Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Ines Haberkorn IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Februar 2004
Typisch, dachte ich ...
von Ines Haberkorn

Typisch, dachte ich und betrachtete kopfschüttelnd das Gehirn, das auf dem Fußabtreter vor meiner Tür hockte. Bei anderen saß vielleicht mal Nachbars Dackel auf dem Fußabtreter oder die Katze aus der Wohnung von oben drüber. Und bei mir? Da hockte ein Gehirn. Blässlich gelb und in sich gekrümmt kauerte es still und ein wenig apathisch auf dem Abtreter. Nicht, dass dieser Abtreter irgendetwas Besonderes wäre. Ganz im Gegenteil, er ist eine dieser grau-schwarzen Schmutzmatten, wie sie vor jeder der zwölf Wohnungstüren in unserem Mietshaus liegen. Aber ausgerechnet auf meinem Abtreter musste dieses Gehirn hocken.
Typisch, dachte ich und beugte mich über das Gehirn. Weit war es auf der Treppe nach oben ja nicht gekommen - ich wohne in der ersten Etage – was mich bei näherer Betrachtung übrigens kaum verwunderte. Immerhin besaß das arme Ding weder Beine noch Füße und schon gar keine Ellenbogen, und wo kam man heutzutage ohne Ellenbogen schon noch hin? Angesichts der fehlenden Extremitäten begann ich mich gleichzeitig darüber zu verwundern, dass es die Stufen zu mir herauf überhaupt bewältigt hatte. Ein wahres Wunder. Verfügte dieses Gehirn etwa über telekinetische Kräfte?
Typisch, dachte ich. Kaum hat man mal nicht sofort eine wissenschaftlich plausible Erklärung zur Hand, schon sucht man die Antworten im Übersinnlichen. Wie auch immer, Parapsychologie hin oder her, dieses Gehirn hockte hier auf meinem Abtreter, und je mehr Zeit verstrich, desto penetranter wurde die Gefahr, dass einer meiner Nachbarn das Treppenhaus frequentieren und es dort entdecken würde. Das darauf Folgende konnte ich mir lebhaft vorstellen: eine Abmahnung des Vermieters wegen Verstoßes gegen die Hausordnung. Ein Gehirn gehörte nun mal nicht auf einen Fußabtreter und gleich gar nicht vor die Wohnungstür. Was sich dahinter abspielte, war dann wieder egal.
Typisch, dachte ich seufzend. Gegen den Rottweiler aus dem Erdgeschoss würde keiner eine Beschwerde wagen, aber mit einem hilflosen Gehirn konnte man es ja machen. Das konnte weder die Zähne fletschen noch drohend knurren. Es hockte einfach nur bescheiden da und störte im Grunde niemanden. Trotzdem, um ehrlich zu sein, zögerte auch ich ein wenig, dieses Gehirn mit in die Wohnung zu nehmen. Menschlichkeit wird einem heutzutage ja oft schlecht gedankt. Möglicherweise legte man mir diesen Akt der Nächstenliebe noch als Straftat aus. Vielleicht hegte aber auch das Gehirn selbst, entgegen dem äußeren Anschein, böse Absichten. Immerhin wusste ich rein gar nichts von ihm, nicht woher es kam und noch weniger, von wem es stammte.
Typisch, dachte ich, bestimmt irrte jetzt jemand da draußen umher und suchte verzweifelt nach seinem Gehirn, was natürlich mal wieder keiner bemerken wollte. Zugegeben, bis zu einem gewissen Grade konnte ich dieses Verhalten sogar nachvollziehen. Stand man nicht manchmal solcher Hirnlosigkeit recht hilflos gegenüber und konnte kaum mehr tun, als wegzusehen? Doch Jammern half in vorliegendem Fall ebenso wenig wie Ignorieren. Also entschloss ich mich, das Risiko einzugehen und das Gehirn vorläufig in meiner Wohnung zu verwahren. Den Fund konnte ich ja mittels Aushang oder, besser noch, über die „Frühstückspost“ publizieren. Unter Umständen ergab sich daraus sogar eine rotbunt illustrierte Titelstory mit einem strammen Honorar für mich.
Typisch, dachte ich. Erst von Nächstenliebe reden und dann aus der Not anderer Kapital schlagen wollen. Obwohl ich mir in diesem Falle mit der Not nicht so sicher war. Konnte man wirklich behaupten ohne Gehirn herumzulaufen sei eine Not? Und außerdem, wer schlug heutzutage schon kein Kapital aus der Not anderer? Egal, ob mit oder ohne Gehirn. Nein, es musste etwas geschehen. Kurz entschlossen bückte ich mich und hob das Gehirn mit beiden Händen auf. Es fühlte sich fest und trotzdem elastisch an, und als ich es betrachtete, war da ein kleiner Zettel auf der Unterseite: Implantat - Made in Thailand.
Typisch, einfach typisch, dachte ich.

Ines Haberkorn, Februar 2004


Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 4059 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.