Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Februar 2004
Weißer Sand - Anderwelt ist jederorts
von R. Funke

Gegen zehn füllte sich der Spielplatz zwischen den Plattenbauten mit den ersten Verwundeten der Sozialreformen. Die Veteranen grüßten die Schar junger Heimkehrer mit den wenig aufmunternden Worten: „In deinem Alter stand ich fest in Lohn und Brot“ und erhielten ein „Das hilft dir heute auch nicht weiter, Opa“ als Antwort.
Die jüngste Generation trug bereits die Uniform der Älteren: Freizeitanzüge der Marke fit for fun aus Aldis Dauerschlussverkauf. Sie spielten zwischen Hundehaufen, Bierdeckeln und Wartemarken und buddelten mit bunten Plastikschaufeln nach weißem Sand, der einen Hauch von Ferien am Meer vermittelte. Die wenigsten würden sich je diesen Traum erfüllen können oder auch nur lernen, wie viel ‚e’ im Begriff Meer enthalten sind.

Marina schaute vom rostfarbenen Balkon des 15. Stocks über den Innenhof und keifte wodkagelöst ihren Frust in die Betonwüste. Ihr lallendes Gezeter vermischte sich mit dem Dröhnen der nahen Autobahn – irgendjemand hämmerte an die hellhörigen Wände und übertönte für einen Moment alles andere. Marina kannte diese stumpfen Hintergrundgeräusche seit ihrer Kindheit. Die Stimmung war gereizt, ein Wort ergab das andere, bis ihnen die Worte ausgingen und Gewalt die Argumentation führte. Männer prügelten Frauen und Frauen ihre Kinder. Ihr einziges Hobby, das Fernsehen, suggerierte und untermauerte ihre Wertvorstellungen mit verdummenden Nachtmittags-Talkshows, in denen asoziales Verhalten zur Normalität hochstilisiert wurde.
Soziales Pulverfass und Hängematte, nannten es die rechtspopulistischen Agitatoren, ohne auch nur einen Tag in diesem Viertel verbracht zu haben, wer saufen kann, kann auch arbeiten.
Auch ohne Arbeit muss man doch nicht so leben, sagten die Gutmenschen, die ebenso wenig Praxiserfahrung besaßen.
Marina war nie ein schönes Kind gewesen und hatte nie davon geträumt, ein mal ein Star zu sein. Als Jüngste hatte sie die Kleidung ihrer großen Schwestern auftragen müssen, war stets schmutzig gewesen und trieb sich lieber in der Scheinwelt der Konsumtempel herum, anstatt in der Schule als Assi beschimpft zu werden, weil sie keine Markenkleidung besaß. Mit 16 wurde sie schwanger – es folgten drei Kinder, die nun unten im Hof mit den anderen unter dem Dreck nach weißem Sand buddelten.
Deren Stiefvater war noch nicht vom Amt zurückgekommen. Seitdem Arbeitslose als Kunden beschönigt wurden und die Meldestelle einer Hotelrezeption glich, nahmen sich die wenigen verblieben Vermittler mehr Zeit, um den Anschein zu wahren, dass jede Nummer ernstgenommen wurde. Auf die bereinigte Statistik hatte dieser neue, künstliche Schein jedoch keine Auswirkung; und so wechselten auch weiterhin die Vorstände der Arbeitsämter von der Unfähigkeit in den überbezahlten Vorruhestand.
Marina kannte diese Zusammenhänge. Sie kannte den Teufelskreis aus Erziehung, Milieu und gesellschaftlicher Ausgrenzung, doch sie war zu schwach, um etwas verändern zu können. In nüchternen Phasen versuchte die junge Mutter Ausbruchspläne zu schmieden – doch ohne Grundlage versanken sie bald wieder im Sumpf der Hoffnungslosigkeit. Freund Wodka besaß ein Gesicht – Feind Sozialpolitik war hingegen anonym und unangreifbar.
Aus ihrer Stereoanlage dröhnte die Rosenberg – autoreverse – Marina sang die Schnulzen losgelöst mit. Wenn Engin, ihr Mann, daheim war, hatte die Rosenberg nichts zu melden. Engin nannte es Homomucke und stand wie jeder ordentliche Türke auf Hip-Hop und Gansta-Rap. Er gehörte zur Klasse der Neutürken, seine Kanaksprak verriet ihn mitunter. Doch Marina war eine der wenigen des Ghettos, die von sich behaupten konnten, glücklich verheiratet zu sein. Engin hatte entgegen den Plänen seiner Eltern eine Christin mit drei Kindern zur Frau genommen - und Marina geliebt, nie geschlagen oder auch nur ein böses Wort gegen sie gerichtet. Eine kleine Insel des Glücks inmitten eines Ozeans aus Auswurf und Gewalt, dachte sie und schaute zu ihren spielenden Kindern hinunter. Babette war die Älteste der drei und passte auf ihre Geschwister auf. Sie war ein schönes Kind und sollte es einmal besser haben, schwor sich Marina. Sie schraubte den Deckel auf die halbleere Wodkaflasche und schmiedete einen neuen Ausbruchsplan, doch die Realität war ernüchternder als die Abstinenz.
Die Wohnungsgesellschaften der Blocks wechselten so oft wie die Investoren, die auf ihrer Steuerflucht nach Abschreibungsobjekten gierten. Dementsprechend war der Zustand der Gebäude. Putz blätterte von den Wänden, Fahrstühle stellten ihren Dienst ein, Grünanlagen verkamen zu Deponien von Hausmüll und anderem Unrat. Polizeistreifen trauten sich nur am Tage in dieses Viertel – nachts glich es einer rechtsfreien Zone. Das ist keine Grundlage, dachte Marina – ihr letzter Gedanke, bevor der Balkon abriss und mit ihr durch 14 weitere marode, trostlose Überhänge in die Tiefe stürzte ...

