Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
In seiner Burg liegt Herzog Abel und schläft, tief in den Mauern, in denen er gelebt und geplant hat, in denen das letzte Schachspiel stattfand, das Spiel, das sein Bruder nie beenden würde.
Herzog Abel, der nicht König sein sollte; den Erich Plogpennig noch aus dem Grab heraus zur Rechenschaft zog, auf die unwürdigste, schmählichste Weise.
Sie haben sein Grab im Schleswiger Schloßpark angesiedelt, oder im Moor bei Dithmarschen, wo ein Geistlicher einen Pflock in die Erde stoßen mußte, um ihn ruhigzuhalten, aber er ist nicht dort, er lag nie dort, er liegt hier. Seine Burg ist vergangen, wie sein gesamtes Geschlecht, das Burg und Insel verließ, keine 16 Jahre nach seinem ruhmlosen Tod. Aber er ist hier, noch immer, und sie hüten ihn, Tuko Boost und Lauge Gudmunsen der Däne, seine Getreuen, bei Tag und bei Nacht hüten sie ihn.
Denn er ist Herzog Abel, und in seiner Burg liegt er und schläft.
“Er holt mich ab”, strahlte Sylle, außer Atem und rotwangig. Sie streckte sich im Gras aus. “Heute abend, wenn es dunkel ist. Mit dem Kajak. Und wir fahren zur Möweninsel. Ist das romantisch oder was?!”
Ceren musterte sie skeptisch. “Passen denn überhaupt zwei Leute in so ein Teil?”
Achselzucken. “Ach, wird schon. Sonst hätte er es ja nicht vorgeschlagen.” Sie legte den Kopf in den Nacken, das Abendlicht golden in ihrem Haar. “Mädels, er ist sooo süß! Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ob ihr’s glaubt oder nicht, er–”
“–fährt in ein paar Tagen wieder nach Hause, und wir auch”, unterbrach Maja sie unerwartet heftig. “Und selbst, wenn ihr hier knutscht bis zum Koma, wird sich da nichts dran ändern.” Ihre Wangen brannten. Sylle starrte sie an.
“Was ist denn mit dir los?” Sie wandte sich an Ceren. “Wart ihr zu lange in der Sonne oder was?”
Maja kehrte ihr die Schulter zu und schwieg. Sie dachte an die Szene im Eiscafé, sieben Jungs und sie beide, nur daß sie auf einmal allein dastand. Allein mit sechs Übriggebliebenen, die so wenig mit ihr anfangen konnten wie sie mit ihnen.
Sylle zögerte einen Moment; dann verschwand sie im Zelt. Der Reißverschluß schloß sich mit einem harten Ratschen.
Sobald das letzte Rot aus dem Augusthimmel verschwunden war, kauerte Sylle unten am Ufer. Maja und Ceren konnten sie vom Zelt aus sehen, einen hellen Schatten, mehr oder weniger reglos.
“Vielleicht kommt er gar nicht”, murmelte Maja und mußte lachen, hinter vorgehaltener Hand, damit Sylle es nicht womöglich noch hörte. Ceren schenkte ihr einen Blick.
“Das könnte dir so passen”, meinte sie, und dann grinste sie ebenfalls. Gerecht wäre es gewesen. Sylle hatte sie oft genug irgendwo für einen Tim oder Dominik oder Moritz stehengelassen; es war längst an der Zeit für ein bißchen ausgleichende Gerechtigkeit.
Aber Lukas kam; um kurz nach elf, unter einem blassen Beinahe-Vollmond, schob sich vom Fluß her ein schmales Boot ans Ufer. Ceren schlief längst. Maja warf einen Blick nach draußen, als sie ein Platschen hörte, und sah Sylle in ihren Shorts lang- und weißbeinig durch das niedrige Wasser auf den Kajak zustapfen. Ihre Stimme wehte zum Campingplatz hinauf; Maja hörte sie unterdrückt kichern, als sie zu der dunklen Gestalt in das Boot stieg, und einen Moment später waren Paddler und Passagier wieder auf die nachtschwarze Schlei hinausgeglitten, lautlos wie ein Gedanke.
“Na, dann viel Spaß”, murmelte Maja und griff nach ihrem Walkman.
