Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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März 2004
Blutdurst
von Sabine Ludwigs

Als ich ein Junge von 10 Jahren war, fand ich einen jungen Vogel im Park. Er konnte noch nicht fliegen. Behutsam hob ich ihn auf und schloss schützend meine Hände um ihn. Der Winzling schlug wild mit den Flügeln und hörte nicht auf! Zitternd streiften die Schwingen meine Handflächen. Voller Angst. Voller Verzweiflung. Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte, oder ganz einfach zu erschöpft war, um weiter zu kämpfen. Endlich hörte das Flattern auf.
Das war lange her; doch in diesem Augenblick erinnerte ich mich daran, denn mein Herz schlug, als hätte man es gegen den Vogel ausgetauscht: Zittrig, schwach und unbeständig – bis das Flattern schließlich ersterben würde.
Während ich dem verzagten Vogel in meiner Brust lauschte, wartete ich auf den Tod. Mir war entsetzlich kalt. Ich hatte Angst. Meine Glieder waren steif und ungelenk, aber ich drehte den Kopf und warf einen prüfenden Blick auf die tote Frau auf dem Stuhl. Ihre blinden Augen waren bereits trüb. Es sah aus, als hätte sich Nebel darauf gebildet. Trotzdem war sie noch immer eine Schönheit.
War sie wirklich tot?
Wie zur Antwort, hörte ich Anubis draußen durchdringend heulen. Das Klagen durchschnitt die Stille der Nacht. Seine Herrin war nicht mehr.
Wie hatte es so weit kommen können? Warum hatte Selene das getan?
Es hatte doch alles so harmlos begonnen...
„Frag` doch den Grafen! Der vermietet an Studenten.“ Kevin saß mir in Uni-Bibliothek, gegenüber und drehte sich ungeniert einen Joint. Gerade hatte ich mich bei ihm beklagt, dass es mich zuviel Aufwand, Zeit und vor allem Geld kostete, täglich zwischen der Uni und meiner Wohnung hin und her fahren zu müssen. Die Entfernung war einfach zu groß.
„Wer ist denn der Graf?“, erkundigte ich mich.
„Graf Wolf Alexander Tepes von Wismar. Alter, verarmter Adel. Witwer. Er hat auf seinem Landgut die ehemaligen Gesindehäuser modernisieren lassen. Sie wurden zu Appartements umgebaut. Ein Zimmer, Kochnische, Dusche. 35 qm. Alles prima in Schuss, echt gemütlich. Bis zur Uni ist es ein Katzensprung. Und vor allem erschwinglich!“, erläuterte er. „Den Tipp habe ich von Christina.“
„Und wieso wohnst du nicht da?“
Er seufzte. „Ich habe dort gewohnt. Bis Christina bei einer Mitternachtsparty mitbekam, dass mir des Grafen Töchterlein schöne Augen machte. Da war Schluss mit lustig! Du kennst ja Tina - niedlich, aber eine eifersüchtige Furie! Ich wohne jetzt bei ihr.“ Seine Miene verdüsterte sich. „Obwohl ich sie im Verdacht habe, dass sie noch was anderes laufen hat. Sie hat sich verändert, seit sie aus den Staaten zurück ist. Und mir gönnt sie nicht mal einen harmlosen Flirt mit einer scharfen Braut.“
„Du kannst einen ganz schön neugierig machen! Wie sieht die kleine Gräfin denn aus?“
Kevin betrachtete mich sinnend. „Umwerfend.“ Sagte er schließlich. „Schlicht und ergreifend umwerfend. Wer von den Jungs nicht hinter der her war, ist entweder blind oder schwul.“ Ich fiel in sein Lachen ein. „Ihr Vater hatte ständig ein Auge auf sie. Sie ist ja noch ein Küken! Vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Außerdem schien ihr sowieso keiner gut genug. Ich wette, dass dort regelmäßig junge Männer verschwinden, hat auf jeden Fall mit der Kleinen zu tun! Entweder werden die Jungs von ihrem Herrn Papa vergrault oder von eifersüchtigen Freundinnen!“, grinste er.
„Übertreib mal nicht!“
Er leckte die Blättchen und pappte die unförmige Zigarette zusammen, bevor er zufrieden sein Werk betrachtete. „Keine Übertreibung! Sie ist `ne Wucht! Groß, schlank mit `ner geilen Figur! Rabenschwarze Haare, bis zum Hintern. Oh Mann, die hätte ich gerne mal vernascht!“, schwärmte er. „Aber unnahbar. Wie eine Eisberg. Sie gab den Ton an. Typisch höhere Tochter!“
Er stand auf und kramte umständlich in seinem Rucksack. Dann reichte er mir eine zerknitterte, speckige Visitenkarte über den Tisch. „Hier hast du Adresse und Telefonnummer. Versuchs doch einfach mal, Markus.“ Ich streckte meine Hand aus und nahm mein Todesurteil erwartungsfroh entgegen.
Noch dreiundzwanzig Tage, bis zu meinem Tod.
Schon für den nächsten Abend hatte ich einen Termin mit dem Grafen vereinbart. Alles war genau so, wie Kevin gesagt hatte: Es war ein Appartement frei! Gemütlich möbliert, mit kleiner Terrasse und nicht zu teuer. Der Graf war ein netter Herr, den ich mir wesentlich älter vorgestellt hatte. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er hatte große Ähnlichkeit mit Antonio Banderas. Bis auf die blasse Haut. Seine Tochter hieß Selene. Und sie war tatsächlich umwerfend! Das schwarze Haar glänzte, ihre Augen hatten das blau heller Aquamarine. Die Haut war weiß wie Sahne, ihre hellen Lippen üppig. Sie stand neben ihrem Vater. Gemeinsam erwarteten sie mich.
Ein muskulöser, schwarz-brauner Dobermann-Rüde stand regungslos neben ihr. Er war riesig! Trotz des geltenden Verbotes, waren seine Ohren und sein Schwanz kupiert, was ihn noch schlanker und größer erscheinen ließ. Seine Blicke folgten mir, während ich den Hausherrn begrüßte. Als ich seiner Tochter die Hand reichte, knurrte der Hund warnend aus tiefster Kehle. „Still, Anubis!“, befahl die junge Frau. Das Tier gehorchte sofort. Selene entschuldigte sich, dass sie noch eine Runde mit dem Hund spazieren gehen wollte und verabschiedete sich.
Nachdem die wenigen Formalitäten erledigt waren, konnte ich noch am gleichen Wochenende einziehen! In der Nacht wälzte ich mich ruhelos in dem ungewohnten Bett herum. Schließlich stand ich auf, um auf der Terrasse noch eine Zigarette zu rauchen. Ich rauchte nie in der Wohnung. Im Schein des fast vollen Mondes, sah ich sie sofort: Selene und einen großen, gutaussehende Mann. Anubis stolzierte in einigem Abstand hinter dem Paar her.
Selene lachte, legte ihre Hände in den Nacken des Mannes. Sie zog ihn zu sich herab, küsste ihn lange und intensiv. Eng presste sie sich an ihn. Ich konnte seine raue Stimme hören, verstand aber nicht, was er sagte. Sie biss ihn neckisch in Hals. Ein leiser Wehlaut entfuhr ihm. Schließlich nahm sie seine Hand, und zog ihn mit sich fort.
Unerwartet verspürte ich einen leichten Stich der Eifersucht.
