Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Februar 2004
Cool
von Manuela Mühlethaler

„Gerhard“, ruft Barbara ihrem Bruder nach, als er gerade das Haus verlassen will. Er reagiert nicht. Barbara kichert. Sie weiss ja, dass er auf diesen Namen nicht mehr hört. Sie will ihn nur ein bisschen ärgern. Seit ein paar Wochen nennt er sich Josi.
Die Mutter staunt, als sie ihren Sohn aus dem Haus gehen sieht. Sein Haar trägt er ganz verwegen aus der Stirn gekämmt. Tubenweise Gel hilft, die Frisur in Bann zu halten. Das pomadige Haar glänzt künstlich im Tageslicht. Vor ein paar Tagen hat er sich eine grüne Strähne ins Haar färben lassen.
“Grässlich“, denkt sie, als sie ihm nachschaut.
Seine Ersparnisse der letzten zwei Jahre hat er für neue Kleidung ausgegeben. Nun trägt er viel zu weite Jeans und klobige Schuhe mit hoher Sohle. Gestern hatte sie ihn zufällig beobachtet, wie er tänzelnd vor dem Spiegel seinen neuen Gang übte und dabei immer wieder vor sich hin nuschelte: „Cool, wow, das sieht cool aus, supercool, megacool“.
„Das soll mein Sohn sein, ganz untypisch“, findet sie, schüttelt den Kopf, öffnet das Fenster und ruft ihm nach: „Gerhard“. Aber er reagiert nicht.
„Josi“, probiert sie es noch einmal.
Sein Kopf schnellt zurück und sie sieht seinen spöttischen Gesichtsausdruck.
„Spätestens um zehn Uhr bist Du wieder zu Hause.“
Ein lässiges Lächeln, ein cooler Augenaufschlag, dann war Gerhard oder Josi um die Ecke.
Josi geht zügig den Gehsteig entlang. Den Kopf hat er gesenkt, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ab und zu stösst er salopp einen Stein vor sich her, den er zufällig auf dem Gehweg liegen sieht. Er denkt an den gestrigen Streit mit seiner Mutter. Was hat sie nur. Plötzlich ist sie gegen alles was er sagt und tut. Sie mag seine neuen Freunde nicht und motzt ständig an seiner Kleidung herum.
„Du wirst Dich ziemlich blamieren in diesem Aufzug,“ hatte sie ihm wütend entgegen geschrieen, nachdem er ihr ins Gesicht schmetterte, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen, er würde sich in Zukunft so kleiden, wie es ihm passe.
„Alles Quatsch“, brummelt er vor sich her, „ich blamiere mich nicht, ganz im Gegenteil“. Er läuft etwas schneller, als könnte er so dem Ärger zu Hause davon laufen.
Vor einem Schaufenster bleibt er stehen und tut so, als betrachte er die Auslagen darin.
„Megacool“, findet er erneut, als er sich im Spiegelbild sieht. Er ist sicher, an seinem Outfit gibt es nichts auszusetzen. Schnell verscheucht er die Gedanken an seine Familie, läuft weiter, da stösst ihm sein Kumpel, mit dem er in der Disco verabredet ist, von der Seite den Ellenbogen in die Rippen, dass ihm fast die Luft wegbleibt.
„Hey Matte”, sagt er und versucht den Schmerz zu unterdrücken.
“Hey Josi. Cool was”?
“Supercool”.
Nach diesem äusserst aufschlussreichen Wortwechsel schlurfen beide stillschweigend nebeneinander her, bis sie ihr Ziel erreichen.
In der Disco werden sie schon erwartet. Da stehen Heli, Ratte und Mustang. Ihre richtigen Namen kennt niemand und sie interessieren auch nicht. Gerhard, Thomas, Martin, Matthias, Michael, solche Namen sind ätzend, da sind die Fünf sich einig.
„Hey Ratte, voll cool heute der Sound“, begrüsst Josi seinen Freund. Ratte nickt zur Begrüssung nur mit dem Kopf und nickt gleich weiter, immer im Takt der Musik. Josi tut es ihm gleich, auch er fängt an zu nicken, ebenfalls im Takt der Musik. Die Stimmung in der Disco ist gut und Josi fühlt sich toll. Er braucht nur noch etwas zu trinken. Einen Kuba libre. Es bleibt aber nicht bei einem. Erst gibt Heli einen aus, dann Ratte, dann Mustang, dann Matte. Als Josi an der Reihe ist, kann er kaum noch sehen. Die Augenlider klappen zu, von selbst. Die Worte fallen lallend aus seinem Mund und landen irgendwo, er kann sie nicht mehr steuern. Es sind nur noch Gesprächsfetzen, die er wahrnehmen kann.
