Ganz schön bissig ...
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März 2004
Beute
von Fran Henz

Paris, 1788

Leichtfüßig eilte sie an der Wand des elterlichen Palais entlang und durchquerte den zugehörigen Park. Sie fühlte sich verrucht und lasterhaft, kein anständiges Mädchen war zu dieser späten Stunde allein unterwegs, noch dazu auf dem Weg zu einem heimlichen Rendezvous.
Der gute Frédéric, er wartete sicher schon voller Ungeduld an der vereinbarten Stelle auf sie. Natürlich kam sie zu spät, um seine Vorfreude noch zu steigern. Frédéric, Marquis de Montignard. Ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Sie war nahe, so nahe. Einige anbetende Blicke noch, ein paar glühende Küsse und sie war für den Rest ihres Lebens die Marquise de Montignard. Isabelle, Marquise de Montignard sang ihr Herz.
Der kleine Pavillon schimmerte im Mondschein. Sie verlangsamte ihre Schritte, denn zweifellos sah Frédéric ihr entgegen, so wie er es immer tat, und er sollte in den Genuss kommen, jedes Detail ihrer zierlichen Gestalt genau betrachten zu können. Schemenhaft nahm sie seine Silhouette an einer der Säulen wahr und zog dann die Brauen zusammen. Er war nicht alleine. Eine Frau umarmte ihn leidenschaftlich, presste ihren Körper an den seinen. Isabelle blieb stehen.
Die Frau drehte sich um und Isabelle konnte ihr Gesicht sehen. Nur war es kein Gesicht. Aus den Schatten des fahlen Mondlichts schälte sich die Fratze eines Raubtiers. Die schmalen Augen leuchteten gelb, von den beiden langen Reißzähnen tropfte etwas Dunkles auf Fredericks weiße Hemdbrust. Und jetzt erkannte Isabelle auch, dass dieses Wesen Frédéric nicht umarmte, sondern festhielt, um zu verhindern, dass er wie eine Lumpenpuppe zu Boden fiel. Isabelle starrte auf seine schlaff herabhängenden Arme und den zur Seite gebogenen Kopf. In einer Ecke ihres Verstandes dämmerte ihr, dass der Traum von der Marquise ausgeträumt war. Frédéric würde niemanden heiraten. Frédéric de Montignard war so tot wie man mit einem gebrochenen Genick nur tot sein konnte.
Der Schrei erstarb in ihrer Kehle als sich eine kalte Hand über ihren Mund legte. Gnädigerweise verließ sie an diesem Punkt ihr Bewusstsein und sie versank in samtiger Dunkelheit.

* * *

Der Schmerz in ihren Schultern riss sie aus der Ohnmacht. Sie lag auf einem Bett und ihre Handgelenke waren hinter dem Kopf an den Pfosten festgebunden worden. Auch ihre gespreizten Beine hatte man mit dünnen Seilen an das Bett gefesselt. Sie war nackt. Scham und Panik drängten in ihr Bewusstsein, doch bevor sie etwas davon verarbeiten konnte, hörte sie eigenartige Geräusche neben sich. Langsam, fast widerwillig drehte sie den Kopf.
Auf der anderen Seite des Bettes glitten zwei marmorfarbene Leiber schlangengleich übereinander, bewegten sich miteinander, gegeneinander in einem obszönen Rhythmus, Stöhnen wechselte sich mit leisem Knurren ab. Isabelles Wangen röteten sich. Zweifellos geschah hier das, was nur Eheleuten vorbehalten war. Sie hatte Dienstmädchen darüber flüstern und kichern hören, aber jetzt wurde ihr Wissensstand nachdrücklich erhöht. Das Stöhnen nahm zu, lange schlanke Beine pressten sich um die Hüften des Mannes, Fingernägel glitten über seinen Rücken, dann bäumten sich die beiden Körper auf, um kurz danach bewegungslos auf dem Bett zu verharren.
Isabelle starrte in das Gesicht der Frau, das sich vor ihren Augen von der Raubtierfratze in atemberaubend schöne Züge verwandelte. Die blassen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und sie rüttelte den Mann, der auf ihr lag, an der Schulter. „Chéri, unser Püppchen ist aufgewacht.“
Der Mann hob den Kopf und mit wachsendem Entsetzen stellte Isabelle fest, dass sie ihn kannte. Krampfhaft versuchte sie sich zu erinnern, wo sie ihn gesehen hatte. Da streckte er eine Hand aus und wickelte eine Strähne ihres honigfarbenen Haares um seine Finger. „Isabelle, Licht meines Lebens“, murmelte er träge und grinste, bevor er sich ganz aufrichtete.