Plötzlich blieb Selene stehen und drehte sich um. Hastig verzog ich mich in den Schatten eines Strauches. Sie blickte genau ich meine Richtung, als könnte sie mich deutlich sehen. Dann sprach sie leise zu Anubis und verschwand mit ihrem Begleiter im Wald. Unerklärlicherweise fühlte ich mich verlassen und betrogen.
Der Hund saß aufrecht auf der Lichtung. Zwischen mir und dem Wald. Seine Augen leuchteten im Dunkeln. Gelb, wie die einer Katze. Seine Ohren waren aufgerichtet, sein schmaler Schädel mir aufmerksam zugewandt. Er sah aus, wie eine altägyptische zum Leben erwachte Gottheit. Ein Schakal. Anubis.
Ich ging hinein. Mein Schlaf war unruhig. Ich erwachte im Morgengrauen. Als ich aus dem Fenster sah, hockte Anubis noch immer an der gleichen Stelle. Den Blick scheinbar unverwandt auf mich gerichtet. Wie eine Statue. Mich fröstelte. Wieso nur, bereitete mir dieses Tier solches Unbehagen?
Noch neunzehn Tage, bis zu meinem Tod.
Thomas Lichtenberg. Appartement 3D. Das war ihr Auserwählter. Ich konnte nicht erklären, warum es mich überhaupt interessierte. Aber so war es!
Vier Nächte hintereinander trafen er und Selene sich auf der Lichtung. In ihren stets weißen Kleidern wirkte sie überirdisch. Und ein wenig unheimlich. Nach ihren Küssen erhöhte sie das Maß ihrer Zärtlichkeiten, ließ zu, dass ich die Steigerung seiner Lust mit ansah. Wie ihre Hände über seinen Körper wanderten, ihre Küsse leidenschaftlicher wurden und sie ihn überall berührte. Sie presste ihren Unterleib gegen seinen, rieb sich träge an ihm. Ich meinte, sein Verlangen zu spüren, und schließlich, wenn sie ihr Kleid öffnete, nur, um ihm die Berührung ihrer Brüste zu verweigern, seine Erregung. Seine Hände band sie mit einem weißen Seidenschal hinter seinem Rücken zusammen. Er durfte sie nie anfassen! Wenigstens nicht bis zu diesem Augenblick.
Und danach? Darüber zerbrach ich mir den Kopf - denn hier endete die Inszenierung! Dann verschwanden sie im Wald. Es war immer der gleiche Ablauf! Ich weiß es, weil ich stets pünktlich auf meinem Beobachtungsposten stand. Wie unter einem Zwang. Sehnsüchtig. Und mit einem pochendem Steifen. Und doch konnte ich mich nicht abwenden! Denn ich wartete auf ihren Blick. Den Blick zurück. Nur mir galt dieser Moment, wenn sie zu mir sah, bevor sie mit Thomas verschwand. Sie vergaß es nie! Mir war, als gäbe sie mir jedes Mal ein unausgesprochenes, süßes Versprechen: „Bald. Bald bist du an der Reihe!“, schienen mir diese Blicke zu sagen.
Es war unbegreiflich, zumindest schwer erklärbar! Vielleicht war es so etwas, wie Liebe auf den ersten Blick. Gab es Begehren oder Geilheit auf den ersten Blick? Ich versuchte nicht länger, eine Antwort darauf zu finden, akzeptierte, dass es bei mir so war. Ich verzehrte mich nach ihr! Jedes Mal spürte ich den Stich im Herzen, wenn sie mit Thomas davonging.
Den Schakal, wie ich Anubis insgeheim nannte, ließ sie zurück. Er würde niemanden vorbeilassen, der seiner Herrin folgen könnte. Jemand hatte ihn sehr gut abgerichtet.
Noch fünfzehn Tage bis zu meinem Tod.
Der Bewohner von Appartement 3D war krank.
Eines morgens stand er vor meiner Tür. Totenbleich und schweißnass. Ein Schatten seiner selbst. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich erschrak, als ich sein ausgezehrtes Gesicht und die dunklen Ringe unter den Augen sah. Der Schatten seines Bartes ließ ihn noch blasser erscheinen. Auf der linken Halsseite klebte ein großes Pflaster. „Hast du eine Cola und ein paar Zigaretten für mich? Ich fühle mich nicht wohl, kann heute nicht einkaufen.“
„Klar. Komm rein.“
Er schlurfte in mein Zimmer, und ließ sich unaufgefordert auf dem ungemachten Bett nieder. Er zitterte am ganzen Körper. Vermutlich hatte er Fieber. Ich packte ihm eine Cola und ein paar selbstgedrehte Zigaretten in eine Tüte. „Was fehlt dir?“, fragte ich, „du siehst beschissen aus, Alter!“
„Ich weiß nicht, Mann. Bin schlapp und müde. Mir ist schwindlig und übel. Der Magen kann es nicht sein. Muss weder Kotzen noch habe ich Durchfall. Außerdem habe ich ständig Heißhunger auf ein gegrilltes Steak. Innen schön blutig,“ sagte er matt, „also kann es wohl nicht der Magen sein, oder?“
„Vielleicht der Wetterumschwung,“ schlug ich lahm vor.
„Kann sein. Von der Sonne bekomme ich heute sogar Kopfschmerzen. Hey, danke Mann. Du hast was gut bei mir. Ich hau mich wieder hin.“ Er nahm die Plastiktüte und stand auf. Ich begleitete ihn zur Tür. „Gute Besserung!“, wünschte ich ihm. Als Antwort hob er kurz die Hand und schlich, die Schatten suchend, den Gang entlang. Auf einmal drehte er sich um und zitierte mit verlorener Stimme:
„...du hast mich ergriffen,
und ich konnte dir nicht widerstehen
Ich bin weit gelaufen,
aber du hast mich verfolgt.
Ich habe Umwege gemacht,
aber du hast sie erkannt.
Du hast mich wieder getroffen.
Ich habe mich gesträubt,
du hast gewonnen!
...da bin ich; ich habe Ja gesagt!“

Er sah mich aus trüben Augen an. „Jeremia. Das ist aus der Bibel.“ Ich nickte. Thomas verschwand in seinem Appartement. Plötzlich schämte ich mich, dass mein Genesungswunsch nicht ernst gemeint war; denn ich hatte nur einen Gedanken: Was würde geschehen, wenn 3D heute Nacht nicht zu Selene konnte?
Ich fieberte diesem Augenblick entgegen! Meine Vorlesungen ließ ich ebenso sausen, wie meine Verabredung mit ein paar Freunden ins Kino. Überpünktlich stand ich auf der Terrasse hinter dem Busch. Die Zeit kroch dahin. Endlich kam sie! Wie immer, in einem weißen Kleid, den Hund an ihrer Seite. Selene wartete auf der Lichtung. Anubis saß auf seinem Platz. Beide schienen direkt durch den Strauch hindurch zu sehen. Auf mich. Drei Minuten vergingen. Zehn Minuten. Nichts geschah. Nach siebenzehn Minuten sah ich eine Gestalt auf Selene zutaumeln. 3D. Thomas Lichtenberg. Ohne Hemd, nur mit einer Jeans bekleidet. Barfuss. Selbst in seinem schlechten Zustand konnte er nicht von dieser Frau lassen. Und ich verstand ihn. Hundertprozentig!
Einmal mehr begann das sinnliche Spiel. Heute Nacht stützte sie ihn, als sie auf den Waldsaum zugingen. Sie verzichtete auch auf die zarte Fessel. ...du hast mich ergriffen, und ich konnte dir nicht widerstehen... Der gelbäugige Schakal blieb wachsam zurück.