Am Morgen war Ceren blaß, denn sie hatte Möwen schreien gehört, die ganze Nacht, wie es schien; mehr als einmal war sie aus dem Schlaf geschreckt, um jedesmal in eine mondstille Nacht zu blinzeln. Nicht einmal die Grillen zirpten mehr.
Maja, die wußte, daß das kleinste Geräusch Cerens Nachtruhe störte, achtete nicht weiter auf sie. Heute waren es die Möwen gewesen, gestern die Holländerinnen, die bis vier Uhr morgens vor ihrem Wohnwagen gehockt und gegrillt hatten, und in den ersten beiden Nächten die elenden Grillen. Irgendwas fand Ceren immer. Aber im Moment interessierte das nicht, denn der dritte Schlafsack war leer.
Sylle war von ihrer Mitternachtstour nicht zurückgekehrt.
Ceren zuckte nur die Achseln. “Pennt sie halt bei ihrem Lukas. Muß sie wissen.”
Aber Maja wußte, daß die Paddlergruppe von Lukas in der Villa Königsburg in Missunde untergebracht war, einer Art besserer Jugendherberge, mit Schlafsälen; kein Ort für eine Nacht der Liebe.
“Hat sie halt auf der Möweninsel geschlafen. Warte doch erstmal ab, bevor du gleich einen Kranz bestellst. Mann.”
Es wurde Mittag, und keine Spur von Sylle. Maja bekam keinen Bissen herunter. Um kurz nach eins nahm sie ihr Fahrrad und radelte nach Missunde. Sollten Lukas und seine Leute sie doch auslachen, sie mußte wissen, was mit Sylle war.
Die Münchner Touring-Kajak-Jugend war nicht da.
“Die sind schon letzte Nacht zu einem Segeltörn los”, erklärte die freundliche Frau, die ihr geöffnet hatte. “So gegen halb elf. So machen wir das gerne hier, die Jugendlichen ein bißchen überrumpeln. Fördert den Teamgeist, wenn man sie alle zusammen ins Ungewisse schubst.” Sie lachte. “Hattest du dich mit einem von ihnen verabredet? Übermorgen sind sie wieder da, ich kann ihm gern was ausrichten.”
Maja setzte sich wieder auf ihr Rad. Auf der Brücke hielt sie inne. Vor ihr, gerade dicht genug, um sie über die Distanz zu verhöhnen, lag die Möweninsel, weißfleckig von Seevögeln. Naturschutzgebiet, Zutritt verboten, für alle.
Alle außer einem.
Maja sprang in den Sattel.
Es dauerte eine Weile, bis sie Jannis gefunden hatten; er war damit beschäftigt, ein quietschgelbes Tretboot zu reparieren. Maja hatte es ironisch gefunden, daß gerade seinem Vater zwei Bootsvermietungen gehörten, eine in Bohnert und eine in Missunde. Heute kam ihr das sehr entgegen.
“Wenn ihr euch solche Sorgen macht”, meinte Jannis bedächtig, “wieso geht ihr dann nicht direkt zur Polizei?”
Maja scharrte ungeduldig mit den Füßen, aber Ceren sagte: “Sie ist 15, Jannis, und weg von zu Hause. Warst du nie 15? Ich wäre absolut nicht überrascht, wenn sie morgen wieder auftaucht und doof grinst. Ich meine, wir reden hier von Sylle.” Sie wechselte einen Blick mit Maja. “Wir wollen nur mal kurz auf die Insel. Gucken, ob sie da festsitzt, oder ob sie überhaupt da war. Das ist alles. Wir werden weder auf Enten treten noch Eier klauen, versprochen.”
Jannis kratzte sich den Nacken. “Ihr wißt, daß das nicht geht. Die Insel ist–”
“Naturschutzgebiet”, unterbrach Maja entnervt. “Ja. Aber du bist der Möwenprinz.”
“Möwenkönig”, sagte Jannis mit deutlich roten Wangen, “jedenfalls, wenn mein Vater den Titel abgibt. Trotzdem kann ich nicht einfach...”
“Wenn wir zur Polizei gehen”, sagte Ceren, “nehmen die sich als erstes die Insel vor. Und die nehmen garantiert keine Rücksicht auf deine Seevögel.”
Wortlos führte Jannis sie zum Steg.
