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April 2004
Finsterwald
von Sabine Ludwigs

An einem Waldrand lebte einmal ein Förster mit seiner Frau. Sie hatten einen Sohn, der hieß Nion. Nion war ein schönes Kind, mit dunklen Locken und grünen Augen. Als er noch ein kleiner Junge war, wurden die Frauen ganz närrisch, wenn sie ihn nur anschauten, denn er sah aus, wie ein Engel. Aber Nion war ein Hitzkopf! Auch, als er zu einem kräftigen Jungen herangewachsen war, legte sich sein Jähzorn nicht, und er ließ seiner Wut oft freien Lauf.
„Ich wünschte, ich hätte keine Eltern!“, schrie Nion eines abends.
`Nur weiter, Junge!`, frohlockte die schwarze Gestalt, die unbemerkt von draußen durch das Fenster ins Haus spähte.
„Nion,“ sagte seine Mutter beschwichtigend, und streckte liebevoll den Arm nach ihm aus. Nion schlug nach ihr. „Ich wünschte, ich hätte keine Eltern, dann könnte ich machen, was ich will! Ich hasse euch!“, brauste er auf.
Der heimliche Besucher lachte lautlos in sich hinein, und zeichnete mit dem Finger unsichtbare Muster in die Finsternis.
„Nion, geh in deine Kammer, und denke darüber nach, ob man so mit seiner Mutter spricht,“ ordnete sein streng Vater an.
Der Junge stürmte hinaus und schlug mit einem Krachen die Tür hinter sich zu. Er würde auf sein Zimmer gehen. Er ging sogar gerne, denn er mochte seinen Eltern nicht länger zuhören. Am Liebsten wollte er sie nie wiedersehen. „Nie wieder,“ murmelte er wütend vor sich hin, und wischte die Zornestränen mit geballten Fäusten fort. In ihm brodelte es.
Dabei hatte er seinen Vater bloß gefragt, ob er einen Bogen mit Köcher und Pfeilen bekommen könnte. Er war doch schon groß. Es waren nur noch wenige Tage, bis zu seinem zwölften Geburtstag.
„Die Zeit ist noch nicht reif, mein Sohn,“ hatte sein Vater schmunzelnd geantwortet. Und die Mutter hatte gelächelt, und ihm beigepflichtet. „Warte ab, Nion...“ Zornig war der Junge ihr ins Wort gefallen, wollte nichts hören! Nein, sie hatten nein gesagt. Das reichte.
Der Schatten triumphierte.
Nion hockte auf seinem Bett. Er lauschte dem leisen Gemurmel der Eltern, hörte, wie die Mutter das Abendessen abräumte, und wie sie schließlich zu Bett gingen. Ohne noch einmal nach ihm zu sehen. Das tat weh!
Die düstere Erscheinung grinste stillvergnügt.
Bald war es ruhig im Haus. Stumm kauerte Nion in der Dunkelheit. Sein Groll war allmählich verflogen. Warum war er überhaupt so hasserfüllt und voller Grimm gewesen? Er fühlte Bedauern in sich aufsteigen. Dann schämte er sich. Unruhe überkam ihn. Er spürte, er würde nicht schlafen können, bis er mit seinen Eltern im Reinen war.
Der Schatten vor dem Haus, schnalzte missvergnügt mit der gespaltenen Zunge. Er war unzufrieden mit der Entwicklung, auch, wenn es keine Rolle mehr spielte.
Nion stahl sich aus dem Bett und schlich in das Elternschlafzimmer. Sie schliefen tief und fest. Es tat ihm im Herzen weh, sosehr liebte er sie. „Es tut mir leid,“ flüsterte er, und streichelte das lange Haar seiner Mutter und die starke Hand seines Vaters. Sie erwachten nicht. Bang schlug dem Kind das Herz in der Brust. „Ich will euch nie verlieren! Niemals!“, wisperte er drängend.
„Zu spät,“ raunte die Stimme in der Nacht zufrieden. „Zu spät!“
Der Schatten zeichnete eine letzte, glühende Rune in die Luft und murmelte geheimnisvolle Worte. Dann schwang er sich auf schwarzen Schwingen in die Lüfte, und verschwand.
Im gleichen Augenblick fühlte Nion, wie sich eine schwere Last von seiner Seele hob. Er ging zurück ins ein Bett und schlief. Traumlos, bis zum Morgen.
Als Nion erwachte, schien die Sonne in sein Zimmer. Ihr Stand verriet ihm, dass die Frühstückszeit längst vorbei war. Er erschrak. Hastig stand er auf, zog sich an und eilte nach unten.