Was, in Gottes Namen, stellte sie nur mit Thomas an, dass er ihr sogar in dieser elenden Verfassung folgte? ..da bin ich...
Ich fluchte.
Noch neun Tage, bis zu meinem Tod.
3D war verschwunden.
Seine Chefin, er jobbte nebenher in einem Fitness-Studio, hatte besorgt bei der Polizei angerufen. Thomas war ein zuverlässiger Mitarbeiter. Nie krank. Er fehlte nicht, ohne sich vorher abzumelden. Jetzt war er seit drei Tagen nicht zur Arbeit gekommen. Er hatte sich nicht gemeldet und war auch nicht zu erreichen.
Die Polizei behandelte den Anruf ernst und nahm sofort eine Vermisstenanzeige auf. Thomas´ Appartement war verlassen. Sein Motorrad stand im Schuppen. Geld, Papiere und Handy lagen in seinem Nachtschrank. Offensichtlich war alles da. Die Beamten befragten sämtliche Anwohner. Auch die gräfliche Familie. Und mich. Wann hatte ich Thomas Lichtenberg zuletzt gesehen? In welcher Verfassung war er da? Kannte ich seine Freunde?
Die Polizei verstärkte ihre Bemühungen. Sie suchten die Umgebung ab. Im strömenden Regen. Mit Hunden, die bei der nassen Witterung keine brauchbare Spur fanden. Sogar ein Hubschrauber wurde eingesetzt und ein kleiner im Wäldchen verborgener Teich, wurde von Tauchern abgesucht. Nichts.
Bis auf einen weißen Seidenschal.
Noch sechs Tage, bis zu meinem Tod
„Es wundert mich, dass die Bullen so einen Aufstand machen,“ meinte ich zu Kevin, „Schließlich ist Thomas ein erwachsener Mann!“ Die Semesterferien hatten begonnen. Wir saßen in Tina und Kevins Küche. Ich ließ mir die Tortellini in Schinken-Sahnesoße schmecken.
„Wieso nicht? Er ist schließlich nicht der Erste, der hier verschwindet,“ antwortete Tina, und fuhr sich geistesabwesend mit den Fingern durch ihr stoppeliges, blondes Haar.
„Wie meinst du das?“, ich war neugierig geworden.
Kevin tippte sich gegen die Stirn. „Sie hat `nen Knall!“, er schüttelte den Kopf.
Christina schob ihren Stuhl zurück und stand auf: „Von wegen! Ich wurde hier geboren und habe mein ganzes Leben im Dorf verbracht! Bis auf das halbe Jahr in New-York. Ich weiß genau, wovon ich rede! In den letzte vier Jahren sind insgesamt elf Männer verschwunden. Diese Zahl schlägt alle Statistiken. Hier, lies das. Die Vermisstenfälle reichen noch viel, viel weiter zurück!“ Sie hatte eine rote Mappe von ihrem Schreibtisch genommen und reichte sie mir.
„Was ist das?“, wollte ich wissen.
Kevin antwortete an ihrer Stelle. „Kopien von Zeitungsausschnitten über vermisste Personen. Tina hat sie zusammengetragen. Ich sage ja, dass sie spinnt.“
„Diese Menschen sind verschwunden. Das ist eine Tatsache! Und auch, dass einige von ihnen gefunden wurden. Tot. Die Vermissten der jüngsten Zeit blieben allerdings unauffindbar.“
Ich schlug den Ordner auf der letzten Seite auf. „1921!“, rief ich erstaunt. „Das ist eine Ewigkeit her!“ Ich überflog einige Schlagzeilen, begann mit den jüngsten Fällen und blätterte die Kopien im Schnellverfahren durch:
27 April 2003
JUNGE FRAU VERMISST
... Johanna Ortleb vermisst. ... zuletzt in den Wäldern von Schloss Auensee ... Wer hat..
4. Mai 1995
JUNGE TOT AUFGEFUNDEN
Am Donnerstag fanden... Florian Stetten. Der Neunjährige wies Wunden am Hals und an den Handgelenken auf... vermutlich verblutet....
15. März 1989
WO IST ANNA-MARIA?
3. August 1975
WIEDER UMHEIMLICHES VERSCHWINDEN EINES JUNGEN
18. Juli 1963
BLUTLEERER KADAVER EINES LAMMES GEFUNDEN
5. April 1950
VAMPIRE IN ROTHEN?
4. September 1947
JUNGER ENGLISCHER OFFIZIER VERSCHWUNDEN
5. Mai 1935
GRAUSAMER TOD: STUDENT KEHLE DURCHTRENNT
.... Bisswunde.... kein Tropfen Blut in der Leiche...
19. Juli 1933
VAMPIRHYSTERIE - GRÄFIN GRAUSAM ZU TODE GEPFÄHLT
...existieren Blutsauger?... Tote... Amors Pfeil...
Es gab dutzende Berichte! Sie glichen einander mehr oder weniger, sagten jedoch eines übereinstimmend aus: in Rothen verschwanden seit mindestens achtzig Jahren regelmäßig Menschen, die entweder niemals wieder auftauchten, oder deren Leichen man später fand. Verstümmelt. Blutleer. Das Phänomen reichte bis ins in die heutige Zeit – auch, wenn man ab Mitte der 60er Jahre keine Toten mehr gefunden hatte.
Falk Stein, Student und Aushilfskellner, 25 Jahre alt, groß, dunkelhaarig und gutaussehend, war das vorläufig letzte Opfer. Verschwunden. Vor sechs Monaten. Keine Spur von ihm. Der einzige Hinweis, der aus der Bevölkerung kam, stammte von einer 91-jährigen Greisin: Sie behauptete, dass die Vampirfrau zurückgekehrt sei. Vom Aussehen fast unverändert. Schön. Jung - wie 1933. Altweibergewäsch, dem kein Mensch Glauben schenkte.
Ich räusperte mich: „Diese getötete Gräfin...“
„...war die Urgroßmutter des jetzigen Grafen. Damals waren die Leute im Ort davon überzeugt, dass sie ein Vampir war. Sie verließ nur nachts das Haus.“ Tina zündete sich eine Zigarette an und stieß den Qualm genüsslich durch die Nasenlöcher aus.
Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf: Ich hatte Selene noch nie bei Tageslicht gesehen.
„Eines Tages fand man sie tot vor der Familiengruft,“ unterbrach Tina meine Überlegung. „Jemand hatte ihr einen Holzpfahl mitten durchs Herz gerammt. Mit solcher Wucht, dass die Spitze am Rücken austrat und sie auf den Friedhofsboden festnagelte. Sie nannten den Mörder Amor. Wie in einem schlechten Film! Die Familie ging danach für einige Jahre fort. Und auch, wenn niemand es laut aussprach: Es gab während ihrer Abwesenheit keine Vermisstenfälle! Niemand verschwand, niemand kam zu Tode. Die Menschen atmeten auf. Für etwa zwölf Jahre. Dann kam die gräfliche Familie nach Hause. Rate, wann das war.“
Ich suchte in dem Ordner. Es gab eine Lücke von August 1933 bis September 1945. Und dann:
29. September 1945 / WO IST ERICH BEKLEIN?
„Im August oder September 1945.“ antwortete ich.
Tina nickte. „Sie kehrten im September `45 zurück. Niemand weiß, wo sie waren. Niemand fragte danach. Der Krieg hat vieles Durcheinander gebracht. Nach ihrer Rückkehr gab es wieder Vermisste. Und auch Tote. Verstümmelt, ausgeblutet.“
„Was willst du eigentlich damit sagen?“, wollte ich wissen.
