Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Wäre die sprichwörtliche Gute Fee zu ihr gekommen und hätte ihr einen Wunsch freigestellt, dann hätte sie ganz sicher Sylvester abgeschafft. Sie hatte für diesen Tag ihre eigene zynische Messlatte, die von ‚grauenhaft’ bis ‚grauenhaft öde’ reichte. Gemessen wurde Sylvester im Komparativ: Dieses Jahr war es noch grauenhafter als letztes.
Angefangen hatte der Fluch in ihrer Kindheit. Ihre Eltern suchten sich aus irgendeinem Grund, den sie bis heute nicht verstand, regelmäßig das Jahresende aus, um sich in die Haare zu bekommen, und das ganze gipfelte letztes Jahr in einem unschlagbaren Tiefpunkt, als sie um ein Haar mit einem einsamen amerikanischen GI geschlafen hätte, aber dann doch im letzten Moment ihre Tage bekommen hatte.
Ganz unten, am Ende der Skala, fast schon unter der Rubrik Körperverletzung, rangierten die traditionellen Neujahrsanrufe wohlmeinender Freunde und Verwandter.
„Na? Wie war es? Bist du gut ins Neue Jahr gekommen?“
„Nein!“, wollte sie regelmäßig in den Hörer brüllen, aber sie tat es nie. Irgendwie schien es nicht fair, den anderen das Neue Jahr gleich mit der Wahrheit zu vermiesen. Sie drehte einfach das Neujahrskonzert lauter, wenn das Telefon klingelte, und blieb im Bett.
Aber dann war etwas passiert.
Ganz konnte sie es immer noch nicht glauben, während sie langsam ihre Tasche packte. Stück für Stück legte sie hinein, was sie brauchen würde: Das kurze schwarze Cocktailkleid, das sie mit den Worten gekauft hatte „Wann soll ich das denn anziehen?“. Die Pumps. Die Strumpfhose ohne Laufmasche. Und die Unterwäsche, schwarz, mit Spitze, brandneu. Zuoberst kam das Billigflugticket mit dem magischen Datum.
Ankunft London Standsted, 31.12, 00.05.
In einem Anflug von Panik kippte sie den Inhalt der Tasche auf den Fußboden und packte sie noch einmal von vorne. Nur um ganz sicher zu sein. Eine Pechsträhne von fast dreißig Jahren brach man nicht so leicht.
Den Grundstein für dieses ganz besondere Sylvester hatte das Schicksal fünf Monate zuvor in einer heruntergekommenen Jugendherberge in Galway, Irland gelegt. Es war ein kühler August, und sie hatte den Zauber gar nicht bemerkt, bis sie sich plötzlich mitten in einem Märchen wiederfand. Eben noch war der Kerl ihr gegenüber einfach ein Typ mit einem zerlesenen Krimi in der Hand, und dann machte es „puff“ und sie merkte, dass er bezaubernde grün-braune Augen und lange, dichte Wimpern hatte. Nicht alle Märchen begannen mit „es war einmal“, manche waren da ganz konkret. Jedenfalls endete es damit, dass sie zusammen die Sonne über einem schäbigen Hinterhof aufgehen sahen und sich einbildeten, das Meer riechen zu können. Als sie ihn darauf hinwies, dass es gleich Frühstück geben würde, sagte er überrascht: „Shit“. Ihre Blicke waren sich begegnet. Es war einer dieser Momente.
Sie hatten früh angefangen, über Sylvester zu reden. Genauer gesagt kurz nach dem Frühstück auf einem kratzigen Sofa im Aufenthaltsraum der Jugendherberge. Mit vor Übermüdung roten Augen hatte er ihr von den Festlichkeiten in Schottland vorgeschwärmt. Und obwohl er das Unwort „Sylvester“ aussprach, begannen ihre Augen zu glänzen. Auf Dudelsack, Haggis und meterhohen Schnee konnte sie gut verzichten, aber es blieben seine Augen, seine Stimme und die Leichtigkeit, mit der er sie aus der Gegenwart in die Zeitlosigkeit trug.
Aus Schottland wurde dann London, so wie aus den Träumen ein Plan wurde. Dieser und andere, die nachts in verliebtem Flüsterton dem Telefon anvertraut wurden. Er hatte ihr sogar seine Mobilnummer gegeben. Damit ich keinen Anruf verpasse, hatte er gesagt.
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich mehr.“
„Ich kann es nicht mehr erwarten, dich wiederzusehen.“
„Sylvester mit dir. Ein neues Jahr, und dann das ganze Leben. Freust du dich?“
Dazu schwieg sie, obwohl sie eigentlich nicht abergläubisch war. Außer wenn es um Sylvester ging.