Er rutschte vom Bett und ging, nackt wie er war, quer durchs Zimmer zu einem Tischchen, auf dem ein Silbertablett mit einer Karaffe und mehreren Kristallgläsern stand.
Isabelle folgte ihm mit den Augen und versuchte, nicht zwischen seine Beine zu starren. Stattdessen grübelte sie, woher sie ihn kannte, ohne aber zu einem Ergebnis zu kommen.
Mit einem Glas in jeder Hand umrundete er das Bett und reichte eines davon der Frau, die sich noch immer neben ihr räkelte. Die rubinrote Flüssigkeit schimmerte im Licht der Kerzen und für einen Augenblick war Isabelle überzeugt, dass die Gläser mit Blut gefüllt waren. Dann verwarf sie den Gedanken, der zweifellos ihrer überreizten Phantasie entsprang.
Ohne Eile stellte der Mann sein leeres Glas auf das Nachtkästchen und kniete sich zwischen ihre Beine. Isabelle blickte ihn aus angstgeweiteten Augen an.
„Nun, Isabelle ...“
In diesem Moment fiel ihr ein, wer er war. André ... André irgendwas. Der einfältige junge Tölpel, der sie Wochen und Monate mit Gedichten und selbstgemalten Bildchen belästigt hatte; sie vor ihren hochwohlgeborenen Verehrern lächerlich machte, indem er unermüdlich seine Liebe beteuerte und ihr wie ein Hündchen nachgelaufen war. Dann verschwand er spurlos von heute auf morgen. Sie hatte erleichtert aufgeatmet, und keinen weiteren Gedanken mehr an ihn verschwendet.
Und jetzt war er plötzlich wieder da. Obwohl ... er sah anders aus. Größer. Seine Schultern wirkten breiter. Er trug keine Brille mehr und seine Augen ... Augen, die sie immer liebevoll angehimmelt hatten, besaßen jetzt die Farbe und Unergründlichkeit von Quecksilber.
„Nun, Isabelle“, wiederholte er. „Du erinnerst dich also doch an mich.“
Seine Finger strichen über ihr Knie zu ihrem Schenkel und sie begann zu zittern. „Allerdings bin ich nicht mehr ganz so wie bei unserer letzten Begegnung.“
Noch während er sprach, veränderte sich sein Gesicht und verlor alles Menschliche. Gleichzeitig fiel ihr auf, dass die Hand auf ihrem Schenkel eiskalt war. Das Grauen, das sich in ihrem Körper ausbreitete, entzog sich jeder Kontrolle. Sie kannte die Geschichten über Ungeheuer, die nächtens unschuldige Bürger überfielen und ihnen das Blut aussaugten. Aber das waren Legenden, Märchen, die man sich beim Kaminfeuer mit einem angenehmen Schauer erzählte, das konnte nicht die Wirklichkeit sein.
Das Wesen vor ihr fletschte die Zähne, eine Sekunde später sah es wieder wie ein Mensch aus. „Du warst das Licht meines Lebens, der Grund für mich, morgens aufzustehen. Der Grund, nach Worten und Farben zu suchen, die sogar die Sonne vor Neid auf deine Schönheit erblassen lassen würden.“ Seine Finger spielten mit den Löckchen zwischen ihren Beinen. „Leider habe ich jetzt für ein Licht nicht die allergeringste Verwendung, weil mein Leben kein Leben mehr ist. Ich stehe morgens nicht auf ... wenn ich nach Worten und Farben suche, dann nur ...“, die Frau war plötzlich hinter ihm, schlang ihre Arme um seinen Körper und küsste ihn auf den Hals. Ihr seidiges, dunkles Haar floss über seine Schulter, „ ... nur um die Schönheit meiner Gefährtin zu rühmen.“
Er nahm seine Finger weg. Die Hände der Frau streichelten seine Brust, ihre Zunge glitt träge über seine bleiche Haut. Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Sie fing den Blick der Frau auf, die sie unablässig beobachtete. Wie eine Katze die Maus. Etwas lag in diesen Augen, das Isabelles Panik in eine neue Dimension schraubte. Wie durch einen Tunnel sah sie, dass der Mann den Kopf zur Seite drehte und den Mund öffnete. Was folgte war die frivole Parodie jener Küsse, die Isabelle kannte. Kein sanfter Austausch von Zärtlichkeiten, kein tastendes Berühren, sondern das Verschmelzen zweier Münder in der Absicht, den anderen zu verschlingen. Hunger und Gier, zügellos zur Schau gestellt ohne Scham, ohne Hemmung. Der einzige Gedanke, der Isabelle beherrschte, war Flucht. Sie wollte weg, musste weg, bevor ...