Kevin saß schweigend auf seinem Stuhl und schaute betreten zu Boden. „Ich will damit sagen, dass die Grafen von Wismar mit diesen Vorfällen zu tun haben. Sie sind die Verursacher! Sie sind verantwortlich für die Grausamkeiten. Sie sind diese... diese Blutsauger. Vampire.“
Ich lachte unsicher. „Vampire? Bist du noch ganz dicht?!“
„Nenn es, wie du willst,“ sagte Tina kalt und drückte ihre Kippe in meinen Essensresten aus. „Der Verdacht ist mir erst vor Kurzem gekommen. Als Falk Stein verschwand. Er wohnte auf dem Gut. Deswegen wollte ich, dass Kevin dort auszieht.“ Sie zündete sich eine neue Zigarette an, bevor sie fortfuhr: „Ich weiß, dass immer jemand für die Familie log, wenn es zu unbequemen Fragen kam. Angestellte. Freunde. Warum? Ich habe lange im Schloss gewohnt. Selene und ich waren Freundinnen, sind zusammen aufgewachsen. Meine Mutter hat für den Grafen gearbeitet. Sie war seine Sekretärin, bis sie schließlich kündigte.“ Sie musterte mich, erst ärgerlich. Dann besorgt. „Du solltest dort ausziehen, Markus.“
Ich schwieg. In Gedanken hörte ich den Polizisten fragen: „Wann haben Sie Thomas Lichtenberg zum letzten Mal gesehen?“ Und meine Antwort: „Vor drei Tagen. Morgens.“ - Dabei ich hatte ihn am späten Abend mit Selene gesehen.
„Wissen Sie, mit wem Herr Lichtenberg sich trifft? Kennen Sie seine Freunde?“ „Nein. Mir sind keine Freunde von Thomas bekannt. Ich wohne erst drei Wochen hier.“ - Doch ich wusste, dass er sich jeden Abend mit Selene traf.
„Wissen Sie, ob Herr Lichtenberg Drogen nimmt?“ „Nein, keine Ahnung, ob er Drogen nimmt.“ Und doch wusste ich genau, wie seine Droge hieß: Selene, Selene und immer wieder Selene!
Und ich wusste auch, dass sie bereits zu meiner Droge geworden war. Obwohl ich sie noch nicht einmal gekostet hatte, war mein Verlangen nach ihr überwältigend!
...und.ich konnte dir nicht widerstehen...
Ich verabschiedete mich überstürzt und ging nach Hause. Unentwegt ging mir Tinas Satz durch den Kopf: „Ich weiß, dass immer jemand für sie log. Warum?“
Verschwundene Menschen. Die viele Toten in den Zeitungsberichten. Grausam zugerichtete Leichen. Blutleer. Das alles waren unheimliche, grausame und ganz unbestritten furchtbare Vorfälle! Wahrscheinlich die Taten eines Wahnsinnigen. Aber Vampire? „Lachhaft,“ sagte ich laut zu mir selbst. Aber was, wenn solche Wesen tatsächlich existierten? Manchmal wurden Mythen wahr. Wie bei den Riesenkraken, die man gerne als Seemannsgarn abgetan hatte. Heute waren sie eine unbestrittene Tatsache. Wie der `ausgestorbene´ Quastenflossler. Oder das Schnabeltier. Geschöpfe, die angeblich nicht existierten, lebten im Verborgenen. Mit Sicherheit gab es noch andere unbekannte, unentdeckte Spezies. Wo würden sich Vampire verbergen? In abgelegenen, alten Gutshäusern? Warum nicht...
Noch fünf Tage, bis zu meinem Tod.
Kurz vor Sonnenaufgang erwachte ich. Ein Geräusch hatte mich geweckt. Ich lag in der Dämmerung und lauschte. Da war es! Es klopfte. War Thomas wieder da? Ich sprang aus dem Bett, öffnete die Tür. Verlassen lag der Korridor da. Still, dunkel. Ich schloss die Tür. Erneut hörte ich das Klopfen, und fuhr herum. Die Terrassentür! Draußen huschte eine schemenhafte Gestalt vorbei. Ein Schatten, zu schnell, um zu erkennen, wer es war. Ich eilte zur Terrassentür und sah hinaus. Nichts. Niemand war zu sehen. Ich ging raus. Es war eiskalt, der Rasen taufeucht. Mit klappernden Zähnen rief ich: „Thomas?“ Keine Antwort. „Thomas, bist du das? Ist alles okay?“ versuchte ich es erneut. Schweigen. Sollte das vielleicht ein Scherz sein? „Kevin? Tina? Kommt sofort raus! Ich höre euch!“, rief ich. Das stimmte nicht. Ich konnte gar nichts hören. Es war seltsam still. Unheimlich. Ich fühlte mich unbehaglich. Rückwärts ging ich wieder hinein. Sorgfältig verschloss ich die Tür, zog die Vorhänge vor. Wollte mir jemand Angst einjagen? Oder hatte ich einen heimlichen Beobachter? Schlafen konnte ich nicht mehr.
Noch vier Tage, bis zu meinem Tod.
Katrin Schuster war 27 Jahre alt und mit Leib und Seele Polizistin. Sie hatte gerade mit ihren Kollegen zu einem neuen Planquadrat gewechselt, und mit der Suche nach dem Vermissten oder einer Spur begonnen. Katrin erkannte augenblicklich, was vor ihr im regennassen Gras lag. Ihr Vater war Fleischer, sie war an den Anblick geöffneter Körper und Organe gewöhnt. Daher wurde ihr nicht schlecht und sie wusste sofort, dass es sich nicht um etwas tierisches handelte. Das Einzige, was die Polizisten abstoßend fand, war der große Biss, mit dem ein Stück aus dem Gewebe förmlich herausgerissen worden war. Anhand der Zahnabdrücke würde sie auf ein menschliches Gebiss tippen. Und das war es, was ihr Übelkeit verursachte. Sie hob den Arm, blies in ihre Trillerpfeife und rief: „Ich habe was!“ Die Kollegen blieben stehen, verharrten. Man konnte ihre Unruhe spüren. Der Einsatzleiter kam zu ihr und begutachtete den Fund. „Was, zur Hölle, ist das?“, fragte er angewidert und scheuchte ein paar dicke, träge Fliegen fort. Sie sagte ihm, was sie vermutete. Der Gerichtsmediziner bestätigte später ihren Verdacht.
Weil ihr die Sache nah ging, musste sie mit einem vertrauten Menschen darüber sprechen. Sie erzählte es ihrer besten Freundin. Wie sonst auch. Christina.
Tina schickte mir eine Mail, in der sie mir alles haarklein schilderte. Die DNA-Analyse hatte ergeben, dass es sich um die Organe von Thomas Lichtenberg handelte. 3D war tot! Sie legte mir eindingliche nah, mir eine andere Bleibe zu suchen, zu verschwinden. Die Nachricht schloss mit den Worten: Pass auf, wen du in der Dunkelheit reinlässt! Vampire können nur in dein Haus, wenn du sie einlädst! Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde... Tina
Sie musste den Verstand verloren haben! Ich hatte mich ernsthaft gefragt, ob Christina professionelle Hilfe benötigte. Zum Beispiel durch einen Psychologen. Wie sich später herausstellen sollte, war genau das der Fall! Aber da war es bereits zu spät.
Noch zwei Tage bis zu meinem Tod.
