Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2004
Typisch Griechisch
von Sigrid Wohlgemuth

Langsam ging die Sonne hinter den Bergkuppen auf und durchbrach die Wolkenbank. Das kleine Fischerdorf erwachte gemächlich aus tiefem Schlaf. Unterhalb eines Olivenbaumes reckte und streckte eine schwarze Katze ihre müden Glieder, um kurz darauf mit der Morgentoilette zu beginnen. Ein streunender Hund umkreiste die einzige Palme, die sich auf dem Dorfplatz befand. Nach ausgiebigem Beschnuppern kennzeichnete er sein Revier, indem er das rechte Hinterbein hob. Die Türe von “Jannis Taverne“ öffnete sich quietschend. Despina trat mit dem Besen in der Hand über die Schwelle und winkte einem Fischer zu, der beladen mit Weidenkörben über den Vorhof schritt. Er nickte zum Gruß und ging den kleinen Abhang zum Strand hinunter. Im feinkörnigen, grauen Sand lag ein spartanisch ausgestattetes Ruderboot. Der Fischer stellte die mitgebrachten Utensilien in den Bug und streifte die Sandalen von den Füßen. Seine Jeans krempelte er bis zu den Knien hoch, ergriff das Seil und zog die Barke ins Wasser. Ein kurzes Stück vom Ufer entfernt stieg er ein und ruderte mit gleichmäßigen Bewegungen zum Hauptschiff. Nur kurze Zeit später fuhr er unter dem freundlichen Tuckern des Motors los. Wenig später erschienen die anderen Fischer und schipperten in unterschiedliche Richtungen los, in der Hoffnung auf einen guten Fang.

Anthi öffnete ihren Lebensmittelladen. Auf der Etage über dem Geschäft hängte Chrisulla Decken zum Lüften über das Balkongeländer. Kinder strömten lachend von allen Seiten des Dorfes herbei und warteten am Hauptplatz auf den Schulbus. Die Sonne setzte sich gegen die Wolken durch und tauchte die Berge in einen rötlichen Schimmer. Eine Kirchenglocke erklang und hieß den Tag willkommen.

Seit Jahren genossen wir das Erwachen des Fischerdorfes. Hier hatten wir uns kennen gelernt, stammten aber nicht von dieser griechischen Insel, sondern vom Festland. Von unserem Beobachtungsposten mitten in “Jannis Taverne“ hatten wir die beste Aussicht auf das Dorf, den Strand und den kleinen Bootshafen. Unsere Namen gaben wir uns nach einem von uns erdachten Schema. Ich nannte mich: “Der Erste“, weil ich vor den beiden anderen ins Dorf gelangte und dort schon lange weilte. Nach drei Jahren erreichte “On Tour“ den Ort. Er hatte einige Dörfer am Rande der Straßen kennen gelernt, bevor er hier ansässig wurde. “Little“ war der Letzte in unserem Bunde. Seit zwölf Jahren erlebten wir alle Geschehnisse gemeinsam, waren glücklich und zufrieden. Wir lauschten den unterhaltsamen Geschichten, die an den Tavernentischen um uns herum erzählt wurden.

Panajotis, der seinen rechten Arm beim Dynamitfischen verloren hatte, spann das beste Seemannsgarn. Nektarius erzählte Geschichten von seinen Fahrten auf einem Frachtschiff, das ihn bis nach Argentinien, Brasilien und in den hohen Norden gebracht hatte. Adonis, der aussah wie es sein Name versprach, ließ uns teilhaben an seinen heißen Liebesnächten am Strand. Der Dorfschreiner Costa berichtete ausführlich über jedes vom ihm gefertigte Möbelstück für die Bewohner, sodass wir uns die Wohnungen bildlich vorstellen konnten. Am Abend gesellten sich die Ehefrauen dazu und tauschten Informationen über ihre neu entdeckten Sammelstellen für Wildgemüse, Schnecken und Pilze aus. Die Sommersaison bescherte uns viele Urlauber, und wir horchten den Geschichten aus aller Welt. Im Winter besuchten wenige Gäste die Taverne, und wir könnten heute noch ruhig und zufrieden sein, wenn nicht eines Tages ein gewisser Dimitris Papadopulos eine Bleibe am Dorfrand gemietet hätte. Er setzte unserem unbeschwerten Dasein ein Ende.

