Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
... und Frauen sind von der Venus von Susanne Schubarsky
„Wo ist das verdammte Ding?“ Gerda kramte hektisch in ihrer überdimensionalen Handtasche. „Ich weiß ganz genau, dass es da drin ist, irgendwo.“
„Was suchst du denn?“
Gerda schoss ihrem Mann einen verärgerten Blick zwischen die Augen. Und wütete weiter in ihrer Handtasche, ohne ihm mehr als einen weiteren Fluch zu gönnen.
„Ein Feuerzeug kann ich dir auch bieten“, lächelte Erich sie behutsam an und beugte sich über den Tisch, um ihr Feuer zu geben.
„Nein, es muss doch hier sein! Ich hasse es, wenn das passiert.“
„Hmmm.“ Jetzt nur kein unüberlegtes Wort. Also wiederholte er: „Hmmm.“ Verstohlen beobachtete er seine Frau, die den Inhalt ihrer Tasche Stück für Stück ausräumte. Als sie einen Blumentopf herauszog und vor sich auf den Tisch stellte, zuckte er kurz zusammen, hielt es aber für klüger, dazu keine Bemerkung zu machen. Außerdem hatte sie schon wesentlich bizarrere Gegenstände in ihrer Handtasche mit sich herumgetragen.
„Wenn nicht in deiner Handtasche ein schwarzes Loch versteckt ist, müsste es doch theoretisch noch dort sein.“
Gerda hielt abrupt inne und starrte ihn an. „Was willst du damit andeuten?“
„Nichts, gar nichts.“ Er hob die Hände und lehnte sich weit zurück. „Ich wollte einen Witz machen. Vergiss es.“
In diesem Moment trafen Gabi und Michael ein, mit denen sie zum Abendessen verabredet waren, und Gerda lieĂź den Blumentopf in ihrer Handtasche verschwinden.
Die Männer sprachen über Fußball, die Frauen zogen über Uschi Glas her – ein friedliches Abendessen mit Freunden. Bis Erich das Handtaschen-Mysterium ansprach. „Ist es nicht seltsam, dass Frauen in ihren Riesenhandtaschen alles Unmögliche herumschleppen, sie aber trotzdem nie etwas darin finden?“
Michael lachte laut auf. „Oh ja, letzte Woche zog Gabi doch tatsächlich eine Fahrradpumpe heraus statt dem Lippenstift, den sie suchte.“
Die Männer amüsierten sich und versuchten sich gegenseitig zu übertreffen. „... ein Pannendreieck, nicht zu fassen ... Katzenfutter kann ich ja noch verstehen ... aber ein Feuerlöscher ... hahaha...“
Die beiden Frauen saĂźen daneben und verzogen keine Miene.
„Ich muss mal kurz auf die Toilette. Kommst du mit, Gabi?“
Beide sprangen gleichzeitig auf, schnappten sich die Objekte der männlichen Belustigung und stürmten in Richtung sanitäre Anlagen.
Im Restaurant wurde es unruhig, und Erich hätte schwören können, dass sich an den meisten Tischen die Frauen erhoben, um auf die Toilette zu verschwinden. Er schüttelte den Kopf. Nein. Frauen hatten zwar einen gewissen Tick in dieser Hinsicht, aber so weit ging das nun doch nicht. „Warum müssen die bloß immer gemeinsam aufs Örtchen?“, fragte er seinen Freund. Der sah ihn nur verständnislos an.
Erich blickte um sich. Tatsächlich, an den Tischen saßen fast nur Männer, doch keiner schien daran etwas ungewöhnlich zu finden. Schon gar nicht Michael. Der starrte in sein Rotweinglas und bemerkte nicht, wie Erich aufstand und so unauffällig wie möglich zur Toilette schlenderte.
Er wusste, dass es lächerlich war, seiner Frau auf dem Klo nachzuspionieren. Trotzdem. Frauen im Allgemeinen und seine eigene im Besonderen waren unberechenbar und schienen oft wie Wesen von einem anderen Planeten – aber dieser Massenexodus war selbst für sie zu abgehoben.
Im Gang vor den Sanitärräumen wühlte eine Frau in ihrer Handtasche und schien ihn gar nicht wahrzunehmen, als er betont unschuldig pfeifend in die völlig leere Herrentoilette marschierte. Von früheren Besuchen der Örtlichkeit kannte er das Guckloch in der Außenwand einer der Kabinen. Infantile Scherzkekse hatten doch eine Daseinsberechtigung. Vorsichtig presste er sein rechtes Auge gegen das gezackte Loch in der Holzwand. Und er sah: Unzählige Hinterteile in den verschiedensten Farben, einige mehr, andere weniger knackig, und alle versperrten ihm die Sicht.
