Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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April 2004
Das Märchenbuch
von Klaus Eylmann

Der Flohmarkt ist in der Stadt! Der Flohmarkt ist in der Stadt!

Es war einmal ein kleiner Junge. Hans hieß er. Der machte sich mit seinem Vater auf den Weg zum Flohmarkt, auf den einmal im Jahr Menschen kamen, um sich von alten Dingen und Erinnerungen zu trennen.
Nebel hing über dem Rasen und Tau benetzte ihre Schuhe. Durch die Äste der Kastanienbäume schimmerte eine kränkliche Morgensonne. Tische mit Auslagen, die Menschen dahinter, tauchten aus dem Nebel auf und verschwanden wieder darin. Hans ging mit seinem Vater vorbei. Zinnteller, Tassen und Gläser, Bilder, Taschenuhren sahen ihnen hinterher. Der Nebel wich zurück und folgte ihnen aus einiger Entfernung. Wie feig er ist, dachte Hans. Sein Vater ergriff einen alten Stahlhelm. Das Gesicht verzog sich unter grauem Bart. Er legte den Helm zurück und sah auf eine Frau, die über ihren Stuhl hinausquoll.
“Tinnef!”, murmelte er und ging zum Büchertisch.
Bücher mit vergilbten Seiten. Ein kleines, unscheinbares zwischen Folianten, und weil Hans auch klein war, sagte er zu sich: ‘Dieses ist für mich.’ Er beugte sich vor und sah den Titel. Ein altes Mütterchen kam hinter dem Bücherstapel hervor.
“Märchenbuch”, flüsterte er und fragte: “Was kostet das?”
“Welches Buch meinst du, mein Junge?”
“Das Märchenbuch.”
“Das ist ein besonderes Buch.” Die Alte zog es heraus, hielt es in knöchernen Händen.
“Wenn es merkt, dass du es nicht mehr brauchst, kommt es zu mir zurück. Deswegen kostet es dich auch nur zehn Groschen.”
“Danke”, sagte Hans und ging mit seinem Vater weiter.

Hans fragte sich, ob er das Buch kaufen sollte. Am Nachmittag hatte er sich entschieden, und er schüttete zehn Groschen aus seinem Sparschwein. Dann fuhr er mit dem Fahrrad auf die Wiese zurück. Der Nebel war verflogen, Tische, Tassen, Teller, Uhren, Menschen verschwunden. Wie weggewischt. Waren sie jemals da gewesen? Kastanienbäume, wenn sie doch nur reden könnten! Der Junge schwang sich wieder auf sein Rad, da kam das Mütterchen hinter einem Baum hervor, zeigte mit ihrem Stock auf ihn und zog ein kleines Buch aus ihrer Joppe.
“Das Märchenbuch!”, rief Hans.
Er holte das Geld aus der Hosentasche und gab es der Frau.
“Danke!”, rief er, nahm das Buch und radelte davon. Der Weg führte an einer Bank vorbei. Hans sprang von seinem Rad, setzte sich und schlug das Buch auf.
“Es war einmal...”. Hans las von Prinzen, Drachen, Zauberern.
“Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.”
“Nur ein einziges Märchen.” Enttäuscht legte er das Buch aus der Hand und sah den Meisen zu, die in den Sträuchern umherhüpften. Seufzend nahm er es sich wieder vor. Wie erstaunt war Hans, als er ein anderes Märchen entdeckte. Er blätterte bis zur letzten Seite, dann wieder an den Beginn zurück. Das andere Märchen blieb.
“Vielleicht muss ich jedes Märchen erst lesen, bevor ein Neues kommt?”, fragte sich Hans und las, wie Dornröschen sich in den Finger stach. Seine Augen flogen über die Seiten. Als er die Geschichte zu Ende gelesen hatte, war die Sonne hinter dem Kirchturm verschwunden. Doch Hans hatte keine Mühe zu erkennen, dass in dem Buch wieder ein neues Märchen stand.
“Ein Zauberbuch”, flüsterte er.

Wie aufgeregt war Hans, als er es seinem Vater zeigte. Die Stimme versagte ihm, dann brach es aus ihm hervor: “Ein Zauberbuch!” Der Vater schüttelte verwundert den Kopf.
“Ich sehe nur leere Seiten.”
“Da steht ein Märchen drinnen”, rief der Junge erbost. “Siehst du das denn nicht?”
Hans blickte seinem Vater hinterher, der ohne etwas zu sagen, davon ging. Hans Mutter sah auf das Buch und fragte: “Junge, willst du ein Tagebuch schreiben?”

Wenn Hans in seinem Bett lag, hörte er nie auf zu lesen, weil für ihn immer ein neues Märchen im Buch stand, wenn das alte zu Ende war. Er las, bis seine Mutter an die Tür klopfte und rief: “Mach das Licht aus!”. Doch Hans Neugier war so groß, dass er am nächsten Tag eine Taschenlampe kaufte. Und so las er jede Nacht unter der Bettdecke, bis ihm die Augen zufielen.
Es entging seinen Eltern nicht, und je älter Hans wurde, desto öfter hörten sie des Nachts, wenn er rief: “Wie lieb ich dich!” War es eine Nacht Rapunzel, waren es die nächsten Schneewittchen, Schneeweißchen, Rosenrot. Hans Eltern wussten nicht mehr ein noch aus. Besorgt sahen sie sich an und stopften sich die Ohren zu. Dann gingen sie,
als Hans alt genug war, aufs Land und ließen ihn mit seinem Märchenbuch allein.