***

Am anderen Ende der Stadt wollte man von all dem nichts wissen. Hier residierten die honorigen Bürger, Stadtväter, Abgeordnete und Schönheitschirurgen in ihren weißen Villen. Ihre Gärten und Swimmingpools wurden von Fachpersonal gepflegt – nicht ein welkes Blatt störte die Perfektion ihrer Anwesen. Ihre Kinder träumten nicht von Ferien am Meer, da ihr ganzes Leben einem immerwährenden Luxusurlaub glich. Getrunken wurde auch hier, jedoch galt es als chic, seine Gäste mit edlen Getränken zu bewirten, von denen jede einzelne Flasche den Wert eines Monatsunterhalts einer minderbemittelten Familie besaß.
Aus ihren Multimediacentern säuselte Chopin oder Beethoven – je nach Stimmung.
Freifrau von Lembach erhielt ein Fax über den tragischen Unfall, der sich in einer ihren vielen Abschreibungsobjekte ereignet hatte. Sie sendete es mit Anweisung um Bearbeitung an ihren Anwalt weiter und wendete ihre Aufmerksamkeit wieder an die Damen ihrer wöchentlichen Teerunde.
Die Probleme dieser feinen Gesellschaft fußten auf stagnierenden Zinserträgen, Aktiendepots und auf dem inneren Wettstreit von Prunk und Ansehen, während in den Armenvierteln die tägliche Entscheidung Toast, Bier oder Vollkornbrot vorherrschte. Niemand dieser Damen hätte auch nur eine Woche in der Anderwelt überlebt.
Die Türglocke läutete die Melodie des Big Ben – ein Restaurantbote lächelte freundlich in die Überwachungskamera und die Lembach betätigte den Öffnungsmechanismus der schmiedeeisernen Pforte.
Der Bote trat ein und folgte der Hausherrin ins Wohnzimmer. Die Hausbibliothek bestand aus schweren Ledereinbänden – die Besitzerin kannte sie nur vom Titel. Lesen war das Hobby des Bildungsbürgertums, von dem sich die Lembach als angehörige des Geld- und Erbadels distanzierte. Sie wies den Boten an, die Austernkühlbox abzustellen und kramte in ihrer Geldbörse nach einem bescheidenen Trinkgeld.
„Wo ist denn der hübsche Pierre, der uns sonst immer bedient?“, wollte eine der Damen wissen. Die Hochnäsigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Der Bote grinste, öffnete die Kühlbox und entnahm einen Klarsichtbeutel mit bunten Pillen. „Der Pierre hat heut’ wohl besseres zu tun, als euch Votzen in den Arsch zu kriechen.“
„Wie bitte?“ Die Lembach wurde kreidebleich und stütze sich an einer edlen Anrichte ab.
Der Bote öffnete seine Jacke und zeigte auf eine Waffe, die hinter seinem Gürtel klemmte.
Dann warf er den Pillenbeutel auf den Tisch. „Wir machen eine kleine Reise nach Anderwelt, dort sind eure Tickets. Fresst oder ich knall euch ab!“