Die Insel lag verlassen, so verlassen, wie ein Geröllhaufen sein kann, auf dem Zigtausende von Vögeln ihre Jungen großziehen. Kein Mädchen in Shorts weit und breit, weder lebendig noch...
Maja schützte ihre Augen mit flacher Hand gegen die Sonne, die auf den Wellen gleißte. Der Lärm der Möwen, die bei ihrer Ankunft in einer dichten Wolke aufgestoben waren, machte sie benommen. Jannis, der Hitze zum Trotz in Gummistiefeln, Jeans und langärmligem Hemd, stapfte die Anhöhe hinauf. Ceren blieb am Ufer, aber Maja mühte sich, ihm zu folgen.
“Hier ist keiner”, stellte Jannis fest und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. “Seid ihr sicher, daß Sylles Junge hierher gefahren ist mit ihr?”
Maja sah sich gezwungen, ihm zu mitzuteilen, daß Sylles Junge sich seit letzter Nacht halb elf auf einem Segelschiff befand, mit anzunehmenderweise keinem Mangel an Zeugen. Jannis starrte.
“Was?”
Maja betrachtete ihre Füsse im groben Inselgras, die Stofflatschen überzogen mit Vogeldreck. “Es ist nur... ich hab doch gesehen, wie sie in dieses Boot gestiegen ist. Oder zumindest glaube ich das. Ich meine, ich könnte geträumt haben, oder? Ich wußte doch, daß sie... daß... Das wäre doch ein etwas großer Zufall, oder?”
Als alles still blieb, sah sie auf. “Jannis?”
Sein Gesicht war, als wäre er nach Hause gegangen und hätte das Licht hinter sich ausgemacht. Sein Blick ging an ihr vorbei, und der Mund hing leicht offen. “Du sagst, jemand ist ans Ufer gerudert und hat sie abgeholt”, meinte er langsam, mit derselben blöden Miene. Von irgendwoher kam die Erinnerung an Sylle, wie sie sich über ihn lustig machte, ein 19jähriges Landei, das noch nie über sein Dorf hinausgekommen war.
Maja nickte.
“Weißt du, was letzte Nacht war? Letzte Nacht war Laurentiusnacht. Wenn es einen Zeitpunkt gibt, sich so weit wie möglich von der Möweninsel fernzuhalten, dann ist es dieser. Du glaubst nicht wirklich, daß unser Job, ich meine der des Möwenkönigs, in erster Linie daraus besteht, Vogeleier vor Leuten zu schützen, oder?”
“Äh”, sagte Maja, “Leute vor Eiern?”, und dann begriff sie. “Oh.”
Jannis schüttelte den Kopf. “Ein paar Gelege weniger, mal ein Lagerfeuer am Ufer, das verträgt das Ökosystem schon. Aber die Leute wissen nicht... sie wissen nicht, was hier...”
Maja dachte an das schattenschwarze Boot, die Gestalt im Heck, die es lautlos durch die Wellen lenkte. “Großer Gott”, sagte Jannis und setzte sich mitten in die Möwenkacke.
Unter ihnen rannte ein Mädchen das Ufer entlang, daß ihre dunklen Locken flogen.
“Ceren!” schrie Maja, lauter als die Möwen. Das Mädchen hielt inne.
Selbst von hier oben konnten sie sehen, daß sie weinte.
Schweigend ließen sie sich zurückrudern. Es dauerte, bis die Möwen sich beruhigen wollten. Ceren kauerte im Heck und starrte zu den kreisenden Vögeln auf, als könne sie sie mit ihrem Blick vom Himmel holen.
Erst hatte sie es für Seegras gehalten, lange, feine Ranken, die die Brutvögel von der Wasseroberfläche gesammelt hatten, um ihre Nester zu polstern. Aus der Nähe erkannte sie, daß es Haar war. Frauenhaar, mattgolden, mit einem rötlichen Schimmer. Der Wind trieb es strähnchenweise über die Insel, wo es sich in Stauden, Büschen, Zweigen verfing; und die Seevögel ernteten es ab, geduldig, aber mit fast mechanischer Zielstrebigkeit, Strähne für Strähne, Haar für Haar. Wo Ceren hinsah, begegnete sie kalten, runden Vogelaugen über Schnäbeln, in denen gesponnenes Gold wehte.