Das Voyeurloch war eindeutig nur für einen Zweck gedacht, denn die Akustik war lausig. So sehr er sich auch bemühte, er hörte nur undeutliches Gemurmel. Er wusste, dass im Nebenraum etwas Bemerkenswertes vorging, hatte aber keine Möglichkeit herauszufinden, was. Gerade als er enttäuscht aufgeben wollte, kam Bewegung in die kompakte Po-Masse, und durch einen glücklichen Zufall wurde die Sicht frei – auf seine Gerda, die wild gestikulierend auf die Frauen einredete.
Erich keuchte erschrocken auf, nicht so sehr wegen seiner Frau, sondern wegen der anderen, die vor ihm kniete, seine Hose geöffnet hatte und soeben begann, ihn mit Hand und Mund zu befriedigen.
„Hey! Was soll das? Nein!“ Er begann heftig zu atmen, und obwohl er sich wehren wollte, hatte er keine Chance – gegen sich und seinen Körper.
In kürzester Zeit hatte er sich vom ersten Schock erholt und die Initiative ergriffen. Er drückte die Frau gegen die Wand und arbeitete sich durch jeden einzelnen der Sexträume, die er je gehabt hatte.
Viel zu schnell näherte er sich dem Orgasmus, und im Moment des Höhepunkts konnte er nur eines denken: Gerda! Aber nicht aus Schuldbewusstsein, sondern weil sie neben ihm stand und im Begriff war, ihm mit beiden Händen einen Klodeckel auf den Kopf zu schlagen.
Aufgeregte Frauenstimmen waren das erste, das er hörte, als er wieder zu sich kam. Er verstand kein Wort, da er sich in erster Linie auf die monströsen Kopfschmerzen konzentrierte, die seine Aufmerksamkeit beanspruchten und ihn rasch wieder umkippen ließen. Als er wieder aufwachte tat sein Kopf nicht mehr so weh und er verstand, was gesprochen wurde.
„Verstehen“ allerdings hier nur im weitesten Sinn verwendet. Er kannte die Wörter, doch die Sätze ergaben keinen Sinn.
„... Masse-Transmitter spielen verrückt. Wie ihr sicher schon bemerkt habt, erfolgt der Austausch häufig ohne Initialisierung. Es gibt nur eine logische Konsequenz. Wir müssen unsere Handtaschen bis zum Zeitpunkt X aufgeben. Wir haben ohnehin schon genügend Artefakte hier.“ Gerda saß auf einem riesigen Sofa und sprach zu einer Gruppe von Frauen, die auf Sitzkissen um sie herum lümmelten. Das Bizarre der Situation wurde noch dadurch unterstrichen, dass der Raum, in dem sie sich befanden, ein Kosmetiksalon war. Nicht, dass er schon jemals in einem gewesen wäre, aber die Utensilien erschienen ihm unverwechselbar. Er selbst lag in einer Ecke des Raumes und wurde wütend. Es war nicht so sehr, dass sie seine Hände und Füße gefesselt und ihm nicht einmal seine Hose hochgezogen hatten, sondern dass er von dieser Truppe wild gewordener Tussis völlig ignoriert wurde.
„Ich glaube, es ist kein großes Risiko, den Zeitpunkt X vorzuverlegen. Ich bin überzeugt, dass wir auch jetzt schon bereit sind. Wir schaffen es, Schwestern!“
Erich hatte genug. „Was redest du denn da für einen Scheiß, Gerda?“
„Ach ja, dieses Problemchen müssen wir vorher aus der Welt schaffen.“ Gerda drehte sich zu ihm um und warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. „Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet er eines Tages ein Problem darstellen könnte. Er hat dem gesuchten Profil so genau entsprochen. Schade.“
Sie nickte zwei Frauen direkt vor ihr zu, die sofort aufsprangen und gemeinsam Erich auf die Beine zerrten.