Die beiden – Menschen? – lösten sich von einander, als sie so heftig an den Fesseln zerrte, dass das Bett ächzte.
„Oh, unser Püppchen will auch spielen“, gurrte die Frau. „Wollen wir mit ihr spielen, André, wollen wir?“
Der Mann befreite sich aus der Umarmung und rutschte näher. Er stützte die Hände neben Isabelles Kopf auf und beugte sich über sie. „Du weißt doch, was ich bin?“, fragte er beinahe zärtlich.
Sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, und bemerkte, wie sich seine Lippen spöttisch kräuselten. „Ich bin ein Geschöpf der Dunkelheit. Ich habe meine Seele gegen grenzenlose Macht und ewiges Leben getauscht.“ Er beugte sich weiter vor und blies eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. „Weißt du, was es heißt, keine Seele zu haben?“
Es gelang ihr, den Kopf zu schütteln.
„Nein? Nun, ich kann tun, was immer ich will. Ich habe kein Gewissen. Ich kenne kein Bedauern und keine Reue. Ich lebe nur für den Moment. Und ich halte die Entscheidung über Leben und Tod in meinen Händen.“
Sie blickte in die Augen über ihr. Es stand keine Liebe in ihnen. Kein Hass. Nur völlige Gleichgültigkeit. Und das war, wie sie mit plötzlicher Klarheit begriff, die schlimmste aller Möglichkeiten. Sie versuchte zu sprechen, sich zu verteidigen, aber sie brachte kein Wort heraus. Stattdessen spürte sie, wie seine kalte, tote Hand nach ihrem Kinn griff. Sein Daumen und sein Zeigefinger bohrten sich in ihre Wangen und so konnte sie ihre Lippen nicht zusammenpressen, als er sie küsste. Musste seine Zunge in ihrem Mund dulden.
Er ließ sie so unvermittelt los, dass sie verwirrt blinzelte.
„Bitter und faulig. Aber was kann man von einem Mund, aus dem nur Schmutz und Lügen kommen, auch anderes erwarten.“ Er stand auf und goss sich ein weiteres Glas Burgunder ein, das er in einem Zug austrank. Unbegreiflicherweise fühlte sie sich durch diese Geste mehr erniedrigt als durch alles andere.
„Sterne, hell und funkelnd über dir“, sang die Frau. „Sterne hier in diesem Zimmer, nehm’ ich mir.“
Der Schmerz brannte mit glühender Schärfe durch Isabelle, so heftig, dass er jeden Schrei erstickte. Fassungslos betrachtete sie ihren Ohrring in den Fingern der Frau. Den kleinen goldgefassten Diamanten, von dem Blut tropfte. Die Frau warf ihr dunkles Haar zurück und leckte das Schmuckstück genießerisch ab. Dann beugte sie sich vor und saugte an der blutenden Wunde. Isabelles Magen hob sich und sie kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit.
