Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2004
Ökologisches Gleichgewicht
von Anne Zeisig

„... erkläre ich die Gemeinderatssitzung für eröffnet! Tagesordnungspunkt Eins:
Beschlussfassung und Abstimmung über den Bau einer Papierfabrik mit der Auflage, Bau eines Autobahnzubringers, Gemarkung... Flurstück... und Flurstück... des Flächennutzungsplanes vom... zuletzt geändert am... Grundbucheintrag... ! Fragen dazu? Ich nehme an, keine! Einwände dagegen? Ich nehme an, nein! Abstimmung also für den Bau... “
„Stopp!“, rief Gemeinderatsmitglied Koalitionsczeck, „diese Papierfabrik soll auf dem Brachgelände neben der Kläranlage angesiedelt werden?“
„Ja!“, antwortete Bürgermeister Kompetenzky, „ein idealer Standort! Da gibt es nichts zu diskutieren! Durch die Fabrik werden in unserer strukturschwachen Gegend hundertfünfzig Menschen in Lohn und Brot gebracht!“
„Aber die Erschließungskosten für den Autobahnzubringer!“
„Die rechnen sich langfristig, weil der Bau zusätzliche Arbeitsplätze schafft! Das, Koalitionsczeck, nenne ich Aufschwung!“
„Und was genau wird in der Fabrik produziert?“
„Toilettenpapier. Zwei- und dreilagiges. Das Zweilagige wird hauptsächlich nach Großbritannien exportiert.“
„Export! Hört sich gut an! Aber warum wird vorzugsweise das Zweilagige exportiert?“
„Mir liegt eine Studie vor, aus der hervorgeht, dass die Briten sogenannte Toilettenpapier-Zusammenknüller sind. Dafür ist das Zweilagige bestens geeignet. Für uns Deutsche hingegen ist es typisch, dass wir unser Toilettenpapier falten. Deshalb bevorzugen wir das Dreilagige, um ein gewisses Volumen zu erhalten.“
„Aha. Und wie sieht ´s mit dem Umweltbewusstsein aus?“ „Es handelt sich selbstverständlich um ein Zelluloseprodukt aus Altpapier, welches chlorfrei gebleicht wird!“
„Ich denke aber an den Schlammkraulfisch!“
„Sie denken! Oh! An was oder an wen denken Sie?“
„Schlammkraulfisch! Eine vom Aussterben bedrohte Fischart. Das Typische am Schlammkraulfisch ist, dass er kein Kiemenatmer sondern ein Darmatmer ist. Er krault mit dem Kopf im Schlamm herum und atmet von hinten den Sauerstoff ein.“ Koalitionsczeck atmete tief durch: „Ich habe den Lageplan gründlich studiert! Der Schlammbach müsste der Fabrik weichen! Das wäre verantwortungslos, weil dieser Fisch dort seinen Lebensraum hat!“
„Ich habe aber noch nie in der Kloake neben der Kläranlage so einen Fisch gesichtet!“
„Aber die Naturschützer! Siehe Schriftstück Nummer... vom... zuletzt geändert am... “ „Wann soll denn dieses seltene Fischexemplar da durchgeschwommen sein?“, fragte der Bürgermeister ungeduldig.
„Der Schlammkraulfisch schwimmt kaum. Er wühlt sich am Grund des Baches mit kraftvollen Kopfbewegungen durch den weichen Schlamm. Deshalb ist es schwierig, diesen Fisch während seiner Aktivitäten zu beobachten. Aufsteigende Bläschen zeugen von seiner Ansiedlung im Schlammbach!“
„Gasbläschen?“
„Oder Luftbläschen. Das ist unwichtig! Fakt ist, dass die Ansiedlung der Papierfabrik den Lebensraum des vom Aussterben bedrohten Fisches zerstört. Vor diesem Hintergrund bitte ich also bei der Abstimmung zu berücksichtigen, dass... “

Eine klare Mehrheit stimmte gegen den Bau der Papierfabrik
Ende der Sitzung am Montag, den... um... Uhr. Protokollnummer...

. . .