Niemand war da. Das Haus war still und verlassen.
„Mama?“, rief er. „Mama, wo bist du?“ Keine Antwort.
„Papa?“, er lief durch sämtliche Räume. Nichts!
Vom Dachboden bis zum Keller durchsuchte er das Haus.
Keine Menschenseele war zu finden. Die Schatten in den Ecken und Nischen des Hauses waren tiefer als sonst, doch Nion bemerkte es nicht. Er rannte vor die Haustür, und suchte den Garten und das angrenzende Waldstück ab. Die Pferde grasten friedlich, der Hund döste in der Sonne und die Katze fing ihren Schwanz. Keine Spur von seinen Eltern.
Er lief weiter, über Wiesen und Felder, fragte Bauern, Mägde und Knechte.
Niemand hatte den Vater oder die Mutter gesehen.
Der Junge stürmte ins Dorf. Doch auch hier fand er seine Eltern nicht. Sie waren weder in der Kirche, noch auf dem Markt. Er suchte sie den ganzen Nachmittag, doch sie blieben verschwunden.
Nion war verzweifelt. Da kam ihm ein Gedanke: Vielleicht waren sie längst zu Hause? Er musste schnell zurück und beschloss, die Abkürzung durch das Uhlenwäldchen zu nehmen. Nion bog auf den Waldpfad ein, als ihm eine alte Frau entgegentrat. Sie war klein, mit einer rundlichen Figur, einer gebogenen Nase und großen, runden, hellen Augen. Sie trug einen eigenartig zerrupften, bräunlichen Umhang.
„Wohin so eilig, Jungchen?“, fragte sie mit hoher Stimme.
„Nach Hause, ins Forsthaus.“ Nion wollte sich an ihr vorbeischieben, aber sie verstellte ihm den Weg. „Es wird bald dunkel. Geh nicht durch den Wald. Es ist zu gefährlich.“
Nion konnte seine Ungeduld kaum unterdrücken. „Ihr meint sicher die Spukgeschichten über die Tiergeister?“
Die Alte nickte knapp. „So ist es! Verärgere die Tiergeister nicht. Nicht alle sind den Menschen wohlgesonnen. Sie führen dich in die Irre. Gehe einen Umweg. Das wird besser sein.“
„Das dauert mir zu lang! Ich suche schon den ganzen Tag nach meinen Eltern, und kann sie nicht finden. Ich muss dringend Heim!“ Er hastete an der Alten vorbei, sah das Mitgefühl in ihrem starren Blick nicht mehr. Kopflos rannte er in den Wald.
Das alte Weib zögerte. Sie hatte Angst in dem Kind gespürt. Aber da war noch etwas anderes: Sie witterte das Tun des Bösen. Unruhig wanderten ihre außergewöhnlichen Augen über den Saum des Waldes. Dann ließ sie sich ins hohe Gras fallen. Kurz darauf flog eine große Eule auf und verschwand zwischen den Bäumen. Dem Jungen folgend.
Nion hatte sich verlaufen! Es wurde langsam dunkel und er wusste nicht, wie lange er schon umherirrte. Der Wald, der ihm sonst so vertraut war, wirkte fremd und bedrohlich. Seit Stunden war er keiner Seele begegnet. Abrupt blieb er stehen. War er an diesem vermoosten Baumstumpf nicht schon einmal vorbeigekommen? Nion war sicher, dass er im Kreis lief. Er glaubte nicht mehr daran, seinen Weg noch zu finden. Der Ruf einer Eule ertönte und ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Das Tier saß auf einem abgestorbenem Ast. Eindringlich sah der Vogel ihn an. Dann flatterte die Eule ein paar Fuß weiter, bevor sie sich erneut niederließ, den Kopf nach hinten drehte und Nion anblickte. War das eine Aufforderung?
Der Junge beschloss, dem Tier zu folgen. Warum nicht? Allein war er nur sinnlos im Kreis gelaufen. Immer wieder flog die Eule ein kurzes Stück voraus, landete auf einem Baum und schaute sich nach Nion um, bis sie sicher war, dass er ihr folgte. Er fasste Zutrauen zu dem großen Vogel. Der Mond schien auf den Weg, die Bäume standen weniger dicht und plötzlich sah er das Haus seiner Eltern! Nion war erleichtert, bis er begriff, dass kein Licht hinter den Fenstern brannte, obwohl es Zeit für das Abendessen war. Sie waren nicht heimgekehrt. Verlassen lag sein Zuhause vor ihm.