„Du hättest nicht so neugierig sein dürfen“, murmelte Gerda fast zärtlich, als Erich vor ihr stand. „Es hat dich doch noch nie interessiert, was ich tue. Warum heute?“
Er zuckte mit den Schultern. „Weil ich ein guter Ehemann sein wollte?“ Er grinste. „He, ich weiß es nicht, einfach so. Aber diese Dinger, eure Handtaschen, geil! Und überhaupt: Wer oder was seid ihr?“
Gerda hob die linke Augenbraue in ihrer unnachahmlich coolen Art. „Frauen natürlich. Die Frage, die du stellen willst, ist vielmehr ‚Woher kommt ihr?’.“ Das Fragezeichen auf der Stirn ihres Mannes ließ sie kurz die Mundwinkel verziehen. „Ich werde versuchen es so zu erklären, dass du es verstehst.“ Ihr Lächeln war herablassend geworden, als sie sich wieder auf dem Sofa niederließ.
„Jedes Mal, wenn du eine Entscheidung triffst, hast du zwei oder mehr Möglichkeiten, mit jeweils anderen Konsequenzen. Wenn du an einer Kreuzung links statt rechts abbiegst, könntest du einen Unfall haben, jemandem begegnen, zu einem Termin zu spät kommen ... egal. In jedem dieser Fälle ändert sich etwas – in deinem Leben, im Leben der direkt betroffenen Menschen, und manchmal auch für die gesamte Menschheit. All diese Varianzen existieren parallel in distinktiven Realitäten.“
„Hä?“
„Unendlich viele Parallelwelten mit teils winzigen und teils riesigen Unterschieden. Und wir Frauen haben die Verbindung zwischen den Welten entdeckt, schon vor einigen tausend Jahren. Damals lebten wir hier in einem perfekten Matriarchat, einer harmonischen Realität ohne Kriege, ohne Verbrechen – das totale Gegenteil zu der Realität eines Patriarchats kurz vor dem Zusammenbruch, das wir besuchten.“ Gerda erschauerte bei dem Gedanken und hielt kurz inne.
„Und dann?“
„Ganz einfach, wir tauschten. Die Matriarchinnen würden die Parallelwelt auf ihren Standard bringen, während ihre unglückseligen Schwestern hier die Gelegenheit bekamen, das Matriarchat weiter zu vervollkommnen.“
„Welches Matriarchat?“ Erich hatte den Überblick verloren. „Wir Männer sind das starke Geschlecht, sagt doch schon der Name.“ Er blickte entrüstet in die Runde. „Nur zur Info: Ihr habt die falsche Welt erwischt. Hier herrschen wir Männer.“ Vermutlich hätte er sich gegen die Brust geschlagen, wären seine Hände nicht gefesselt gewesen.
„Genau. Deshalb sind wir ja hier. Wir werden die Fehler der letzten viertausend Jahre wieder korrigieren, mit den Dingen, die wir parallel dazu entwickelt haben. Und nichts kann uns aufhalten.“
„Ha! Und wie wollt ihr das anstellen? Eine Regierung stürzen? Lächerlich.“
Gerda runzelte ihre Stirn. „Viel einfacher. Aber genug geplaudert. Schafft ihn raus hier. Wir haben Wichtigeres vor.“ Sie war aufgestanden und ging zur Tür, als plötzlich ein Schrei durch den Raum schrillte. „Eine Maus!“
Panik erfasste die Frauen, die plötzlich planlos durch den Raum schwärmten.
Erich schüttelte den Kopf. Frauen. Wollten die Weltherrschaft übernehmen, aber eine winzige Maus ließ sie den letzten Rest Verstand verlieren. Das Gute daran war, dass sich nun keine mehr um ihn kümmerte. So unauffällig wie möglich hoppelte er zur Tür. Verbissen bearbeitete er seine Fesseln mit den Zähnen. Nur ein Schlüssel trennte ihn noch von der Freiheit.
„Nicht so schnell, mein Lieber.“
Verdammt, Gerda hatte ihre Fassung wieder gefunden.
„Du hast doch nicht etwa gedacht, dass wir Angst vor einer Maus hätten?“ Gerda lächelte. „Das heißt, eigentlich schon. Ein Mann, dieser Douglas Adams, hat richtig erkannt, dass Mäuse die intelligentesten Bewohner der Erde sind – außer uns Frauen natürlich. Nur die Mäuse könnten uns jetzt noch stoppen. Daher mussten wir diesen Spion neutralisieren.“
Sie holte tief Luft. „So, wie wir jetzt auch dich neutralisieren müssen.“ Gerda drückte beruhigend seine Schulter, bevor sie ihm eine Spritze in die Halsschlagader jagte.
Mit einem bedauernden Blick zurĂĽck drehte sie sich um und gab den Befehl zum Angriff.
Susanne Schubarsky, Februar 2004
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