Das kleine, verschwiegene Restaurant, in dem ich mit Selene saß, war menschenleer. Wir waren die einzigen Gäste, was mir nur recht war. Es war unser erste Verabredung. Selene sah wunderschön aus! Ich war kein Romantiker, aber selbst mir fielen ihre unvergleichlichen und die fast durchsichtigen Augen auf. Ihre Lippen; Blass, voll und weich. Ihre kleine, festen Brüste unter dem weißen Kleid, das mehr zeigte, als es verbarg.
Ein junger, gutaussehender Ober kam zu unserem Tisch. Als ich ihn ansah, erschrak ich.
„Das ist doch Thomas Lichtenberg!“, raunte ich Selene zu.
Sie lachte auf. „Du irrst dich! Das ist Falk Stein, 25 Jahre alt. Student und Aushilfskellner. Er verschwand im Oktober.“
Ich hatte mich getäuscht. Jetzt erkannte ich, dass er Thomas lediglich ähnelte. Sie waren vom gleichen Typ: Groß, dunkelhaarig, attraktiv. Wie Kevin. Wie ich.
Falk goss sämigen, roten Wein in unsere Gläser, Das Kerzenlicht zauberte Lichtreflexe in die geschliffenen Rubine, die in einem altmodischen Collier um Selenes Hals lagen. Sie wirkten wie Blutstropfen auf ihrer milchigen Haut. Der Ober verschwand. Selene prostete mir zu. Ich trank einen Schluck. Der Wein schmeckte schwer, süß und ein wenig kupfern. „Gibt es keine Speisekarte?“ fragte ich Selene.
Wieder ließ sie ihr helles, amüsierte Lachen hören. „Ich esse hier immer das Gleiche,“ erklärte sie, „deshalb brauchen wir keine Karte.“ Der Kellner kehrte zurück. Er trug eine schwere silberne Servierplatte, stellte sie vorsichtig zwischen uns auf den Tisch und hob mit großartiger Geste die Speisehaube empor. „Voilá!“, rief er. „Rohe Leber. Diesmal Lichtenberg. Noch körperwarm und ganz frisch - wie Sie es mögen!“, verkündete er triumphierend.
Und da lag sie; appetitlich angerichtet, auf Salaten der Saison. Mit Zwiebelchen garniert und Röstkartoffeln als Beilage. Thomas Leber.
Selene streckte die Hand aus, nahm die dampfende, glänzende Leber und biss herzhaft hinein. Das Blut lief ihr an beiden Mundwinkel heraus. Mir kam es vor, als würde das Organ pochen, wie ein lebendes Herz. Mir wurde übel. Mit Speichel vermischtes Blut rann über ihr Kinn, tropfte auf ihr Kleid und verursachte hässliche Flecken. Als sie mich angrinste, sah ich, dass sich ihre kleinen, perlweißen Zähne vom Verzehr der menschlichen Leber verfärbt hatten. Ihre Eckzähne waren lang und spitz, wie bei einem Raubtier. Oder einem Vampir. Sie biss erneut in das zuckende Organ. Ich würgte angeekelt, als sie ein Stück aus der Leber riss und darauf herumkaute. Sie schmatzte. Ich musste mich übergeben, konnte es kaum noch unterdrücken. Selene lachte laut, und der vermisste Falk Stein, 25 Jahre alt, Student und Aushilfskellner, tat es ihr gleich. Ich schrie.
Zitternd und schweißgebadet fuhr ich mit einem Schrei aus dem Schlaf. Was für ein entsetzlicher Traum! Mein Schädel war schwer, das Herz raste und ein dumpfer Kopfschmerz machte sich bemerkbar. Kein Wunder; Ich hatte zuviel getrunken. Die Flasche Jim Beam war bedenklich leer.
Das war Christinas Schuld! Sie hatte mir unbedingt diese Mail schicken müssen. Schaudernd setzte ich mich auf. Zu meinem körperlichen Unwohlsein gesellte sich der Schock über Thomas Tod. Und mein Horrortraum. Der Schrecken saß tief und verwirrte mich. Ich knipste die Nachttischlampe an und suchte nach meinen Zigaretten. Als ich im spärlichen Licht durch das Zimmer tappte, sah ich es; Draußen, vor der Terrassentür stand eine blasse, fast durchsichtige Selene und spähte zu mir herein. Mir wurde kalt. Meine Nackenhaare richteten sich vor Entsetzen auf. Sie bedeutete mir durch ein Handzeichen, dass ich die Tür öffnen sollte. „Nein.“, flüsterte ich heiser vor Angst. Sie wiederholte das Zeichen noch zweimal. Ich öffnete nicht. Schließlich standen wir uns schweigend gegenüber; nur das kühle Fensterglas der Terrassentür trennte uns. Mein Atem benetzte die Scheibe.
Selene lächelte spöttisch. Sie knöpfte langsam ihr Kleid auf und ließ es zu Boden gleiten. Splitternackt und wunderschön stand sie im Mondlicht.
...ich habe mich gesträubt, du hast gewonnen...
Was sollte ich bei diesem Anblick schon tun? Ich öffnete.
Noch eine Nacht, bis zu meinem Tod.
Die kühle Nachtluft strömte in das warme Zimmer. Ich bekam eine Gänsehaut, da ich nur Boxershorts trug. Hinter Selene sah ich die gelben Augen Anubis´. Sie machte keine Anstalten hereinzukommen. Ich ging nicht auf die Terrasse. Keiner von uns überschritt die Türschwelle.
„Ich dachte mir schon, dass du logischen Argumenten zugänglich bist,“ meinte Selene ironisch. Mit ihren eisblauen Augen sah sie mich fragend an.: „Willst du mich nicht reinbitten?“ Halbbetrunken, wie ich war, tat ich, was Tina mir geraten hatte: Ich ließ keinen herein, schüttelte nur verneinend den Kopf. Selene stöhnte ungeduldig. Bedeutungsvoll starrte sie auf meine riesige, deutlich sichtbare Erektion. „Bist du dir da ganz sicher, Markus?“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie setzte sich auf ihr Kleid, zog die Knie an und legte ihre Arme darum. Ich ließ mich auf dem Laminatboden nieder und lehnte mich mit dem Rücken an die Zimmerwand. „Wieso kommst du nicht einfach raus, zu mir?“ flüsterte sie heiser. Wieder nur ein törichtes Kopfschütteln meinerseits, heftiger diesmal. Sie verzog schmollend den Mund. „Gefalle ich dir nicht?“, belustigt sah sie auf meinen Steifen, der aus meinen Shorts ein Einmannzelt gemacht hatte. Leugnen war zwecklos, daher gab ich es zu: „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr du mir gefällst...“
„Wo liegt dann das Problem?“, wollte sie wissen.
Ich war noch immer nicht nüchtern; der entsetzliche Traum noch frisch. Ich fürchtete mich! Nur so kann ich mir erklären, dass ich sagte, was ich schließlich sagte: „Du machst mir Angst! Du bist immer nur im Dunkeln unterwegs. Mit diesem Schakal. Ich habe dich noch nie bei Tag gesehen. Das ist unheimlich. Sag mir: Wer oder was du bist.“
„Du hast mit jemandem aus dem Ort gesprochen,“ stellte sie trocken fest.
