Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Februar 2004
Hey Typ, isch bräucht emol en Euro ...
von Reiner Dölger

Welch ein Ansinnen! Herb aus meinen Versonnenheiten gerissen, sah ich meinen Gegenüber schwanken, hin und her wie eine Raubkatze vor dem Sprung, nur eben betrunken. Nie hatte ich herausfinden können wie dieser typische Alkoholgeruch zu Stande kommt, Bier riecht nicht so für sich, Wein nicht, Schnaps nicht. Für solche Studien bleibt ein Moment Zeit, denn diese Menschen sind nicht mehr so schnell. Wie durch ein Labyrinth müssen sich Worte zu Ihnen vorkämpfen oder verlaufen sich ganz und gar. Es muss also auch Schmutz am Geruch beteiligt sein, aber da kam hier so viel in Frage: War es das strähnig-staubige Haar, das wie mit einem Grauschleier überzogene Gesicht oder die Kleider, die so lang keine Trommel mehr von innen gesehen hatten?

Er hatte sich schon wieder von mir abgewandt, ein wenig murmelnd anderen Wartenden zu, die die Haltestelle so hilflos gemacht hatte wie mich. Ich und sie standen um abgeholt zu werden und wie das geduckte Stillhalten eines Rehkitzes im Wald ist das ein auf seine Weise gefährlicher Zustand.
Aber es ist auch eine gute Gelegenheit, in die Gesichter der Umstehenden hineinzusehen und herauszulesen. Wie Wellen auf dem Wasser manchmal Gegenstände aneinanderbringen, kann durch eine solche kleine soziale Aufwühlung leicht ein Kontakt entstehen. „Arme Sau“, sagte ein etwa 40jähriger Mann halb zu sich, halb in meine Richtung. Tatsächlich hatte sich aus größerer Entfernung der Eindruck der Erbarmungswürdigkeit deutlich verstärkt: der schlurfende Gang, mehr ein Schleifen, die Tatsache, dass dieser Mensch doch wohl alleine hier war, die gebetsmühlenartige, stupide Wiederholung des selben, unbefürwortbaren Satzes

„ Dem hat das Leben ins Gesicht geschrien und jetzt rennt er verstört umher“ gab ich meine Meinung preis. Sie brachte mir einen zweifelnden Blick des Erstsagers ein, der den Kopf etwas schräg hielt, aber die Strecke zwoscehn Mundwinkel und Augen ein Stück verkürzte. „Sie sind wohl Philosoph ? , aber klar und gerade gesagt, eher ein Kompliment. „Nein, aber ich glaube ganz fest, dass nur ein Unglück, ein schwerer Hammerschlag des Schicksals, der Funken sprühen lässt, einen Menschen so werden lassen kann“. „Oder das Saufen“ holte mein Buswartekamerad mich in die überschaubare Ebene der Wahrscheinlichkeiten zurück, „aus Saufen kann leicht so was werden. Das Hirn geht schon ziemlich bald und später dann die Leber“. „Aber wer säuft denn einfach so drauflos, dafür gibt’s doch immer einen Grund. Keine Arbeit mehr vielleicht, die Frau durchgebrannt, ein Kind überfahren und davon nicht losgelassen worden“ nannte ich nur einige Ursachen, die da am Anfang gestanden haben mögen.
Nun erwiderte der Andere in einem lakonischen Ton: „Ich kannte mal Einen, der liebte traurige Märchen so sehr, dass er jedes Mal, wenn er eines gelesen hatte, eine Flasche Wein trinken musste. Dann sass er da und weinte vor Freude oder Mitgefühl. Und ich manchmal dabei. Ganz geheuer war mir das natürlich nicht. Denn irgendwann merkte ich, dass er auch noch Tabletten nahm. Uns so kam bei ihm eines zum Anderen, und die traurigen Märchen haben ihm das Leben gekostet.“

„Mein Gott, wohin kann die Welt das Leben drehen“ kam es mir in den Sinn und von dort in den Mund. „Ich suchte mit den Augen den Platz nach dem Bittsteller ab, aber einige Busse waren angekommen und nahmen mir schon zu vielen Ecken die Sicht. Auch unser Bus fuhr jetzt ein, die Linie 66. Der Andere war verschwunden, wohl woanders eingestiegen. Um noch ein wenig nachzudenken, setzte ich mich an einen freien Fensterplatz, und vielleicht würde ich ihn ja so noch entdecken.
Ich nahm mir fest vor, mir die Geschichte mit den Märchen zu Herzen zu nehmen, sie war tatsächlich traurig und traurige Geschichten rühren uns doch an von Kindheit. Und mir fiel wieder ein, dass ich als Kind Obdachlose für verzaubert gehalten hatte.

Als der Bus röhrend eine Kurve nahm, konnte ich den Platz wieder übersehen, indem ich den Kopf drehte. Ich sah ihn zum Eingang des Bahnhofs schlurfen, noch immer wie beiläufig Leute ansprechend, aus deren vergeblich eilender Haltung schon ein wenig Enttäuschung über die Wartezeit in der kalten Nacht hervorschaute.
Wie mechanisch und aus Gewohnheit fuhr ich mit der Hand in die Jackentasche. Dort war der Euro, kühl, hart und rund.


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