“Sie ist tot”, sagte Ceren unvermittelt und blickte über ihre Schulter, dorthin, wo der Buckel der Insel aus dem trüben Wasser wuchs, “irgendwo da liegt sie!”, und sie dachte wieder an die Möwen mit ihren kalten Augen, den grausamen Schnäbeln. Aber Jannis schüttelte den Kopf.
“Sie ist nicht auf der Möweninsel.”
Cerens Augen funkelten. “Und woher willst du das wissen?”
Jannis Gesicht spiegelte nichts außer der vagen Anstrengung des Ruderns. “Wir haben den 10. August. Er wird sich ihren Tod genommen und sie im Fluß versenkt haben.” Seine Lippen waren schmal. “Wie Erich.”
Maja und Ceren tauschten einen Blick von Bug nach Heck. Majas Mund öffnete sich, aber es schien Sylle, die daraus sprach: “Ach, ihr macht hier so etwas öfter?”
Jannis zog schweigend die Ruder durch die grüne Flut. Maja sah, wie die Muskeln an seinem Unterarm sich spannten und wieder lockerließen, spannten und lockerließen. Er hatte die Ärmel des Karohemdes hochgekrempelt; unter seinen Achseln zeichneten sich Schweißflecken ab.
“Wir reden hier”, sagte er, “von Herzog Abel. Der seinen Bruder, den Dänenkönig, zu sich einlud, um sich mit ihm zu versöhnen, und ihm dann die Kehle durchschneiden ließ, weil er scharf auf die Krone war.”
“Aber das war doch bestimmt nicht erst gestern”, brachte Maja vorsichtig vor. Jannis drehte sich nicht zu ihr um.
“1250”, sagte er. “In der Nacht des 9. August, um ganz genau zu sein. Auf der Möweninsel stand seine Burg.”
Eine lange Weile sagte niemand etwas. Ceren, die Hände im Schoß, starrte in das sonnenbefunkelte Wasser. Reflexe tanzten über ihr Gesicht. Maja schluckte.
“Ein toter Graf hat Sylle umgebracht?”
“Herzog”, sagte Jannis in seiner ruhigen Art. “Und König, für gerade man zwei Jahre. Er ist nicht tot. Er ruht. Und er ist nicht allein. Er hat seine Getreuen, die ihn bewachen, Tuko Boost, sein Kämmerer, und Lauge Gudmunsen, der den König haßte.”
“Ruhen die auch?”
“Sie sind die Möwen”, erklärte Jannis. Tropfen perlten von den Ruderblättern, bevor er sie wieder eintauchte. “Ihre Seelen sind dazu verdammt, für alle Zeiten in den Möwen um die Insel zu kreisen. Zumindest...” Er hielt inne, um sich mit dem Handrücken über die Stirn zu wischen. “Zumindest bei Tage. Nachts ist eine andere Sache. Besonders die Monde. Vollmond und Neumond.”
Ceren löste ihre Augen von dem tanzenden Wasser. “Das ist Wahnsinn.”
Zum erstenmal lachte Jannis, oder zumindest hörte es sich danach an.
“Das ist unsere Geschichte”, sagte er.
Diese Nacht blieb der dritte Schlafsack nicht leer.
Maja konnte immer noch nicht glauben, daß sie geblieben waren; daß sie nicht längst im Zug nach Hause saßen und diesen Alptraum hinter sich ließen. Nur, daß das unmöglich war. Egal, wie weit sie fuhr, die Erinnerung an Sylle im nächtlichen Wasser, das schmale Boot, würde sie überallhin begleiten.
Ich hätte sie retten können, dachte Maja. Ein Ruf, und sie wäre nicht eingestiegen. Das Boot wäre ohne sie zur Insel zurückgekehrt.
Aber stimmte das denn? Wer sagte ihr, daß der Bootsmann nicht stattdessen an Land gekommen wäre, zu ihnen? Und Sylle, Sylle wäre nicht vor ihm weggelaufen, sie hielt ihn doch für ihren Lukas...
“Es macht keinen Unterschied”, hatte Jannis erklärt. “Ihr wißt, daß sie tot ist. Ihr kann niemand mehr helfen. Aber ich muß sehen, wie schlimm es steht. Eine Nacht nur. Dann könnt ihr zur Polizei.”