Hans war zu einem schönen Jüngling herangewachsen. Er ging zur Post, um einen Beruf zu erlernen. Dort saß er jeden Tag hinter dem Schalter: Schön, freundlich, unglücklich. Traurigkeit umhüllte ihn mit unsichtbaren Schleiern, seitdem ihn seine Eltern verlassen hatten.
Frauen spürten seine Pein. Einige machten sich daran, ihn abends auf dem Weg nach Haus zu begleiten und zu trösten. Bald war es ihnen nicht genug, und sie fanden ihren Weg in sein Haus, dann in sein Bett. Manch junge Frau lag abends neben ihm und verzweifelte, wenn seine Stimme durch die Bettdecke kam: “Rapunzel, Rapunzel, wie lieb ich dich!” Doch wenn sie die Decke von ihm zog, fragte er: “Und wer bist du?”
Hans lag jede Nacht unter der Bettdecke und las. Rapunzel, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot, Scheherezade, Dornröschen hatten seine Phantasie entzündet. Eine war in seiner Phantasie schöner als die andere. Wie sehnte er sich nach ihnen! Doch kehrten diese Märchen nicht mehr zurück. Es erschienen neue, immer wieder neue. Dann war da Frau Hagestein. Sie kam zwei mal die Woche, putzte im Haus und sah aus, wie eben eine Frau Hagestein aussieht: Stattlich und von angenehmen Äußeren.

Es war einer jener lauen Sommerabende, in der sich die Natur gehen lässt und die Fenster der Schlafzimmer geöffnet sind. Hans las in seinem Märchenbuch, als Frau Hagestein an die Tür klopfte, um sich zu verabschieden. Hans rief etwas. Die Frau öffnete die Tür.
“Herr Hans”, begann Frau Hagestein, dann hörte sie: “Schneewittchen, Schneewittchen, wie lieb ich dich!” Hitze lief der guten Frau den Körper entlang. Schneewittchen hat er mich genannt! Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch und das Herz raste in ihrer Brust. “Herr Hans”, hauchte sie und zog die Bettdecke von seinem Kopf. Sie sah die Taschenlampe, das Buch mit leeren Seiten.
“Kommen Sie zu sich!”, rief die resolute Frau, riss ihm das Buch aus der Hand und warf es zum Fenster hinaus. Just zu dieser Zeit kam ein altes Mütterlein vorbei, sah zum Haus empor. Dann bückte es sich, hob das Buch auf und setzte seinen Weg fort.
“Mein Märchenbuch!”, rief Hans. “Was haben Sie mit meinem Buch gemacht?” Er schluchzte, vergoss Tränen zuhauf. Sein Klagen wollte kein Ende nehmen. Da lief die Frau zum Fenster und sah, das Buch war fort. Von Reue geplagt, setzte sie sich aufs Bett, um ihn an ihre Brust zu drücken. Doch hatte er sich unter der Decke versteckt. Sie legte sich zu ihm, zog die Bettdecke über ihren Kopf, um ihm ganz nah zu sein. Die gute Frau wusste nicht, wie ihr geschah, als Hans sie mit Küssen bedeckte und jauchzte: “Schneewittchen, Schneewittchen, jetzt bist du mein.” Und sie dachte: Nenne mich doch Gertrud.
Sie liebten sich ohne Unterlass. Als Hans erschöpft einschlief, kam Frau Hagestein unter der Decke hervor, ordnete ihre Kleidung und sagte sich: Sähe er mich jetzt, wäre ich nur Frau Hagestein für ihn.

Bald hatte Hans die Episode vergessen. Frau Hagestein nicht. Sie konnte und sie wollte es nicht. Sie dachte nach und kam zu einem Entschluss.

Der Abend war lind. Amseln flöteten von den Dächern. Hans ging nach Haus und schloss die Tür auf. Wieso ließ sich das Licht nicht einschalten? Er stolperte über etwas, hob es vom Boden auf. Es war eine Taschenlampe, und er knipste sie an. Bettdecken, sie klebten überall. An Wänden, Zimmerdecken, Fenstern und Türen. Dann sah er einen nackten Rücken, hörte leises Lachen.
“Rapunzel!” Die Frau verschwand, Hans stürzte ihr nach und zog sich seine Jacke vom Leib. Dann liefen sie die Treppe hoch. “Schneewittchen!”. Hans riss sein Hemd auf. Sie rannten an den Schlafzimmern vorbei. “Schneeweißchen!”, Hans ließ das Hemd auf den Boden fallen. Sie lief die Stufen hinab. “Rosenrot!” Er verfolgte sie durch die Küche, riss an seinem Hosengürtel.
“Scheherezade!” Hans stolperte über seine Beinkleider. “Dornröschen!” Eine Bettdecke löste sich und fiel auf den Boden. Erschrocken blieb die Frau stehen und wandte sich ihm zu. Hans war geblendet von ihrer prallen Weiblichkeit und sah: Sie war schöner als alle Märchenprinzessinnen zusammen.
“Frau Hagestein!”
“Ich heiße Gertrud”, flüsterte sie.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute.




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