Verzagt ließ er sich auf einem Findling nieder und verbarg sein Gesicht in den Händen. Das „Schuhu“ der Eule ließ ihn aufblicken. Der majestätische Vogel saß vor ihm und beäugte ihn aus goldenen Augen. Nion fühlte sich seltsam getröstet. „Nun, Vogel der Weisheit, was soll ich tun? Meine Eltern sind verschwunden. Wo kann ich sie finden? Kannst du es mir sagen?“, fragte er verzweifelt.
Die Eule legte den Kopf schief und antwortete mit menschlicher Stimme: „Ich kenne die Antwort auf diese Frage nicht. Du musst das Allwissende Orakel befragen. Die Weiße Frau und der Schwarze Mann sehen alles. Suche das Orakel auf dem Gipfel des Tafelberges, am Ufer des Spiegelsees. Dort wirst du eine Antwort erhalten. “
Noch ehe Nion sich von seinem Schreck erholt hatte, erhob sich die Eule in die Luft und glitt mit lautlosem Flügelschlag davon. Nion war wie gelähmt, bis ihm klar wurde, dass ihm ein guter Tiergeist geholfen hatte. Dankbar sah er der Eule hinterher. Schließlich stand er auf und rannte zu seinem Elternhaus. Er aß, trank und schlief ein wenig. Am Morgen nahm er einen Rucksack und füllte ihn mit Proviant. Nion überlegte, dass er vielleicht eine Waffe brauchen würde, und tat, was ihm strengstens verboten war: Er öffnete den Waffenschrank seines Vaters. Zuvorderst stand ein mit kunstvollen Schnitzereien verzierter Bogen aus feinstem Eschenholz. Zierliche, lebensecht wirkende Tierköpfe lugten hinter dichtem Blätterwerk hervor und umrahmten seinen Namen und sein Geburtsdatum. Die Buchstaben und Ziffern waren sorgfältig mit Silber unterlegt. Daneben stand ein Köcher, mit dreizehn Pfeilen - für jedes Lebensjahr einen. Nion hatte sein Geburtstagsgeschenk gefunden. Er fühlte sich elend.
Einen ganzen Tag und eine halbe Nacht marschierte Nion, dann hatte er den Fuß des Tafelberges erreichte. Erschöpft schlief er ein. Nach einem hastigen Frühstück machte er sich an den Aufstieg.
Kahl und eigenartig flach lag der Gipfel des Tafelberges vor ihm. Es war niemand zu sehen. „Hallo?“, rief Nion zaghaft.
„Hallo...allo...lo“, antwortete ein Echo.
„Ist da jemand?“
„...ist da jemand... da jemand... jemand...“
Nion fühlte sich unbehaglich. Er überquerte das Plateau und blickte suchend um sich. Im Schatten einiger Felsen entdeckte er den Eingang einer Höhle. Vorsichte spähte er hinein. Ein sanft absteigender Gang führte tiefer in die Grotte. Der Junge staunte: Die Felsen schimmerten bläulich. So etwas hatte er noch nie gesehen! Vorsichtig berührte er die Steine. Sie waren kalt, und hinterließen keine Rückstände an seinen Händen. Er schnupperte an den Fingern, konnte aber keinen Geruch feststellen. Das kalte Licht war jedenfalls hell genug, um den Abstieg zu wagen. Er fragte sich kurz, bei wessen Anblick er mehr Angst bekommen würde: bei der Weißen Frau, oder dem Schwarzen Mann? Ein unheimliches, zweistimmiges Lachen stieg aus den Tiefen der Höhle empor. Fest umklammerte er seinen Bogen. Dann stapfte er los.
„Sei Willkommen und habe keine Angst.“ An den Ufern eines kleinen glasklaren Teiches, standen die Weiße Frau und der Schwarze Mann. Nion war erleichtert; denn sie sahen weder schrecklich noch gefährlich aus. Beide waren groß, dünn, kahlköpfig und in lange Kutten gehüllt. Die Kutte der Frau war von strahlendem Weiß. Ihre Haut war hell, fast durchscheinend und ihre Augen so klar wir das Wasser des Teiches. Der Mann trug ein schwarzes Gewand, seine Haut glänzte dunkel wie Ebenholz und seine Augen waren haselnussfarben.
„Setz dich, Junge. Wir kennen dein Begehr. Wirf einen Blick in den Spiegelteich, sieh, was geschieht und höre unsere Worte.“ Sie sprachen immer gleichzeitig, wie mit einer Stimme.