Also streckte sich nun ein schlacksiger Junge auf Sylles Schlafsack aus, was ihr vermutlich gefallen hätte, auch wenn sie eigentlich nicht auf Rotköpfe stand. Er hatte den Mädchen angeboten, sie in der Bootsvermietung unterzubringen, aber Maja blieb lieber in ihrem Zelt, und Ceren war ohnehin alles egal. Sie kochte immer noch, daß sie Sylle “verraten” hatten, wie sie es nannte; daß nicht längst eine Hundertschaft Freiwilliger nach der Leiche von Sylvie Boysen, 15, aus Oldenburg suchte.
Sie saßen im Dunkeln, denn Jannis wollte nicht, daß man ihre Umrisse durch die Zeltwände schimmern sah. Die Grillen hatten ihr Konzert wieder aufgenommen, und vom Wohnwagen der Holländerinnen kam wie üblich das Gedudel und Geplapper von Radio Schleswig-Holstein, surreal in seiner Normalität – Sylle war tot, Opfer einer Legende, die mehr als 750 Jahre zurücklag, und Leute tanzten immer noch zu den Pet Shop Boys.
“Wann kommt er denn, dein Zombiekönig?” fragte Ceren mürrisch.
Jannis ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. “Er ist kein Zombie. Er ist ein Wiedergänger, eine Art Vampir.”
Ceren grunzte, aber er schüttelte den Kopf. “Nicht, was du denkst; keiner von diesen Varietémagiern mit Fangzähnen. Ein Vampir im Ursinn; jemand, der vom Grab aus deine Lebensenergien trinkt. Bis er stark genug ist, unter uns zu wandeln. Und dann hält ihn nichts mehr. Meine Familie... meine Vorfahren haben versucht, ihn zu bannen, aber ein Brudermörder findet keine Ruhe. Und er hat Lauge und Tuko.”
“Das ist doch Blödsinn.” In der Dunkelheit war Cerens Gesicht nicht zu erkennen, aber sie klang bitter. “Wiedergänger! Das war irgendein Irrer hier vom Dorf, der Sylle und ihren Macker belauscht hat, im Café oder sonstwo. Und als Sylles Typ dann nicht auftauchte, hat er sich schnell ins Boot gesetzt. Und dieser Irre...” Sie wurde lauter und lauter, je mehr sie sich in Wut redete, “dieser Mörder läuft jetzt irgendwo da draußen rum und freut sich, daß ihr hier an Geister und sowas glaubt statt an Triebtäter! Meine Güte, vielleicht lebt Sylle sogar noch, habt ihr daran mal gedacht? Vielleicht war das mit dem Haar nur ein, ein Fetisch! Oder eine falsche Spur, was weiß ich, ein–”
“Haar”, sagte Jannis, “Haupthaar, ist Energie. Das glaubten sie im Mittelalter. Wem der Kopf geschoren wurde, der verlor seine Kräfte. Und Abel ist eine mittelalterliche Kreatur. Sie ist tot, Ceren. Sie haben ihr erst das Haar abgeschnitten, für die Energie, und dann ihr Blut getrunken, ihr Leben.”
Maja fröstelte, obwohl die Luft im Zelt warm und stickig war und ihr das T-Shirt am Leib klebte. Cerens Stimme war kaum mehr als ein Zischen.
“Vielleicht warst du es. Vielleicht hast du es getan, Jannis. Du kennst dich aus mit diesen Leuten von Outward Bound, oder? Du weißt, daß sie ihre Gruppen mit diesem Segeltörn überraschen. Und ich hab gesehen, wie du Sylle angeguckt hast, das haben wir alle gesehen, man hätte ja blind sein müssen. Bloß, daß Sylle nicht auf Typen wie dich steht. Dorfdeppen ohne Zukunft, für die ihr Misthaufen der Nabel der Welt ist.” Sie atmete aus. “Und sie wäre zu dir ins Boot gestiegen. Oder? Sie hätte sich nicht vor dir gefürchtet. Hat sie sich vor dir gefürchtet, Jannis? In dem Moment, wo du sie angefaßt hast? Ihr Haar um deine Hand gewickelt und gezogen? Vielleicht, als anfingst, ihr die Luft abzudrücken, hat sie da Angst bekommen?”