Der Taxifahrer klingelte an der Türe. Sie warf einen letzten Blick auf den Kalender. Es war der 30. Dezember. Morgen würde der 31. Dezember sein, und nichts konnte daran etwas ändern. Sie schloss die Augen und atmete tief, ehe sie die Tasche nahm und in die kalte Winternacht trat. Das Taxi brachte sie zum Zubringerbus, und der fuhr weiter nach Frankfurt Hahn. Dort wartete ein Flugzeug. Das war nicht romantisch, aber es ging schnell. Sie rechnete die Entfernung schon seit Tagen in Stunden. Als sie im Flugzeug saß und allen anderen das Dröhnen der Motoren in den Ohren klang, hörte sie nur seine Stimme, die sagte:
„Ich liebe dich. Ich werde dich nie wieder gehen lassen.“
„Ich liebe dich auch.“
Ihr Atem hauchte ein filigranes Muster auf die winzige Scheibe, während sie unter sich die erleuchteten Autobahnen von Belgien auftauchen und wieder verschwinden sah.
Die Lichter des Flughafens tauchten wie ein leuchtendes Spinnennetz pünktlich aus dem nächtlichen Schwarz auf - nicht so das Gepäck eine halbe Stunde später in der weitläufigen Wartehalle. Der Raum war angefüllt mit Menschen, die mit müden Gesichtern auf die schwarze Anzeigetafel blickten, die sich in verschiedenen Sprachen für die Verzögerung entschuldigte. Mit wachsender Ungeduld blickte sie auf die Uhr. Es war jetzt halb eins. Sylvester war seit einer halben Stunde angebrochen, und irgendwo saß ein Mann mit langen Wimpern und grün-braunen Augen neben seinem Mobiltelefon und wartete auf ihren Anruf. Und dieser Mann liebte sie. Fünf Minuten verstrichen, zehn… das Rollband setzte sich in Bewegung, aber die Koffer dachten nicht daran zu kommen.
Verehrte Gäste, wir bitten Sie, die Verzögerung…
Sie hielt es nicht mehr aus. Ganz bestimmt machte er sich schon Sorgen. Mit Ellenbogen und einem entschuldigendem Lächeln kämpfte sie sich zu einer freien Telefonzelle und schob ihre Kreditkarte in den Schlitz. Sie wählte. Es war eine der beiden Nummern, die sie auswendig kannte. Die andere war ihre eigene. Ihr Herz klopfte mit jedem erwartungsvollen Tuten ein bisschen lauter. Ein Klicken. Ihre Handflächen schwitzten freudig.
„Ja?“
Autsch! Das war peinlich. Zwanzig vor eins, und sie hatte eine fremde Frau aus dem Schlaf gerissen.
„Es tut mir furchtbar Leid, ich muss mich verwählt haben.“
Einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann sagte die Frauenstimme neutral: „Wen wollten Sie denn sprechen?“
Sie sang seinen Namen. Er klang wie eine Melodie. Er war das kürzeste Liebeslied der Welt.
„Der ist nicht da“, sagte die Frau.
„Aber… das kann nicht sein.“
Die Stimme klang jetzt leicht verärgert.
„Ich werde es ja wohl wissen, ich bin seine Frau. Wer sind Sie überhaupt?“
Ganz langsam ließ sie den Hörer auf die Gabel gleiten und zog die Kreditkarte aus dem Schlitz. Sie packte sie in ihre Portemonnaie und das Portemonnaie in ihren Rucksack. Das Gepäckband spuckte endlich die Koffer aus. Schwarzes Cocktailkleid. Schwarze Pumps, schwarze Spitzenunterwäsche. Ungebraucht.
Der Menschenstrom trug sie an der Passkontrolle vorbei nach draußen. Die Augen des Beamten ruhten einen Augenblick auf ihrem Gesicht, als wolle er etwas sagen. Er reichte ihr den Pass.
„Angenehmen Aufenthalt.“
„Danke.“
In der Ankunftshalle drängten sich Menschen, die es nicht erwarten konnten, ihre Lieben in die Arme zu schließen. Sie ließ mechanisch ihren Blick über die Gesichter schweifen. Ihr Herz blieb beinahe stehen. War er das nicht? Adrenalin pumpte in einem heiß-kalten Schwall aus ihren Ohren. War alles nur ein graumsamer Scherz gewesen, den sie verzeihen konnte? Sie sah noch einmal hin – nur ein Fremder, der in diesem Augenblick eine andere Frau an sich drückte. Endlich begriff sie, dass alles aus war.
Sie blickte auf die Uhr, die rund und riesenhaft an der Wand hing. Es war jetzt eins. Noch dreiundzwanzig Stunden Sylvester. Wenn sie Glück hatte, würde sie in der Früh gleich den ersten Flieger bekommen, dann war sie in wenigen Stunden zu Hause, rechtzeitig für das Neujahrskonzert und das Klingeln des Telefons.
Die Halle leerte sich grüppchenweise. Sie hievte ihre Tasche auf den Sitz neben sich, lehnte den Kopf dagegen und schloss die Augen.
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