Ich nickte. „Ja. Du weißt, was sie reden?“
Selene lachte unfroh. „Natürlich! Sie sagen, ich hätte großen Durst. Blutdurst! Dass ich das Blut der Lebenden trinke, um ihn zu stillen. Warmes Menschenblut, damit ich existieren kann. Ist das der Grund, warum du mich nicht reinlässt? Weil man einen Vampir einladen muss, damit er ins Haus kann?“
Ich ging nicht darauf ein, fragte stattdessen „Was ist aus den Menschen geworden, die hier verschwunden sind? Mit Falk Stein oder Thomas Lichtenberg?“
Sie zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Das weißt du doch. Ich habe sie in eine Falle gelockt. Sie verrückt nach mir gemacht, ihnen ihren Willen genommen. Dann habe ich sie leergetrunken, ohne ihnen ewiges Leben zu schenken.“ meinte sie sarkastisch.
„Wo sind ihre Leichen?“ Ich konnte selbst nicht fassen, dass ich das fragte!
„Wir haben in der Familiengruft eine Grube für sie. Ein verstecktes Massengrab. Es kommt nie eine Menschenseele dorthin. Anubis passt auf.“ Sie grinste sardonisch.
„Es gibt keine Vampire! Das ist Schwachsinn. Nicht in Wirklichkeit... oder doch? Bist du... blutleer? Das Tageslicht kann dich töten, darum kommst du nur in der Dunkelheit ins Freie. Die Männer verschwinden, weil du ihr Blut brauchst. Deswegen sterben sie...“
Sie stand auf, schüttelte den Kopf und sah nachdenklich auf mich herab. „Du bist so blau, dass du nicht mal bemerkst, was für einen paranoiden Scheiß du redest! Hör dir nur einen Augenblick selbst zu!“ Sie zog ihr Kleid an, nahm eine kleine Tablettenschachtel aus der Tasche, öffnete sie und reichte mir den Beipackzettel. „Hier, lies das. Wenn du überhaupt noch in der Verfassung bist, zu lesen!“
Ich nahm den Zettel, ohne einen Blick darauf zu werfen - hörte ihr einfach weiter zu.
„Ich leide an einem angeborenen Enzymdefekt. Eine Stoffwechselstörung meines blutbildenden Systems. Das hat zur Folge, dass sich meine Körperfarbstoffe in den Organen ablagern. Besonders unter der Haut und vor allem in der Leber. Poryphyrinen heißen diese Farbstoffe. Es ist eine seltene Erbkrankheit. Die Folge: hämolytische Anämie und Photosensibillität. Bei mir ist der Defekt sehr, sehr stark ausgeprägt.“
Ich runzelte die Stirn, schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich verstehe kein Wort.,“ gab ich zu.
„Ganz einfach formuliert: Extreme Blutarmut. Meine roten Blutkörperchen lösen sich krankhaft auf. Meine Haut ist in hohem Maß Lichtempfindlich. Sobald ich mit Licht in Berührung komme, bilden sich Blasen, als wenn ich mich verbrannt hätte. Manchmal so schlimm, dass sich Geschwüre bilden. Das tut verdammt weh! Die Sonne kann mich sehr schwer verletzten, vielleicht sogar töten. Darum kann ich nur in der Dunkelheit raus!“ Sie unterbrach sich, als sie ihren Seidenschal um den Hals schlang. „Wahrscheinlich werde ich später an Leberzirrhose sterben,“ fuhr sie fort. „Wie meine Mutter. Sie hatte die Krankheit ebenfalls, ebenso meine Ur-Urgroßmutter und noch andere meiner Vorfahren. Die Störung wird über meine mütterliche Linie vererbt. In früheren Zeiten kannte man weder Medikamente zur Linderung, noch Sun-Blocker. Die Erkrankten waren gezwungen, ihr Leben in Dunkelheit zu fristen. In vielen alten Medizinbüchern ist aufgeführt, dass Blut als Heilmittel gegen Porphyrie verabreicht wurde. Es ist also kein Wunder, dass diese Menschen in dem Ruf standen, Vampire zu sein. Untote schimpfte man sie. Verfolgte. Gejagte Geschöpfe, die nur taten, was sie tun mussten, um zu überleben! Auch meine Vorfahren. Sie tranken Blut. Und wurden von den Gesunden verdammt! Manchmal brachte man sie sogar um oder schändete nach ihrem Tod ihre Gräber und Leichen: Man schlug ihnen Holzpflöcke in die Brust, um den Vampir auszulöschen. Diese Krankheit ist ein Mitbegründer des Vampiraberglaubens. Heute gibt es die moderne Medizin. Sie lindert die Krankheit. Heilung gibt es aber noch nicht. Meine Ur-Urgroßmutter konnte zur ihrer Zeit noch nicht behandelt werden! Die Leute im Dorf wussten, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Vielleicht hat jemand gesehen, wie sie nach einer Schlachtung Blut trank? Oder immer nur nachts ausging? Niemand weiß es! Sie wurde ermordet. Mit einem Pflock – wie ein Vampir! Stell dir das einmal vor! Die verrückte Bauerninzucht hat sie vor der Familiengruft getötet. Den Pflock haben wir noch. Er liegt in der Gruft. Und das ist das ganze Geheimnis. Bloß eine Krankheit.“ Sie schwieg.
So einfach, so banal. Ich glaubte ihr jedes Wort. Ich war ein Idiot
„Es gibt gar keine Vampire,“ sagte ich dämlich.
„Natürlich nicht! Es gibt nur uns,“ entgegnete Selene. Sie drehte sich nicht um, als sie davonging. Auf der Lichtung sagte sie etwas zu dem Dobermann. Der Hund hockte sich auf seinen gewohnten Platz. Anubis, Wächter von Selene.
Sie blieb stehen. „Komm schon,“ rief sie. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Eilig schlüpfte ich in Jeans und Turnschuhe und folgte ihr. ...da bin ich; ich habe Ja gesagt!
Noch nie hatte ich einen schöneren Friedhof gesehen! Verborgen im Wäldchen, direkt neben einem Teich, in dem sich das Mondlicht zwischen den Seerosen spiegelte. Der selbe Teich, in dem sie nach Thomas Lichtenbergs Leiche gesucht hatten. Eine hohe weiße Mauer, von wildem Efeu bedeckt, umschloss das kreisrunde Grundstück des Familienfriedhofes. Das große schmiedeeiserne Tor war mit einer Kette gesichert. Selene hatte den Schlüssel dabei. Das Tor war gut geölt. Leicht und fast geräuschlos ließ es sich öffnen.
Bodennebel stieg auf. Letzte Ruhestätten. Uralte Grabsteine, ebenfalls von Efeu überwuchert, reihten sich ringsum an die Mauer. Davor eine weitere, kreisrunde Grabreihe. Drei insgesamt. In der Mitte erhob sich eine Kapelle, auch mit einem schweren Tor versehen. Selene schloss auf. Wir gingen hineinen und standen in einem kleinen, kirchenähnlichem Raum. Es gab einen nicht sehr großen Altar, ein paar alte Kirchenbänke und Kerzenständer. Selene öffnete eine in die Wand eingelassene, fast nicht sichtbare Tür. Eine breite Treppe führte hinunter ins Dunkel. „Das ist eine Art Krypta. Dort unten sind die Gräber meiner Familie.“ Zu meiner Erleichterung nahm Selene eine Taschenlampe von der obersten Stufe. Ich folgte ihr ohne zu zögern.
Die Grabkammer war größer, als ich vermutet hatte. Die Gräber waren in die Wände eingelassen. Grabplatten verschlossen sie. Name, Geburts- und Todesdaten waren in schnörkeliger Schrift hineingehauen. Sie deutete mit dem Lichtkegel auf eine Platte: Elizabeth Viktoria Tepes, Gräfin von Wismar, verwitwete Gräfin zu Kahnstein. Geboren am 07. Januar 1905 - ermordet am 18. Juli 1933. Die gepfählte Vampirfrau.