Nion tat, was sie ihm sagten. Das Wasser des Teiches lag eingebettet zwischen den blauschimmernden Steinen. Zuerst sah Nion nur sein Spiegelbild, bis es allmählich verblasste und schließlich einem dunklem Wald wich.
Die Bäume waren verkrüppelt, ihre Äste verdreht und verbogen, als seien sie krank. Wie gequälte Kreaturen reckten sie ihre toten Zweige empor. Kein Sonnenstrahl durchdrang das Dunkel. Kein Lebewesen verirrte sich an diesen Ort.
„Finsterwald,“ heulte das Orakel auf, „Finsterwald! Finsterwald!“
Nion klapperte mit den Zähnen.
„Dort lebt ein Wesen, so abgrundtief böse, dass ihm scheinbar niemand widersteht. Bosheit rinnt durch seine Venen, Zorn ist sein Atem, Hass ist sein Herzschlag. Angst erfüllt diejenigen, die sich zum Kampf gegen die Teufelin stellen. Bisher vergeblich! Siegen kann nur, wer die einzige Waffe gegen dieses Übel in sich trägt – doch er muss sie zuerst erkennen! Aber das Auge ist blind, das Herz muss sehen! Ein Kraut, dessen Namen dem Bösen gleicht, ist ein machtvoller Schutz. Folge dem Lauf der Sonne. Wo sie am End des Tages untergeht, beginnt der Finsterwald. Finde das Kraut und erkenne die Waffe – dann wirst du das Böse bezwingen und die finden, die du liebst.“
Das Orakel schwieg. Mit gesenkten Köpfen knieten sie am Ufer. Die Bilder waren verschwunden. Sie hatten nichts mehr zu sagen. Nion schlich hinaus.
Das Grauen hatte einen Namen, aber noch keine Gestalt.
Wer war die Teufelin?
Nion folgte der Sonne. Unterwegs sah er Felder, die nicht bestellt und Obstwiesen, die nicht abgeerntet waren. Er begegnete keinem Menschen. Auf einer Weide standen Kühe. Ihre Euter waren prall gefüllt und die Tiere muhten, weil sie gemolken werden wollten. Niemand kam.
Endlich sah er in der Ferne ein Dorf, und nicht weit davon entfernt, erspähte er einen Wald. Dort ging die Sonne unter. Er war am Ziel. Vor ihm lag Finsterwald.
Er ging weiter und erreichte schließlich das Dörfchen. Es schien verlassen. Die Gassen und Plätze waren menschenleer. Niemand begrüßte ihn. Kein Nachtwächter zog seine Runden.
Was sollte er tun?
Da öffnete sich knarrend eine Tür. Ein Junge in Nions Alter kam auf ihn zu Er hatte rötliches Haar und Sommersprossen
„Wer bist du und was willst du hier?“, fragte er schroff. Er hielt einen großen Knüppel in der Hand, und blickte wachsam auf Nions Bogen.
„Mein Name ist Nion. Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber eine Teufelin hat meine Eltern in ihrer Gewalt. Ich bin auf dem Weg zum Finsterwald, denn dort werden sie gefangen gehalten. Ich will sie finden und befreien.“
Andere Kinder kamen vorsichtig heran, und umringten sie neugierig.
„Du bist sehr mutig,“ entgegnete der Junge, und ließ den Prügel sinken. „Trotzdem solltest du dich nicht allein auf die Suche machen. Ich heiße Ban.“ Er deutete auf die versammelte Kinderschar. „Wir alle werden dich zum Finsterwald begleiten, denn die Teufelin hat auch unsere Eltern geraubt. Im ganzen Dorf gibt es keinen Erwachsenen mehr. Vielleicht haben wir mit deiner Hilfe mehr Glück, und finden sie endlich! Die Nacht kannst du bei uns verbringen, und morgen früh brechen wir gemeinsam auf.“
Nion war einverstanden.
Nach einer armseligen Mahlzeit und einer unruhigen Nacht brachen die Kinder auf. Schon bald erreichten sie den Finsterwald.
Kein Laut war zu hören, kein Tier zu sehen. Es war, als herrschte in dem Wald die Nacht, während ringsherum die Sonne schien. Kalt und bedrohlich lag der Finsterwald mit seinen missgestalteten Bäumen vor ihnen. Ein übler Geruch stieg aus dem modernden Erdreich auf.