Der Mann stand neben dem Bett und sah auf sie hinunter. „Vivienne, sie gehört mir“, sagte er mit sanftem Tadel in der Stimme. „Nur mir.“
Die Frau richtete sich auf und schmiegte ihren Körper an ihn. „Aber du gehörst mir, André. Und deshalb gehört mir dein Püppchen ebenso wie dir.“
Er strich über ihren Rücken und lächelte. „Ich liebe deine Logik, Vivienne.“
Dann ließ er sie los und kniete sich wieder zwischen Isabelles Beine. Während er abwesend ihren Schenkel streichelte, fragte er: „Was hast du Montignard alles gestattet? Ein paar keusche Küsse, einen Blick auf deine Knöchel? Oder hatte er schon einen kleinen Vorgeschmack auf die Hochzeitsnacht?“
Er studierte ihr Gesicht. „Hätte mich auch gewundert“, meinte er dann. „Der gute Montignard hat also keine Erinnerung, an der er sich im Jenseits erfreuen kann. Dabei war er so besessen von dir.“
Seine Finger kamen wieder in dem Nest zwischen ihren Schenkeln an. „Was würde er wohl sagen, wenn er dich so sehen könnte? Wirklich schade, dass er tot ist.“
Er grinste boshaft. „Aber der liebe Landais ist noch sehr lebendig. Genauso wie sein Busenfreund Saint-Just und der schwachsinnige Woronski. Was wäre wohl, wenn sie dich so sehen würden? Nackt, an ein Bett gefesselt ...“, er tätschelte das Ding zwischen seinen Beinen liebevoll, „... und deine lilienweißen Brüste befleckt mit gar unaussprechlichen Substanzen.“
„André, Chéri, deine Ideen sind einfach umwerfend.“ Die Frau setzte sich wieder hinter ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
„Dein gesellschaftliches Leben wäre beendet. Niemand würde dich mehr beachten, von Einladungen ganz zu schweigen. Kein Mann, der dich heiraten wird, keine Kinder, kein Ansehen. Es wäre fast so, als wärest du lebendig begraben. Und das alles kostet mich nicht mehr als ein paar Worte auf einem Stück Papier, das ich Landais überbringen lasse, damit er mit seiner Clique hier aufkreuzt.“
Isabelles Gedanken überschlugen sich. Er hatte Recht. Wenn ein Mitglied der vornehmen Gesellschaft sie so sah, konnte sie all ihre Zukunftspläne vergessen. Es spielte keine Rolle, dass sie gegen ihren Willen entführt hatte. Sie war unrein, besudelt und man würde immer ihr selbst die Schuld zuschieben. Sie wäre eine Außenseiterin, gemieden, verachtet, weniger als eine Straßendirne.
„Worte auf einem Stück Papier“, wiederholte er nachdenklich. „Darüber hast du immer gelacht, hast nie die Bedeutung geschriebener Worte verstanden. Oder verstehen wollen. Ich denke, das wird sich mit dem heutigen Tag ändern.“
Mit einer fließenden Bewegung legte er sich flach auf sie, bedeckte ihren Körper mit dem seinen. Sie konnte jeden Muskel, jeden Knochen dieses kalten Leibes spüren, dessen Gewicht sie in die Matratze presste und begann lautlos zu beten, ließ ihren Verstand Zuflucht zu den festgefügten Formeln nehmen, um ihn nicht völlig zu verlieren.
„Du wirst niemals erfahren, was Leidenschaft ist, niemals vor Lust schreien und niemals wissen, was Liebe wirklich bedeutet. Dein Leben wird schlimmer sein als es dein Tod je sein könnte.“ Er murmelte die Worte in ihr Ohr und sie versuchte, nicht hinzuhören. „Und vielleicht komme ich in zwanzig Jahren wieder, um mich an deinem Elend zu erfreuen. Wenn du mich nett bittest, werde ich dir dann geben, was du dir am sehnlichsten wünschst ...“
Sie betete um ein Wunder, das diesen Albtraum beenden, dieses Ungeheuer zurück in die Hölle schicken würde. Ihr Gebet schien erhört worden zu sein, denn das Gewicht auf ihrem Körper wurde plötzlich entfernt und eine tiefe Stimme knurrte: „Du verdammtes Stück Abschaum, was bildest du dir eigentlich ein?“
Die Worte gingen im Zersplittern des Tisches unter als der Körper, der noch vor Sekunden auf ihr gelegen hatte, dort aufschlug und an der Wand nach unten rutschte. Ein breitschultriger Mann, dessen langes schwarzes Haar auf seinen eleganten Mantel fiel, stand mitten im Zimmer, neben ihm ein elfenhaftes, kaum den Kinderschuhen entwachsenes Mädchen. Isabelle wollte dem Mann gerade danken, als sich sein Gesicht ebenfalls in eine Fratze verwandelte. Er stürzte zu ihrem Peiniger hinüber und packte ihn am Hals, um ihn mit einer Hand hochzuheben. „Du unverschämte kleine Kröte, sag mir einen Grund, warum ich dich nicht töten soll.“
Das Mädchen trat zu der dunkelhaarigen Frau, und begann ihren Umhang aufzuknöpfen. „Vincent ist sehr schlecht gelaunt. Wir konnten nicht wie geplant nach Versailles fahren, weil sie eine Leiche aus dem Fluss gefischt haben. Einen jungen Adeligen. Deshalb wurden die Straßen blockiert, die aus der Stadt führen. Es sind so viele Soldaten unterwegs, dass wir auch nicht jagen konnten, also ...“
Ihr Blick fiel aufs Bett und sie runzelte ihre kindlich glatte Stirn. „Was hat er mit ihr gemacht? Du weißt Vincent hasst es, wenn ...“
Den Rest des Satzes verstand Isabelle nicht mehr, da der Schmerz, der durch das Herausreißen des zweiten Ohrrings in ihr explodierte, jeden Gedanken aus ihrem Gehirn schwemmte.