„Wie soll es weitergehen?“, fragte Little.
„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Euch geht es besser als mir. Ich muss das Meiste ertragen!“, sagte ich, Der Erste.
„Der haut nicht freiwillig ab. Mit einem Stück Holz könnte ich ihn erstechen“, drohte On Tour.
„Dann mach! Er biegt gerade um die Ecke“, flüsterte Little.
Einhundertvierzig Kilo Lebendgewicht, die er sich als Preisboxer, der Schwergewichtsklasse auf dem Jahrmarkt zugelegt hatte, bewegten sich auf uns zu. Sein dichter, roter Bart, der ihm bis zum Bauch reichte, wippte im Takt seiner Schritte. Die ungebändigten Haare wehten im sanften Wind. Seine Arme standen einen halben Meter von seinem Oberkörper ab.
„Kaffee“, rief er brummig zu Despina hinüber und lenkte weiter seine Schritte in unsere Richtung.
„Heute bin bestimmt ich dran“, wisperte Little ängstlich.
„Das ist in den letzten sechs Monaten nicht ein einziges Mal vorgekommen. Mich will er! Ich höre es jetzt schon knacken“, sagte ich.
„Schaut!”, rief On Tour, „er wurde an den Nebentisch gerufen. Vielleicht lässt er sich heute dort nieder!“
„Oh nein! Er liebäugelt mit uns!“, erwiderte Little.
„Fehlt nur noch, dass er uns zuwinkt“, flüsterte On Tour.
„Beruhigt euch! Wir sind nicht die Einzigen, denen es so ergeht!“, sagte ich.
„Natürlich sind wir die Einzigen!“, behauptete On Tour.
„Bitte streitet euch nicht. Das hilft uns nicht weiter“, wimmerte Little.
„Was ist mit den Gästen, die sich am Nebentisch, oben am Ecktisch und dort drüben am Taverneneingang niedergelassen haben?“ fragte ich.
„Das ist etwas anderes!“, sagte On Tour.
„Erklär mir den Unterschied!“, forderte ich.
„Despina bringt ihm den Kaffee an den Tisch.
Oh, oh, Sch ... , er zeigt auf uns!“, jammerte Little.
„Du bist mir eine Erklärung schuldig, On Tour!“, erinnerte ich.
„Das sind freundliche, gutgelaunte, weniger kräftige Personen und langansässige Dorfbewohner. Ich steche ihn heute mit einem Stück Holz ab!“, antwortete On Tour.
„Warum?“, fragte ich.
„Wie naiv du bist ! Du weißt doch, was er uns antun wird?“, sagte On Tour.
„Mir antut! Das machen deine sogenannten netten Leute auch!“, schnaubte ich zurück.
„Und die Touristen schießen davon Fotos!“, mischte sich Little ein.
„Wegen der Touristen soll ich stillhalten?“, fragte On Tour.
„Überleg doch, in wie vielen Fotoalben wir verewigt sind. Eine solche Szenerie wird nur in den kleinen Berg- oder Fischerdörfern gesehen. In der Stadt fällt es weniger auf. Ein typischer Grieche ... , Reinhard Mey hat sogar ein Lied über uns gesungen, braucht eben seine drei ... “, erklärte ich.
„Oh wie toll!“, unterbrach mich On Tour zynisch. „Ich freue mich riesig!“
„Keine Zeit mehr zum Diskutieren. Er ist aufgestanden und nur noch einen Meter von uns entfernt. Jungs, haltet durch! Es kommen auch wieder bessere Zeiten!“, sagte ich, und schon war das Krachen zu vernehmen.
Dimitris Papadopulos hatte sich auf mir niedergelassen, auf die unterste Leiste von On Tour stellte er seine Füße und über Littles Lehne legte er seinen Arm.
„Alles klar, Jungs?“, stöhnte ich unter seiner schweren Last.
„Was glaubst du? Ich hoffe meine Leiste hält durch!“, klagte On Tour.
„Geht schon“, piepste Little, der kleinste von den drei Holzstühlen.



Reinhard Mey Song: tris karekles (drei Stühle)

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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