Ich drehte mich um. Selene stand neben einem großen, massiven Tisch. Sie zündete die Kerzen in den schweren, mannshohen Ständern an, legte die Taschenpampe auf den Boden. Ein paar Stühle waren ordentlich im Raum aufgestellt. „Hier werden die Särge nach der Trauerfeier aufgebahrt, bevor sie in die Grabnischen kommen.“ erklärte Selene. Sie nahm einen Gegenstand von dem Tisch: „Das ist der Pflock, mit dem meine Ur-Urgroßmutter umgebracht wurde. Er steckte in ihrer Brust, als man sie fand.“ Sie legte ihn auf den wuchtigen Tisch. Der Holzpflock war etwa 40 cm lang und maß vielleicht 5 cm im Durchmesser. Schmutzig, von Trockenheit und Alter steinhart, lag er da. Amor`s Mordwaffe.
Viel Zeit darüber nachzudenken ließ sie mir nicht. Selene nahm ihren Seidenschal ab. „Du wolltest doch immer wissen, was ich mit Thomas gemacht habe, oder?“, sie wartete meine Antwort nicht ab, trat hinter mich und band mir die Hände auf den Rücken. Unbemerkt ließ ich viel Platz zwischen meinen Handgelenken. Ich hatte nicht vor, mich ihr völlig zu unterwerfen. Ich wollte zugreifen und sie berühren können, wenn mir danach war. Ich lockerte die Fessel noch ein wenig mehr.
„Entspann dich! Kein ungebetener Gast wird hierher kommen.“ Sie führte mich sanft zu dem Tisch, auf dem sonst die Toten aufgebahrt wurden. „Leg dich hin, ich zeige dir etwas Außergewöhnliches.“ Ich gehorchte, wenn auch widerstrebend. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei. Ein Rendezvous in einer Gruft! Es war schaurig. Unheimlich. Und doch faszinierte es mich. Als sie sich auszog, verlor ich sämtliche Bedenken. ...ich konnte dir nicht widerstehen...
Sie trat ans Ende des Tisches, zog meine Jeans bis zu den Knöcheln herunter. Sie behinderten mich wie eine Fußfessel, was wahrscheinlich von ihr gewollt war. Mit einem Strick zurrte sie meine Füße samt Hose gekonnt am Tisch fest. „Ich will, dass du dich mir restlos auslieferst,“ flüsterte sie heiser. Sie ging zu ihren Kleidern und kramte eine Weile herum. Die Handfesseln saßen jetzt locker. Um ihr den Spaß nicht zu verderben, blieb ich liegen, wie sie mich zurückgelassen hatte. Auf dem Rücken liegend, scheinbar hilflos. Es war unbequem. Etwas drückte mich im Kreuz. Ich fühlte, dass es der mörderische Holzpflock war. Ehe ich ihn herunterstoßen konnte, war Selene wieder da.
In der Hand hielt sie ein altmodisches Rasiermesser. Weiß der Himmel, wo sie es her hatte – jedenfalls trat mit bei seinem Anblick schlagartig der Schweiß auf die Stirn. Sie bemerkte es, lachte leise und klappt es auf. „Es tut überhaupt nicht weh! Du spürst den Schnitt nicht, so scharf ist es.“ Sie hielt es mir an den Hals. Ich ächzte, wagte aber nicht, mich zu rühren. „Ich kann genau sehen, wie schnell dein Herz schlägt! Die Arterie klopft und pocht! Du hast Angst. Gut!“ Sie leckte mit ihrer warmen Zunge träge über meine linke Halsschlagader. „Früher nahmen Ärzte etwas ähnliches, um Patienten zur Ader zu lassen.“ Sie setzte die Klinge an meinen Hals und schnitt blitzschnell an der Schlagader entlag; ich spürte den Schnitt tatsächlich nicht! Das Blut spritze heraus und besudelte Selene. Erst in einem Schwall, dann rhythmisch austretend bis es schließlich nur noch aus dem Schnitt lief. „Dafür benutze ich es. Zum Aderlass. Um meinen Durst zu stillen.“ Sie leckte genüsslich an der Wunde, stülpte ihre Lippen darüber und saugte. Ich spürte, wie sich ihr Kehlkopf bei jedem Schlucken auf und ab bewegte. Sie trank mein Blut. In vollen Zügen. Sie gab leise schmatzende Geräusche von sich. Fast wie ein Baby, wenn es gestillt wurde. Mir schwindelte.
„Selene... hör auf... das gefällt mir nicht. Mach keinen Scheiß!“, flehte ich und zerrte panisch an dem Seidenschal. Sie hob den Kopf und flüsterte in mein Ohr: „Ich habe vergessen dir zu erzählen, dass ich dieses Messer von meinem Großvater bekam. Er brachte mir bei, wie man Adern öffnet, um sich satt zu trinken. Opa hatte einen ebenso großen Blutdurst, wie ich. Ich war acht Jahre alt, als wir mein erstes Opfer gemeinsam genossen. Das war 1995.“ Sie saugte weiter an meinem Hals. Dann: „Es war ein kleiner Junge. Er schmeckte sehr, sehr süß.“
„ Warum tust du das?“, brüllte ich, und versuchte verzweifelt, mich endgültig von meinen Handfesseln zu befreien. Das war meine einzige Chance! Ich kämpfte um mein Leben.
„Weil unsere Familie es immer so gemacht hat! Wir sind eine Art Vampire. Blut ist Lebenssaft. Ich liebe seine Wärme, seine Farbe und seinen Geruch. Es ist süß, schwer und klebrig. Eine köstliche Süßigkeit. Blut duftet und ist lebendig. Es schenkt mir Gesundheit. Es erregt mich, ist besser als jedes Medikament. Und es macht viel mehr Spaß, als langweilige, ärztliche Behandlungstherapien. Einen Riesenspaß!“
Sie schlitzte mir die rechte Halsschlagader auf und trank. Alles drehte sich um mich. Ich sah Punkte vor meinen Augen flimmern, dachte, dass ich jeden Augenblick das Bewusstsein verlieren würde. Da hatte ich endlich meine Hände befreit! Tastend suchte und fand ich den Pflock hinter meinem Rücken. Ich umschloss ihn fest mit meiner Rechten. Als Selene sich aufrichtete, riss ich blitzschnell meinen Arm nach vorn, und stieß ohne zu Zögern zu. Ich führte den Stoß nicht sicher und fest genug aus, weil mein Arm taub war. Ich hatte zu lange darauf gelegen. Der Pflock traf auf eine Rippe, wurde von dem Knochen abgelenkt und rutsche daran ab. Sofort setzte ich nach, und diesmal fand das alte Holz einen tödlichen Weg! Nicht in ihr Herz, aber in die Lunge.
Abrupt richtete Selene sich auf, die Augen verblüfft aufgerissen. Sie taumelte durch die Grabkammer und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. Selene legte ihre Hände um den Pflock, zog ihn ein kleines Stück aus ihrem Körper. Blut quoll hervor. Es war so dunkel, dass es schwarz aussah. Ihre Hände waren voll davon. Selene betrachtete es ungläubig. Wie in Trance hob sie die Hände zum Mund, und leckte sich genüsslich ihr eigenes, warmes Blut von den Fingern, so, wie ein Kind seine schokoladenbeschmierten Finger ablutschen mochte. Währenddessen quoll das Blut aus ihrer Verletzung, rann den Bauch hinunter und sammelte sich in ihrem Schamhaar.