Maja schluckte. Sie konnte ihr Herz pochen hören. Sie saßen in ihrem engen Zelt wie unter einer Glasglocke; sie hatte den Geruch von Schweiß in der Nase, ihrem eigenen oder dem von Ceren.
“Und du sagst, ich spinne”, meinte Jannis trocken und spielte weiter mit der Taschenlampe auf seinen Knien.
“Die Grillen”, sagte Maja plötzlich. Sie griff nach Cerens Arm. “Hörst du?”
Radio Schleswig-Holstein quäkte immer noch seinen Kinderpop in die Nacht, aber die Grillen schwiegen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Jannis sich aufrichtete, das Gesicht in Richtung der Zeltöffnung wandte. Die Zeiger ihrer Uhr glommen auf kurz nach elf. Vom Ufer her ein Rauschen wie von Schilf, nur daß es dort kein Schilf gab, bloß Gras, filzige halbwilde Wiese.
Schlagartig erstarb die Musik.
“Na endlich”, murmelte Jannis, aber dann hörten sie die beiden Mädchen gedämpft reden, die Worte verständlicher gemacht durch den Tonfall – tiefste Verwunderung, leichter Ärger: Warst du das? Nein. Spinnt die Kiste jetzt?
Maja war sicher, daß sie nicht die einzige war, die den Atem anhielt. Die Arme um den Körper gezogen, kauerte sie auf ihrem Schlafsack; die leiseste Bewegung ließ das glatte Material rascheln. Draußen stockte die Diskussion, mitten im Wort – es war die Blonde, die geredet hatte, dachte Maja, die Blonde mit den kurzen Haaren, Ann hieß sie, oder war das die andere? Dann, unvermittelt, ein scharfes: “Hallo?”
Das zweite Mädchen murmelte etwas, aber die Blonde brachte sie mit einem Zischen zum Schweigen. In Majas Nacken stellte sich jedes einzelne Haar auf. Selbst Cerens Blick hing eulengleich an der Zeltwand, als könne sie glatt hindurchsehen, zu den beiden Holländerinnen vor ihrem hellerleuchteten Wagen mit den Klappstühlen und dem wackeligen Tisch davor.
Und wieder: “hallo?”, diesmal mit einem Unterton von Argwohn, oder beginnender Angst. Sie fragt nicht einmal: wer ist denn da?, dachte Maja.
Ein Zweig knackte, irgendwo hinter der Rückwand ihres Zeltes, und vor ihrem geistigen Auge sah sie einen Schatten, der sich dem Wohnwagen näherte, von hinten, weit ab von dem Licht der Zitronellakerzen auf dem Campingtisch. Und dann, wie in der Nacht davor, das gellende Kreischen eines Seevogels, das sich mitten im Ton überschlug und einen Moment lang klang wie ein Frauenschrei, oder vielleicht war es auch andersherum, und bevor der Laut verklungen war, hatte Jannis schon den Reißverschluß aufgerissen und stürzte in die Nacht hinaus, buchstäblich, denn sein Stiefel blieb an der Nylonkante des Einstiegs hängen.
Eine Tür wurde zugeschlagen, und diesmal war es eindeutig eine Frau, die schrie, ihre Stimme gedämpft durch die Wände ihres Wohnwagens. Polternd traf der Campingtisch die Wand; die Kerzen rollten über den sandigen Boden, erloschen, das dicke Glas zersprungen.
“Hey!” brüllte Jannis; die dicken Sohlen seiner Gummistiefel machten ein wetzendes Geräusch auf dem Gras, als er rannte. Ceren steckte den Kopf aus dem Zelt, und Maja, gegen ihren Willen, schob sich neben sie.
Der Wohnwagen war dunkel. Von Zeit zu Zeit sah man das helle Oval eines Gesichts an einem der Fenster. Unschlüssig trabte Jannis vor dem Wagen hin und her, die Taschenlampe in der Hand; er schien nicht daran zu denken, sie einzuschalten. Sein Kopf wandte sich hektisch in die eine Richtung, dann in die andere, als höre er etwas, das er nicht orten konnte.