Freifrau von Lembach lief der Schweiß über Sabatinis Luxus-Makeup und mäandrierte zu hässlichen weißen Linien. Die feinen Damen ihrer Teerunde trugen groteske Masken und schlampig gerollte Lockenwickler. Die Lembach versuchte ihre Augen zu schließen, doch die Bilder durchdrangen ihre Lider. Ihre Gespielinnen gackerten, keiften und gerieten sich in die Haare. Seltmann-Weiden zerbrach auf weißem Marmor. Die Noblesse wich furienhafter Ausfälligkeit. Sie tobten und zerschlugen das edle Interieur der Villa, kratzen, bissen und vokalisierten in unerhörter Sprache. Lembach kroch auf allen Vieren zum Flur, versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Doch dort stand Engin, versperrte ihr den Weg zum Ausgang und erzählte ihrem LSD-geschwängerten Verstand Eindrücke und Fakten über einen Ort, wo kleine Kinder hoffnungsvoll nach weißem Sand auf schmutzigen, verkommenen Spielplätzen gruben und wo die Bausubstanz durch die Gier ihrer Eigentümer lebensbedrohliche Zustände erreichte. Er zog vier Fotos aus seiner Jackentasche und hielt sie der Hausherrin nacheinander vor die Nase. „Marina Güngür, 24. Ich kannte jeden Teil ihres Körpers, doch was man mir während der Identifizierung zeigte, besaß keine Ähnlichkeit mehr mit meiner Marina. Stephen und Isabelle Güngür, vier und fünf Jahre alt. Verletzt von herabfallenden Betonbrocken. Babette Güngür, sieben. Sie musste es mit ansehen und steht unter Schock. Und nur weil die Kinder noch leben, lebst du auch noch ...“
Er kniete sich hin, ergriff die feine Dame am Kinn und starrte ihr in die Augen.
Sie nässte sich ein und versaute den teuren, handgeknüpften Perserteppich.
„Wer Gewinne auf Kosten anderer erzielt und dabei über Leichen geht, sollte wissen: Anderwelt ist jederorts“, sagte Engin und zielte der Lembach in lässiger Gansta-Rapper-Manier zwischen die Augen. „Kuckst du? Peng!“

Ein Nachbar schaute fassungslos über die Hecke seines angrenzenden Anwesens und zückte sein Handy. „Polizei? Dr. Wilhelm Schreiber, ich möchte eine massive Ruhestörung melden. Parkstraße 17 ... Ja, das Anwesen derer von Lembach. Mir scheint, dort laufen wilde Drogenparties. Wie? Nun, ältere Damen springen halbbekleidet über den Rasen und benehmen sich recht ... seltsam. Dieser Zustand ist nicht tragbar ... Sie schicken einen Streifenwagen? Danke, das werde ich meinem Freund, dem Herrn Bürgermeister, ausrichten. Wo kämen wir auch hin, wenn sich jeder wie ein Asozialer benehmen würde? ...“

Engin hatte einen Job gefunden - unvermittelt. Er wusste, dass er ihn wieder verlieren würde, sobald die Teerunde vernehmungsfähig war ... doch er liebte Marina noch immer, als das Sondereinsatzkommando eintraf und die Furien der Parkstraße 17 in vorläufiges Gewahrsam nahm. Nur für Freifrau von Lembach kam jede Hilfe zu spät – der Schuss aus Engins Wasserpistole hatte ihr den Rest gegeben und sie von den Problemen ihrer Welt erlöst – ein tragischer Unfall.
In der Villenallee standen Eltern mit ihren Kindern in fit for fun Freizeitanzügen und klatschten Beifall. Marina war zu schwach gewesen, um zu Lebzeiten etwas zu verändern, aber als Märtyrerin war sie stark; und der Feind besaß nun ein Gesicht.
„Mein Blauer Engel“, flüsterte Engin, „hättest du nur einen Tag mehr gehabt, um diesen Augenblick zu erleben ... es hätte dich sicher auch ohne Wodka amüsiert.“

***


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