Noch einmal zog sie an dem Holz, bis sie es in der Hand hielt. Ein Fehler! Zischend entwich die Atemluft der Wunde. Ihre Lunge kollabierte, fiel in sich zusammen. Panik blitzte in ihren Augen auf. Sie zuckte unkontrolliert. Ihre Blase gab nach; sie urinierte unter sich. Ihr Wasser mischte sich mit ihrem Blut. Rosafarben tröpfelte es vom Stuhl und bildete eine hässliche Lache. Ein letztes Röcheln, ein krampfhafter, verzweifelter Versuch zu atmen. Vergeblich! Selenes Kopf sank nach vorn, ihr Muskeln entspannten sich, der Körper sackte zusammen. Sie war tot.
Ich nahm mir nicht die Zeit darüber nachzudenken, dass ich sie getötet hatte. Meine Halsarterien waren aufgeschlitzt, die Schnitte waren nicht tief, aber lang. Mein Blutdruck war stark gefallen, das Blut floss in einem langsamen, aber stetigem Strom. Ich fühlte mich schwach, presste meine Hände auf die Wunden, um die Blutung zu verringern. Ich schluchzte als mir klar wurde, dass ich meine Hände bräuchte um den Strick von meinen Füssen zu lösen, doch ich hatte nichts, womit ich die Wunde provisorisch verbinden konnte. Während ich mich zu befreien versuchte, musste ich weiter bluten. Mit glitschigen Fingern probierte ich, den Knoten zu lösen. Erfolglos! Und dann hörte ich die Stimme aus der Dunkelheit:
„Ich würde mich beeilen!“
Zuerst war ich erleichtert. Rettung in letzter Sekunde! Anubis schien doch nicht so ein guter Wächter zu sein, wie es den Anschein hatte. Dann der Restfunke Verstand: Warum hätte sie mich suchen sollen? Um diese Zeit? Woher wusste sie, wo ich war? Wieso war sie nicht im mindesten geschockt?
Ich hatte die Hände wieder fest auf die Schnittwunden gepresst. Das Blut sickerte durch meine Finger, ließ sich nicht aufhalten. Sie schlenderte zu Selene, kniete sich hin und betrachtete sie liebevoll. Dann küsste sie die Tote, schob ihre Zunge in Selenes Mund, liebkoste sie. Schließlich nahm sie ihr sacht den Holzpflock aus der Hand und streichelte zärtlich die furchtbare Wunde. Sie weinte. Endlich drehte sie sich wütend zu mir um.
„Du Drecksau!“, kreischte Christina zornig. „Du hast sie umgebracht! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst verschwinden?!“, Sie schluchzte hemmungslos. „Aber dazu warst du zu scharf auf sie! Wie alle, die sie für uns hergebracht hat. Dabei war ich die Einzige, die sie geliebt hat. Meine kleine Geliebte.“ Tina hörte nicht auf zu weinen und wiegte die Leiche liebevoll in ihren Armen. Es wirkte grotesk.
„Sie... sie wollte mich umbringen!“, röchelte ich fassungslos. „ Das verdammte Miststück wollte mich umbringen, weil sie mein Blut trinken wollte! Du hattest recht: Es gibt Vampire...“
Tina stand auf und wischte sich zornig mit ihrem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. „Das weiß ich! Ich bin mit ihr aufgewachsen, wohnte mit ihr in einem Haus! Sie brauchte das Blut, um zu leben. Schon als Kind! Sie kannte es nicht anders. Es war doch nicht ihre Schuld! Sie wurde so erzogen. Selene war eine geschickte Blutsaugerin, und brachte mir alles bei, was sie wusste. Irgendwann merkte ich, dass es mir Freude machte. Obwohl ich es nicht wollte.“ Sie schwieg einen Moment, und zog die Nase hoch, bevor sie fortfuhr: „Ich habe nicht gewollt, dass dir etwas geschieht, deswegen habe ich versucht dir Angst zu machen. Dich zu warnen. Aber du konntest nicht hören! Und sie auch nicht. Selene war wütend auf mich. Erst habe ich ihr Kevin verboten, dann dich. Und jetzt ist sie tot.“ Sie weinte herzerweichend. „Ich habe einmal versucht, uns davon wegzubringen, ihr mit Trennung gedroht. Ich legte mir einen Freund zu. Kevin. Ich bin sogar nach Amerika gegangen. Sie sollte sehen, dass ich es ernst meinte. Aber die ganze Zeit dachte ich nur an sie. Als ich im Oktober zurückkam und sie wieder sah, da war es, als wäre ich nie fort gewesen. Wir machten einfach weiter wie vorher.“
Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht Mitleid mit ihr haben können – obwohl sie völlig verrückt war, und in eine Anstalt gehörte! Eine vollkommen Irre!
„Was redest du bloß für einen Stuss? Hilf mir hier raus, ich verblute, verdammt noch mal!“ Ermattet sank ich auf den Tisch zurück. Ich legte mich hin, versuchte ruhig zu atmen. Ich hatte Angst.
Tine beugte sich über mich. Ihre Stimme war nur ein wispern: „Hat sie von dir getrunken?“, wollte sie wissen. Ich nickte.
Da beugte sich Tina über meinen Hals, nahm meine Hand fort und legte ihren Mund auf den Schnitt. Sie sog gierig mein Blut ein, wollte nicht mehr aufhören. Sie vergrößerte meine Wunde mit dem Rasiermesser, schnitt tiefer und saugte erneut. Ihr Hass, ihr Rachegefühl und ihr Blutdurst waren zu stark. Sie trank exzessiv, schnaufte dabei schwer durch die Nase. Wie ein wildes Tier. Es tat weh, ich konnte ein Wimmern nicht unterdrücken, hatte keine Kraft mehr, mich zu wehren Meine Füße waren noch immer gefesselt, ich hatte keine Waffe. Der Blutverlust machte mir zu schaffen. Das Blut lief seitlich an meinem Körper herab, sickerte unter meine Schultern, sammelte sich dort zu einer Pfütze, die erst kalt und schließlich glitschig wurde.
„Ich werde dich leer trinken, und wenn ich es allein nicht schaffe, lass ich dich ausbluten, wie ein geschlachtetes Schwein. Dann komme ich wieder, und hole mir deine Leber. Das ist der Anteil des Grafen. Einmal habe ich davon gekostet, aber sie war mir zu bitter! Ich warf sie fort. Ich liebe die Süße des Blutes. Das ist es, wonach es mich dürstet. Vielleicht will der Graf in diesem besonderen Fall aber auch dein Herz. Mir ist es egal – ich bringe ihm, wonach er verlangt! Denk die ganze Zeit daran, wenn du hier allein in der Kälte liegst: Ich komme wieder!“
„Aber... warum... ?“, meine Stimme erstarb. Ich wurde müde.
Erstaunt sah sie mich an.
„Warum nicht?“
Sie trank noch zweimal von meinem Blut. Dann küsste sie Selene zum Abschied und stieg die Treppe hinauf. Als sie die Tür öffnete, drang kurz der Morgengesang der ersten Vögel zu mir herunter. Ich hatte noch nie etwas so schönes gehört. Tränen traten mir in die Augen. Die Tür schloss sich hinter Christina. Bald darauf hörte ich Anubis heulen.
Es ist sicher das Letzte, was ich hören werde, bevor es endgültig Schwarz um mich wird.
Ich bin fassungslos. Meine Gedanken kreisen unaufhörlich in meinem Kopf umher. Ruhelos. Erzählen mir die Geschichte immer wieder von vorn. Es hatte doch alles so harmlos begonnen...




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