Bevor er die Disco verlässt, versucht er noch ein letztes „Cool“. Der Kuba libre hat ihm zugesetzt, aber dass soll niemand merken, deshalb reisst er sich noch ein letztes Mal zusammen und verlässt die Disco, so aufrecht wie es ihm möglich ist.
Aber wohin soll er gehen. Nach Hause kann er nicht. Wenn ihn seine Mutter so sieht, bekommt er grossen Ärger. Ausgangssperre wäre die Folge und das wäre doch zu peinlich. Auch auf das hämische Grinsen seiner Schwester kann er verzichten, dass sie auflegen wird, wenn sie von seinem Rausch und den Folgen erfährt.
Ein bisschen muss er überlegen, dann fällt ihm ein, dass hinter der Disco der kleine Dorfbach fliesst. Das ist die Idee. Dahin will sich Josi retten, eine Weile im Gras sitzen, nüchtern und wieder cool werden.
Es ist dunkel und Josi findet den Weg kaum. Es gibt keine Treppen, nur struppiges Gelände und er erkennt die gefährliche Situation nicht. Stakst weiter, schwankt dem Bach entgegen, die Böschung hinunter. Nichts ist mehr cool, ihm ist kotzübel und er spürt, wie sich ganz langsam sein Inneres nach Aussen kehren will.
Da passiert es. Er strauchelt über einen Grashügel und stolpert, kann sich nicht mehr halten, kollert den kleinen Hang hinunter und landet ohne Zwischenhalt im Bach.
Platscht!
„Mist“, flucht er und versucht schnell aus dem eiskalten Wasser zu kommen. Es gelingt ihm erst beim dritten Anlauf. Der Alkohol hat ihm seine ganze Kraft geraubt. Langsam ärmelt er sich aus dem zügig Dahinfliessenden Gewässer und steht endlich am Ufer, patschnass und frierend.
Plötzlich setzt lautes Gelächter ein. Seine Freunde, die kurz nach ihm die Disco verlassen haben müssen, stehen ein paar Meter weiter, schauen ihm zu, wie er sich mühsam ans Ufer robbt.
Der Schreck fährt ihm in die Glieder.
„Wo kommt ihr denn her“, kann er nur noch stottern, dann läuft er davon. Er kommt nicht recht vorwärts. Die nassen Kleider sind schwer und die Schuhe mit den hohen Sohlen sind nicht für die schnelle Gangart gemacht. Er hört das Grölen seiner Freunde hinter sich. Das Wasser in seinen Schuhen quietscht und platscht, als wolle es ihn ebenfalls auslachen.
Es wird ihm heiss. Schamröte steigt ihm ins Gesicht. Das hätte ihm nicht passieren dürfen. Wie uncool.
Jetzt ist ihm alles egal. Er läuft nach Hause. Nur mühsam unterdrückt er seine Tränen. Vor der Wohnungstür kramt er nach seinem Schlüssel. Den hat er verloren.
„Auch das noch“, denkt er, überwindet sich und klingelt. Seine Mutter öffnet ihm. Er läuft an ihr vorbei in sein Zimmer, schliesst sich ein und hofft, dass er heute mit niemanden mehr reden muss.
Es bleibt ruhig an diesem Abend. Bald legt er sich ins Bett. Wenn er die Augen zumacht, kreist das Zimmer um ihn, dann ist die Gefahr gross, dass ihm das Abendessen hoch kommt und das will er auf jeden Fall verhindern. Also probiert er es immer wieder. Er schliesst die Augen und sobald das Kreisen einsetzt, öffnet er sie wieder. Irgendwann schafft er es und fällt in einen tiefen Schlaf.
Als er am nächsten Morgen an den Frühstückstisch kommt, ist die ganze Familie bereits versammelt. Seine Mutter lächelt ihn an, die Schwester fragt ihn fröhlich, wie es gestern in der Disco war.
Er sagt nicht viel, isst nichts, trinkt einen Pfefferminztee, der wird ihm hoffentlich helfen, dieses schale Gefühl aus Bauch und Kopf zu kriegen.


© Manuela Mühlethaler, Würenlos

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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