“Mensch, Möwenkönig”, murmelte Ceren. Als nächstes fühlte Maja sich an den Haaren gepackt und aus dem Zelt gerissen, daß ihr nicht einmal Zeit zum Luftholen blieb; im nächsten Moment lag sie vor dem Zelt auf dem Boden, eine Hand über ihrem Mund, die sich trocken und leicht anfühlte wie Holz, Balsa-Holz, nur daß die leichte, rauhe Balsa-Hand sie festhielt mit der Kraft einer Schraubpresse. Über ihr ein Schemen, unmenschlich schmal und langgezogen, seine Umrisse uneben, schorfig wie blätterige Rinde, und uniform schwarz, obwohl es aussieht, als trüge er Kleidung – die zweigdürren Finger so schwarz wie sein Ärmel, sein Gesicht so schwarz wie sein Haar, das, was von seinem Haar übrig ist, spinnwebhafte Strähnen, die drahtig von seinem schwarzen, fleischlosen Schädel abstehen.
Die Zeit hat angehalten, genau wie Majas Herzschlag; sie schmeckt ihn auf der Zunge, die schwarze Bitterkeit seiner Borkenhaut, dort, wo seine Finger ihre Lippen teilen, und aus weitaufgerissenen Augen starrt sie in sein langes, verdorrtes, fast zugloses Gesicht. Die andere Hand gräbt sich noch immer in ihr Haar, und sie kann den Kopf nicht abwenden.
Dann richtet er sich auf und beginnt, sie an den Haaren zum Ufer zu schleifen.
Der Bann brach; im selben Augenblick, in dem er ihren Mund freigab, begann Maja zu kreischen, ein dünner, hoher Laut, der in ihren eigenen Ohren möwenhaft klang. Über ihr tanzten die Sterne im nachtdunklen Himmel, mit jedem ruckhaften Schritt, den die Gestalt sie weiterschleppte, und der Schmerz sprühte Funken vor ihren Augen. Sie mußte sich zwingen, nicht einfach die Augen zu schließen und sich von Angst und Panik davontragen zu lassen, zwei Arten von Nacht, zwei Arten von Sternen; schon konnte sie das Wasser der Schlei riechen, das Glucksen hören, mit denen die schwachen Wellen am Sand austrudelten. Sie krallte die Finger in den Boden, fühlte kühle, feuchte Erde unter ihren Nägeln hinweggleiten, und schrie wieder.
Ein dumpfer, rasselnder Schlag, krustenhafte Brocken flogen, und auf einmal war sie frei, die plötzliche Abwesenheit des Reißens an ihrer Kopfhaut fast wie eine eigene Art von Schmerz. Auf Händen und Füßen kroch Maja zur Seite und sah Ceren, den Vollmond auf der Schulter, wie sie erneut ausholte und der Gestalt die schwere Kette ihres Fahrradschlosses ins Kreuz schmetterte. Es gab einen Laut, als träfe ein Schirm auf einen Sack voller Murmeln. Der Borkenmann fiel nach vorn.
Im nächsten Moment war er verschwunden, lautlos wie eine Schlange mit dem Wasser verschmolzen; jetzt erst sahen sie das Boot, das ein paar Meter flußabwärts festgemacht war. Etwas zog sich über den Bootsrand, ein Kopf, Schultern, und dann landete das Geschöpf mit einem Scharren auf dem Boden des Kahns. Der Mond schien hell genug, daß sie sein Gesicht ausmachen konnten, die Augenhöhlen wie ausgetrocknete Pfützen, den höhlenlosen Mund, kaum mehr als eine zerknitterte Einkerbung. Und das Wesen war nicht allein. Keine Minute später schob sich ein weiteres Paar Arme über den Rand, ließ sich eine weitere verdorrte, schwärzliche Kreatur in das Boot gleiten.
Etwas durchschlug hart die Wasseroberfläche, und Maja prallte zurück, gegen Jannis, der bleich und außer Atem hinter ihr erschienen war, die Hände leer, seine schwere Taschenlampe unterwegs auf den Grund der Schlei. “Verdammt!” Er sah aus, als würde er im nächsten Moment selbst in den Fluß springen. “Verdammt nochmal!”
Das Boot und seine Passagiere befanden sich bereits hinter der Flanke der Insel, die im Mondlicht weiter entfernt wirkte als noch am Nachmittag; aber nicht weit genug, daß Maja nicht den Mann hätte sehen können, der auf der Kuppe stand, reglos, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Wartend.
Sie blinzelte, und die Gestalt war fort.