Bürgermeister Kompetenzky faltete ordentlich das Toilettenpapier, spülte es im WC hinunter, wusch sich gründlich die Hände und fragte Kollege Koalitionsczeck, der seinen Scheitel nachzog: „Wo entspringt denn überhaupt dieser verflixte Schlammbach?“
Der Kollege vergewisserte sich, ob sie alleine im Toilettenraum waren, und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Das weißt du nicht mehr? Der Schlammbach entspringt dem Auslassrohr der Kläranlage. Das war doch seinerzeit die Bedingung der Kläranlagenbetreiber. Sonst hätten wir diese Anlage hier gar nicht ansiedeln können. Dafür hatten die Betreiber auf den Autobahnzubringer verzichtet, weil sonst die Trampelpfade des Sandstapfkäfers vernichtet worden wären. Und dass sich dort das seltene Exemplar eines solchen Käfers befindet, das erkennt man an den typischen Pfaden, weil diese...“
„Na“, unterbrach ihn der Bürgermeister erleichtert, „ohne Autobahnzubringer hätte der Investor der Papierfabrik unseren Standort sowieso abgelehnt.“ Er kratzte sich am Kopf: „Aber es gibt für alles eine Lösung! Wir bieten den Investoren einen privaten Cargo-Port an. Dann können sie ihr Zweilagiges doch Ruck-Zuck über den Luftweg nach England exportieren. Das ist DIE Idee! Na, wenn das kein Angebot ist!“
Das Gemeinderatsmitglied steckte seinen Kamm in die Reverstasche und rückte sich die Krawatte zurecht: „Du denkst dabei an den ehemaligen Truppenübungsplatz neben der Brachfläche? Dort willst du die Fabrik samt Flugplatz ansiedeln?“
Der Bürgermeister nickte.
„Geht nicht. Erstens schlängelt sich da der Schlammbach hinunter bis zum Brunnen auf dem Marktplatz, und zweitens sollen dort die Naturschützer den Ruf des Bachflugjodlers gehört haben.“
„Bachflugjodler?“
„Ein vom Aussterben bedrohter Vogel, der sich hauptsächlich vom Laich des Schlammkraulfisches ernährt, im Brachgebiet hervorragende Nistmöglichkeiten vorfindet und für dessen Landeanflüge die Teilasphaltierung des ehemaligen Truppenübungsplatzes eine ideale Voraussetzung darstellen soll, denn die Flughäute dieses Vogels...“
„Aber Sandstapfkäfer frisst der nicht!“ Kompetenzky fuhr sich mit den Händen nervös durchs schüttere Haar.
„Nein, aber der Sandstapfkäfer benötigt die Nachbarschaft des Bachflugjodlers, weil... “
„Aber gesehen hat diesen komischen Vogel noch niemand!“, schnaufte der Bürgermeister.
„Aber bereits einmal gehört! Sein Ruf ist unverwechselbar!“
„Einmal gehört!“, schrie der Bürgermeister mit hochrotem Kopf, „kruzif... “
„Genau!“, rief das Gemeinderatsmitglied, „kruzifieh-kruzifieh! Du hast ihn also auch schon gehört!“
„Kruzifix! Kruzifix!“, donnerte die Stimme des Bürgermeisters durch die Toilettenanlage und hallte von den Fliesen nieder, „ich möchte nur mal wissen, warum sich dieses ökologische Gleichgewicht ausgerechnet in unserem Ort mit solch rasanter Fließgeschwindigkeit ausbreitet!“
„Kompetenzky, beruhige dich. Wir müssen eine Lösung für die hundertfünfzig Arbeitslosen finden! Die sind alle so zwischen fünfundfünfzig und fünfundsechzig Jahre alt, und in dem Alter hat man ein Recht auf Arbeit!“
„Ein Hotel!“, rief der Bürgermeister und schlug sich mit der Hand vor die Stirn, „dass ich da nicht eher draufgekommen bin!“
„Und auf welcher Fläche soll das errichtet werden?“
„Gegenüber vom Marktbrunnen steht ein altes Gemäuer. Das reißen wir ab für den Hotelbau! Das schafft Arbeit für alle! Die Touristen werden in Scharen zu uns strömen, weil die Natur hier so seltene Arten zu bieten hat!“, begeisterte sich der Bürgermeister. „Aber“, Koalitionsczeck runzelte die Stirn, „das alte Gebäude war früher ein sogenannter Kindergarten! Der steht unter Denkmalschutz!“
„Was war das?“ „Ein Kindergarten!“ „Und wer benötigte diesen Lebensraum?“
„Kinder!“ „Kinder! Ist das wieder so eine typische Art, die vom Aussterben bedroht ist? Keiner hat so was je gesehen, aber alle haben mal wieder davon gehört? Nur ich nicht! Braucht so ein Kind etwa den Bachstelzjodler oder den Schlammkraulfisch plus Sandstapfkäfer zum Überleben?“
Koalitionsczeck klopfte dem Bürgermeister auf die Schulter: „Keine Sorge, mir ist nicht bekannt, dass die Naturschützer in unserem Ort je ein Kind gesehen oder gehört hätten.“
„Das ist hervorragend! Dann steht dem Hotelbau ja nichts im Wege!“
„Der mit Denkmalschutz grundbuchrechtlich belastete Kindergarten darf aber nicht abgerissen werden!“
„Ist so ein Denkmal denn gut für den Tourismus?“
„Ein Kulturerbe ist immer eine Bereicherung, Kompetenzky.“

Sie verließen die Toilettenanlage. Ihre Schuhe quietschten auf dem gebohnerten Linoleum, als sie den langen Gang hinunter eilten.
Der Bürgermeister hielt erschreckt inne und riss die Augen auf: „Koalitionsczeck! Hast du `s gehört?“
„Was?“
„Na! Dieses Geräusch!“
„Du meinst unsere Schuhe?“
„Nein! Ich habe ein Grummeln gehört. Könnte auch eher so ein Brummen gewesen sein.“ Kompetenzky hielt die Hand an sein Ohr: „Da! Wieder! Muss hier ganz in der Nähe sein!“
„Ach das meinst du!“, Koalitionsczeck ging weiter. „Das ist ein leises Knurren! Mein Magen!“
Der Bürgermeister atmete erleichtert auf: „Was gibt es denn überhaupt in der Kantine zu essen?“
„Wie immer montags. Den typischen Seniorenteller mit pürierten Kartoffeln aus genmanipuliertem Anbau. Resistent gegen Schädlinge aller Art. Obwohl“, flüsterte das Gemeinderatsmitglied, „die Naturschützer behaupten, diese Kartoffeln würden ein Ungleichgewicht der Hormone hervorrufen. Und das soll die Fortpflanzung irgendeiner Art verhindern.“
„Unsinn!“ Der Bürgermeister lachte laut, „welche Art sollte denn in unserem Ort wegen irgendwelcher Hormone vom Aussterben bedroht sein? Ganz im Gegenteil! Hier wimmelt es doch geradezu von Neuansiedlungen! Ein Zeichen für ökologisches Gleichgewicht! Dass man hier aber auch alles wiederholen muss!“, rief er aufgebracht und riss die Tür zur Kantine auf.


Anne Zeisig, Februar 2004





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