Der Tod aus der Teekiste
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"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Februar 2004
Die feinen Sitten
von Monique Lhoir

Evi von Strehlow brachte ihren Sportwagen mit quietschen Reifen vor dem Eingang zum Stehen, stellte das Radio ab und sprang aus dem Auto. Mit Schwung warf sie die Tür zu und raste zum Hauseingang.
„Rosi, ist Großmama schon da?“, rief Evi durchs Haus.
„Frau von Strehlow ist in der Bibliothek. Aber Evi, wie siehst du denn aus, du solltest dich erst mal tüchtig duschen, bevor du zu deiner Großmutter gehst. Und diese Hosen! Zieh dir ein ordentliches Kleid an, so besucht eine junge Dame nicht ihre Großmutter.“ Rosi, der gute Geist des Hauses, blickte mit einem Geschirrtuch in der Hand kopfschüttelnd hinter Evi her.
„Ach was, das kann ich auch noch später machen!“ Evi stürmte die Stufen zum ersten Stock hinauf. „Ich habe sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen und mich den ganzen Tag darauf gefreut.“ Dann riss sie die Tür auf.
„Großmama, wie schön, dass du da bist!“ Sie lief auf die alte Dame zu und umarmte sie.
„Nun erdrücke mich doch nicht gleich!“ Therese lachte. „Lass dich doch erst mal anschauen.“
Evi ging ein paar Schritte zurück und drehte sich im Kreis. „Na?“, fragte sie, „und was sagst du?“
„Groß bist du geworden und fast schon im heiratsfähigen Alter.“
Evi rümpfte die Nase. „Besuchst du uns, um mich zu verheiraten?“
„Nein, nicht gerade. Aber dein Vater hat mich gebeten herzukommen, um einen guten Einfluss auf dich zu nehmen. Er meinte, du wärest zu wild und in der letzten Zeit etwas schwierig.“
„Ich kann mir schon denken, warum.“ Evi nahm sich einen Keks aus der Schale. „Ich soll Heinz-Werner heiraten, aber ich liebe ihn nicht und ich will ihn auch nicht. Nun hofft Vater, dass du mich überredest, nicht wahr?“
„Ach Evi.“ Therese seufzte. „Du musst das anders sehen. Die Ehe ist eine Kulturinstitution, in der sich die gegenseitige Ergänzung der Geschlechter dauernd vollzieht. Und unsere Firma und die Firma von Heinz-Werners Vater sind auch so eine sinnvolle Ergänzung. Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn ihr auch noch gleiche Interessen hättet, aber auch gegenseitige, persönliche Wertschätzung kann zu einem dauerhaften Erfolg einer solchen Verbindung führen. Viele so geschlossenen Ehen sind glücklich geworden und haben Jahrzehnte gehalten.“
„Komisch, dass die Leute nicht vor Langeweile gestorben sind“, erwiderte Evi boshaft. „Aber sie haben sich ja anderweitig beschäftigt. Die Männer belagerten Bordells und die Frauen erzogen frustriert die Kinderschar. Nein danke, Großmama, nichts für mich.“
„Aber Evi“, entrüstete sich Therese, „darüber redet man nicht. Eine junge Dame wie du hatte zu meiner Zeit nicht einmal Ahnung von solchen Dingen.“
„Wovon hatte sie dann Ahnung?“
„Natürlich von der Haushaltsführung. Ohne den Mann ist die Frau nichts. Ihre Erfüllung findet sie nur an der Seite ihres Mannes. Er ist es, der sie leitet, stützt und ihre Persönlichkeit entwickelt. Er ist ihr Herr, sie hat ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er ist nicht nur der Mann und somit Vertreter des stärkeren Geschlechts, er ist auch gebildeter, klüger und in politischen sowie geschäftlichen Dingen erfahrener. Vor allem ist er der Ernährer und Erhalter der Familie.“
„Wo hast du das denn her?“ Evi staunte. „Da kennst du aber Heinz-Werner schlecht. Der ist weder starkes Geschlecht noch in irgendwelchen Dingen erfahren, höchstens am Spieltisch oder beim Saufen.“
„Du redest von deinem zukünftigen Ehemann.“ Therese drohte Evi schelmisch mit dem Gehstock.
„Nein, ich rede nicht von meinem zukünftigen Ehemann.“ Evi stand auf und ging zum Fenster. „Und im übrigen werde ich überhaupt nicht heiraten.“
„Natürlich wirst du heiraten. Eine kluge Frau treibt ihm seine Allüren aus.“ Therese von Strehlow lächelte. „Sie behandelt ihn liebevoll und wischt ihm die Sorgen von der Stirn. Und vor allem spricht sie nicht über ihre Probleme mit Außenstehenden. Sie trägt, was sie tragen muss, in Demut und Liebe.“
Evi starrte ihre Großmutter an. „Omi, so kenne ich dich gar nicht. Du wirst doch wohl nicht mit fünfundachtzig noch senil? Immerhin warst du es, die jahrelang ohne Mann ihr Leben gemeistert hat. Und Heinz-Werner, der hat höchstens einen Tritt in die ...“
„Eva-Maria!“ Therese von Strehlow sah ihre Enkelin strafend an, dann stand sie mühsam auf, stützte sich auf den Stock und holte ein Päckchen aus ihrer Handtasche. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie, wickelte es aus und überreichte Evi ein in Leinen gebundenes Buch. „Ich habe es von meiner Großmutter zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen und nun gebe ich es weiter.“
Evi nahm das Buch entgegen und schlug den Deckel auf. „Die Bestimmung und Veredelung der Jungfrau – ihr Verhältnis als Geliebte und Braut“, las sie vor. Dann blätterte sie weiter. „Berlin 1847. Omi, das ist hundertfünfzig Jahre her. Und was heißt Veredelung. Ich bin doch keine Pflanze.“
„Komm, setz dich zu mir“, sagte Therese und humpelte zu ihrem Sessel. „Ich möchte mit dir reden.“
Evi seufzte, doch dann holte sie sich einen Stuhl und ließ sich neben ihrer Großmutter nieder.