„Wir haben nur ein bisschen mit ihr gespielt. Hier, koste. Voll und süß.“
Von der anderen Seite des Zimmers ertönte ein heiseres Röcheln und die dunkelhaarige Frau ging zu den beiden Männern hinüber, während das Mädchen gierig den Ohrring sauber leckte. Apathisch verfolgte Isabelle die gespenstische Szene.
„Ich bin der Herr dieser Stadt, du elender Crétin, ich jage und ich töte. Du bekommst das, was übrig bleibt, nachdem meine beiden Frauen getrunken haben. Und ich bin es leid, mich pausenlos zu wiederholen.“ Seine Finger schlossen sich enger um die Kehle des nackten Mannes. „Sag mir einen Grund, warum ich dir nicht ein Stück Holz ins Herz rammen sollte.“
„Weil es dir keiner so gut ...“
Die Faust des Schwarzhaarigen krachte in das Gesicht seines Gegenübers.
„Seigneur ...“, die Frau schmiegte ihren nackten Körper in die Falten seines Mantels. „Ich mag seine Geschichten, ich mag, wie er mich berührt, ich wäre sehr traurig, wenn ich ohne ihn spielen müsste ...“
„Lass ihn zufrieden, Vincent“, befahl das Mädchen mit klarer Stimme. „Und komm her.“
Nach einem Moment der Stille plumpste der nackte Mann zu Boden.
„Verschwinde, bevor ich es mir anders überlege“, zischte Vincent.
André kroch auf allen Vieren zur Tür. Mühsam zog er sich hoch und torkelte aus dem Raum, quer über den Flur zu einem anderen Zimmer. Dort lehnte er sich an die Wand und befühlte seine Nase, die zweifellos gebrochen war. Seine aufgeplatzte Lippe blutete. Zusätzlich gaben mehrere seiner Rippen nach, als er dagegen drückte.
Er zuckte die Schultern und starrte aus dem Fenster. In ein paar Stunden würde alles wieder verheilt sein. Einer der zahlreichen Vorteile, wenn man ein Vampir war. So wie seine geschärfte Sehkraft, mit der er seine Beute auch in der tiefsten, mondlosesten Nacht erspähen konnte. Oder sein übernatürliches Gehör, das Isabelles Schreie so laut in seinen Ohren gellen ließ, als stünde sie neben ihm.
Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Viviennes Arme umschlangen ihn und sie rieb ihre Wange an seinem Rücken. „Mon pauvre bébé“, flüsterte sie. „Mein armer, armer Kleiner.“
Als er nichts erwiderte, trat sie neben ihn und sah aus dem Fenster zum Himmel. „Diese Stadt wird in Blut ertrinken“, murmelte sie. „Lass uns weggehen, Chéri, weg von Vincent und weg von Claire. Irgendwohin, wo wir zwei niemandem gehorchen müssen.“
André dachte über ihre Worte nach. Ja, sie würden fortgehen. Die ganze Welt gehörte ihm und er war begierig darauf, seine neue Macht zu gebrauchen, selbst der Herr einer Stadt und ihrer Bewohner zu sein.
Isabelles Schreie verstummten abrupt und die unvermittelte Stille dröhnte in seinen Ohren. Behutsam küsste Vivienne seine wunden Lippen und glitt dann an seinem nackten Körper hinunter, bis sie vor ihm kniete.
Er schloss die Augen und ließ sie gewähren. Kein Gewissen, kein Mitgefühl, kein Bedauern, keine Reue. Darum konnte der funkelnde Tropfen auf Viviennes dunklem Haar auch unmöglich eine Träne sein.


© Fran Henz

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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