in die Kollegenschaft. Abends in der Kneipe wird Alkohol getrunken – bis zum Abwinken, wie ihr hier sagt - dann heimgetorkelt, ein wenig die vorwurfsvolle Frau geprügelt, sich danach in ihrem Schoß entladen und frustriert einschlafen.
Selbstverständlich wird auch im High Establishment herumgeprügelt, gesoffen und so weiter, doch findet das nicht so offensichtlich statt, damit das Gesicht gewahrt bleibt. Die interessieren mich auch nicht sonderlich, denn sie sind die Minderheit. Mir geht es um die Masse, wissen Sie? Für mich zählt die Menge, die ist mein Problem.
Was ich damit zu tun habe, fragen Sie? Nichts! Ich schwöre es Ihnen!
Des Menschen Willen ist sein Himmelreich, nicht wahr? Unsereiner stellt nur die Locations für später zur Verfügung, oben oder unten - je nachdem ... nein ... nein ... ich mache nicht in Immobilien, leider. Ha, das würde wahrlich einige meiner Schwierigkeiten beenden ...

Aber was tun Sie? Ja, Ihren Verein meine ich. Die Kirche könnte wirklich allmählich überlegen, sich wieder etwas populärer zu machen! Der Stellenwert der kirchlichen Einrichtungen ist heutzutage im Grunde nicht mehr erwähnenswert.
Glauben Sie mir, früher hätte ich gejubelt, wahre Freudentänze aufgeführt angesichts dieser Entwicklung! Lange Zeit vor der Bevölkerungsexplosion, als Sie die Menschheit noch fest an der Kandare hielten. Ereignisse wie die Inquisition zum Beispiel – diese im Namen der Kirche hingerichteten vermeintlichen Freunde des Bösen haben das Gleichgewicht nicht gestört, ganz im Gegenteil. Wohl dachte die Kirche ... nun, sie irrte ... Kurzum, ich sage, das muss gestoppt werden! Wie? Das Programm attraktiver gestalten. Es wird Ihnen doch eine gute Public Relation Aktion einfallen können, um diese Masse wieder auf Ihre Seite zu bringen?

Denn diese Millionen Armen - meinen Sie das ernst: Gott - zssss wird sich ihrer erbarmen? Wenn Sie es schon nicht tun? Das wäre ja mein Anliegen, meine Bitte, nicht wahr? Deswegen wende ich mich doch an Sie!
Solange ihnen nichts anderes übrig bleibt, als zu stehlen, sich und ihren Nachwuchs zu verkaufen, interessiert das den Herrn – zssss - da oben herzlich wenig, um nicht zu sagen, einen Scheiß, wie ihr das ja heutzutage ausdrückt.
Die Kirche hat da reichlich Handlungsbedarf, mein Herr, reichlich!

Arm und reich klaffen auseinander, Mittelstand gibt es kaum mehr. Wie gesagt, ein großer Rückschritt in dem angeblichen Fortschritt ...
Globalisierung? Pardon, wenn ich lache. Dann halten Sie den Hörer eben weiter weg von Ihrem Ohr, wenn mein Lachen schmerzt!

Hören Sie, so hören Sie doch, ich bitte Sie inständigst um Ihre Hilfe! Ich sehne mir mein Heim zurück, wie es einst war. Und darin liegt eben die Schwierigkeit ...
Ja, ja, ich bin noch da, die Trauer übermannte mich.
Verzeihen Sie, ich weiß, ich werde pathetisch ... kein Wunder in meiner prekären Situation, kein Wunder ...
Warum ich traurig bin? Aha, ich merke, Sie sind jetzt in Ihrem Metier, Sie möchten mir helfen. Sie möchten mir wirklich helfen? Alles würden Sie tun, damit ich Ihnen endlich sage, was ich brauche?
Ich will mein Zuhause wieder haben, wie es war! Was dort los ist?
Die Hölle ist dort los! Ich bin total überbelegt, es gibt zu wenig Platz für diese vielen Sünder, und ich sage Ihnen, es werden täglich mehr! Ich kann nicht mehr, verstehen Sie?

Wie, was das mit der Menschheit zu tun hat? Na, hören Sie mal! Haben Sie es immer noch nicht begriffen?
Die Welt ist dem Teufel zu böse geworden, Herr Gott - zssss noch einmal! Ich - hallo? Wie, falsch verbunden ... hallo? Hallo!
Na großartig, aufgelegt. Nichts bewirkt, Herr Go - , nein!
Es reicht, ich habe mir eben genügend Brandlöcher geholt.“

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