„Du weißt“, sprach Therese weiter, „dass sich dein Vater Gedanken um dich und das Unternehmen macht. Du bist die einzige Erbin. Sein ganzes Leben und seine Kraft hat er in den Aufbau der Firma gesteckt. Nun sieht er die einzige Chance in einer Heirat, damit es weitergeht. Er ist müde und alt geworden. Er will dich versorgt wissen.“
„Aber Omi, das kann ich doch allein.“ Evi blätterte in dem Buch und begann zu lachen. „Das ist doch wohl ein Witz! ‚Die Qualifikation des Weibes für das Berufsleben ist davon abhängig, dass es sich an scharfes, logisch strenges, klares Denken gewöhne, dass sie jene Energie des Geistes sich erwerbe, die das schwache Geschlecht leider häufig sehr vermissen lässt.’ Sag mal, welcher Idiot hat denn das geschrieben?“
Therese von Strehlow lachte ebenfalls. „Ja Evi, da hast du dir ja gleich das Passende rausgesucht. Diese Stelle hat mich schon vor sechzig Jahren sehr interessiert. Lies mal weiter.“
Evis Augen blitzten und sie sah ihre Großmutter spitzbübisch an. „’Mit diesem Mangel an geistiger Energie hängen manch geistige Schwächen zusammen, die der Frau und ihrer Familie sehr verhängnisvoll werden können. So der Mangel an Pünktlichkeit und ganz besonders die Vergesslichkeit.’ – Aha, Alzheimer dichtet man den Frauen auch noch an.“ Evi sah kurz auf und las dann weiter: „’Manche unangenehme Szene, manch schweres Gewitter wurde dadurch heraufbeschworen, dass das Weib ein Dutzend Mal vergaß, was man ihr ein Dutzend Mal einschärfte. Der Geist war eben zu schlaff, um die Gedanken zusammenzuhalten.’" Evi legte das Buch beiseite. „Nein Omi, mit diesen Argumenten kannst du mir nicht kommen. Das ist völlig veraltet.“
„So wurde ich erzogen. Und so veraltet ist es gar nicht. Überlege mal, in wie vielen Fällen noch heute so gedacht wird.“ Therese nahm einen Schluck Kaffee. „Immer noch werden die Frauen geringer bezahlt als die Männer – bei gleicher Arbeit versteht sich. Frauen in Führungspositionen sind ebenfalls rar und wenn die Kinder vernachlässigt werden, wem wird das zur Last gelegt? In erster Linie der Mutter – selten dem Vater. Und dabei sind es zunehmend die Frauen, die durch ihren Verdienst die Familien ernähren und zusätzlich ihre Kinder allein erziehen. Damals war es noch schlimmer.“
„Und wie hast du es dann geschafft, dich in der Welt der Männer zu behaupten und das Unternehmen so lange allein zu führen, bis Vater erwachsen war?“
„Tja, Evchen, das war gar nicht so leicht. Ich zog die langen, unbequemen Röcke aus und dafür Hosen an. Ich kniete mich in die Arbeit, lernte zu verhandeln und zu kalkulieren, aber auch zu schimpfen wie ein Mann. Aber es waren harte Jahre. Und meine Mutter, also deine Urgroßmutter, hat getobt und sich geschämt.“
„Aber du hast doch gearbeitet! Was ist daran beschämend? Und du hast es geschafft, obwohl du eine Frau bist. Und ich sage dir, Omi, ich werde es genauso schaffen – und zwar ohne Heinz-Werner. Die Zeiten haben sich eben doch geändert.“
Frau von Strehlow zog eine Augenbraue hoch. Evi musterte die alte Dame. Die kleine, schlanke Figur steckt in einem schlichten schwarzen Kleid mit einem weißen Spitzenkragen, der von einer Brosche verziert wurde. Ihr silbrig glänzendes Haar war sorgfältig frisiert und trotz ihrer fünfundachtzig Jahre saß sie mit einem beachtlich geraden Rücken in dem großen Sessel.
„So sehr haben sich die Zeiten seit damals auch nicht geändert“, erwiderte Therese und nahm das Buch zur Hand. „Nimm allein die Prüderie, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, von der Kirche als Sittsamkeit von der Kanzel gepredigt wurde und somit die Rechte der Frauen noch mehr einschränkte, ja fast eindämmte.“ Therese kramte in ihrer Handtasche und zog eine Packung Zigaretten hervor. „Hast du mal Feuer?“
„Ich rauche doch gar nicht. Rosi sagt, eine Dame tut so etwas nicht.“
„Wer sagt oder stellt fest, was oder wer eine Dame ist?“
„Keine Ahnung.“ Evi besorgte von einem kleinen Tischchen ein Feuerzeug.
„Siehst du. Irgendwer stellt Regeln auf und alle laufen hinterher - und schon ist es in Mode. Und in zehn Jahres ist es wieder ganz anders.“ Therese blies eine dicke Rauchwolke in die Luft. „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, bei der Prüderie. Geht ein Mann fremd, ist es ein Kavaliersdelikt, geht aber eine Frau fremd, ist sie gleich ein Flittchen. Evchen, hast du eigentlich einen Liebhaber?“
„Aber Omi, darüber spricht man doch nicht.“
„Hast du oder hast du nicht?
„Habe ich nicht.“ Evi blickte auf ihre Hände.
„Solltest du aber haben, bevor du in die Ehe gehst. Du musst Erfahrungen sammeln. Früher durfte das Wort Sexualität überhaupt nicht ausgesprochen werden. Sogar die Autoren rangen mit sich, wie sie es umschreiben sollten und kamen am Ende zu dem Schluss, dass die Sinneslust am besten abgeschafft werden sollte. Ich war nicht dafür – sehr zum Leidwesen meiner Mutter.“ Therese kicherte.
„Hach Omi, zu diesem Thema habe ich auch etwas.“ Evi stand eilig auf und ging zum Bücherschrank. „Kennst du Hans Fallada?“
„Muss ich den denn kennen?“ Therese zwinkerte ihrer Enkelin zu.
„Er schrieb über seine Kindheitserinnerungen, als seine Tante Amélie ihn und seine Mutter besuchte.“ Evi setzte sich mit dem Buch in der Hand zu Therese und schlug es auf. „Hör mal zu:

„‚Mutter sagte zu mir: „Sitz doch still, Hans! Halte deine Beine ruhig!“
„Louise!“, schrie Tante fast vor Entsetzen. „Was sagst du -!?“
„Er soll die Beine ruhig halten, Tante Amélie.“
„Louise!!“, rief die Tante noch einmal. Dann milder: „Es muss die Großstadt sein, dieses Sündenbabel, du warst sonst ein braves Kind, Louise.“ Dann fuhr Tante fort: „Eine wirkliche Dame erwähnt das da unten“ – sie deutete auf meine Beine – „am besten gar nicht. Sie weiß besser gar nichts davon. Muss sie es aber nennen, so sagt sie Piedestal oder allenfalls Ständer ... Hans, halte deine Ständer ruhig, das klingt gebildet, Louise.’“

Therese blieb einen Moment ruhig, dann lachte sie laut los. „Ja, das war für diese Zeit typisch. Ach Evi, ich glaube, ich muss mir keine Sorgen um dich machen und wir verstehen uns schon. Ich möchte dir das Buch schenken, denn wenn du dich daran hältst und genau das Gegenteil tust, dann passt du in die Welt und wirst dein Leben meistern. Mir waren diese Anleitungen immer eine große Hilfe. Du musst Heinz-Werner nicht heiraten, wenn du es nicht selbst willst, da kannst du auf mich zählen. Aber lass das bloß nicht deinen Vater hören.“
„Was darf ich nicht hören?“ Ferdinand war unbemerkt von den beiden Frauen ins Zimmer getreten.
„Aber Ferdinand!“, empörte sich Therese, „wer hat dich nur erzogen. Hast du noch nichts davon gehört, dass man nicht unangemeldet ins Zimmer tritt, wenn sich darin ausschließlich Damen befinden?“
„Ich ... ich ...“, stotterte Ferdinand. „Aber das ist doch meine Bibliothek, Mutter. Und wer sagt, dass ich nicht eintreten darf?“
„Das Lexicon der feinen Sitten“, erklärte Therese und blies genüsslich eine dicke Rauchwolke aus, „heute auch Knigge genannt. Und nun, mein Sohn, lauf hier nicht hin und her, sondern halte deine Ständer still und begrüße deine alte Mutter.“

© Monique Lhoir


Quellen:
Seidler: Bestimmung und Veredelung der Jungfrau (1847)
Adelfels: Lexicon der feinen Sitten (1900)
Schramm: Der gute Ton (1908)
Knigge (heute)




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