Der Wald erstreckte sich endlos vor ihren Augen. Bis auf eine kleine, lichtdurchflutete Wiese, davor, lag alles in Düsternis und Schweigen. Auf dieser Waldwiese wuchsen zahlreiche Blumen. An den schlanken Stielen waren vereinzelt leicht herzförmige Blätter. Die Köpfe setzten sich aus zahlreichen, dichten schwarzen Blütchen zusammen. Nion musste an blühenden Klee denken. Ein zarter Duft strömte den Kindern entgegen.
„Was ist das?“ fragte Nion.
„Eine Wiese,“ antwortete Ban.
„Aber warum hat der Finsterwald keine Macht über sie? Sie grünt und blüht, die Sonne scheint darauf, und ich kann sogar ein Kaninchen sehen! Was sind das für Blumen? Wie heißen sie?“
“Na, es sind Blumen, und so heißen sie auch,“ erklärte Ban ungeduldig.
„Nein,“ mischte sich ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen ein. „Meine Mutter sammelt Heilkräuter. Ich kenne die Namen vieler Pflanzen. Diese Blume nennt man Schwarze Teufelskralle.“
Schwarze Teufelskralle! Nion erinnerte sich an die Worte des Orakels. „Schnell!“, rief er, „diese Pflanze wird uns vor den Zaubermächten der Teufelin schützen. Wir werden Kränze daraus binden, und sie um den Hals tragen.“
Zweifelnd betrachtete Ban die schwarzblühende Pflanze. „Bist du sicher?“, fragte er.
„Ich weiß es!“, antwortete Nion bestimmt.
Sie flochten Kränze und stopften sich einige Blumen in die Taschen. Dann gingen sie in den Finsterwald hinein. Sie wanderten durch Totenstille und Nebelschwaden. Einige Kinder hielten sich an den Händen. Die Größeren trugen die Kleineren. Alle blieben dicht beieinander. Je tiefer sie in den Wald kamen, desto dunkler wurde es. Bald konnten sie fast nichts mehr erkennen. Niemand sprach. Die Kinder fürchteten sich.
Sie erreichten eine freie Stelle mitten im Wald. Das Gras war tot und schwarz. Ringsum standen gemarterte Bäume. Aus ihren Astlöchern, die wie Augen aussahen, sickerte eine klare Flüssigkeit.
„Seht nur, die Bäume weinen. Das sind Tränen,“ flüsterte Aedwen, Bans jüngerer Bruder. „Rede keinen Unsinn,“ murmelte Ban, doch er hörte sich nicht sehr überzeugend an.
Wie hilfesuchend streckten die gepeinigten Bäume ihre Zweige aus, als versuchten sie, die Kinder festzuhalten. Aneinandergedrängt blieben sie stehen.
Plötzlich zerriss ein Kreischen und schrilles Lachen die Stille. Entsetzt schrieen die Kinder auf, als aus einer großen, gespaltenen Eiche eine furchteinflössende Gestalt sprang. Die Teufelin.
Sie war von riesiger Gestalt und ihre Haut war schuppig, wie bei einer Schlange. Ihr rotes Haar stand wirr um den hässlichen Schädel und wogte ständig auf und ab, als wäre es aus lebendigem Feuer. Die Augen waren gelb, und die Pupillen darin länglich, wie bei einer Katze. Sie glühten unheimlich, als sie die Kinder bösartig anstarrte.
Ein Fuß sah dem eines Menschen ähnlich; der andere glich dem Huf eines Ziegenbockes. Die Hände waren groß, mit langen, beharrten Fingern. Ihr Schwanz glich dem eines Drachen und aus ihrem Rücken ragten zwei mächtige schwarze Flügel. Wie bei einem furchtbaren Engel.
Ein paar kleinere Kinder fingen an zu weinen.
Das gefiel dem Scheusal! Sie lachte aus vollem Halse und wurde noch größer, denn sie ernährte sich von den unguten Gefühlen der Menschen.
„Sieh an! Die Brut kommt freiwillig zu mir! Kommt nur! Ich habe euch erwartet und schicke euch gleich zu euren Eltern.“
Sie hob ihre Klauen und fing an, Zaubersprüche zu murmeln. Entschlossen trat Nion vor:
„Sei still! Du hast keine Macht über uns. Wir haben keine Angst vor dir.“
Die Teufelin hielt inne und grinste hämisch. Nion konnte ihre langen, spitzen Zähne sehen und ihr übler Atem schlug ihm entgegen. „Ihr wollt euch mit mir anlegen? Nur zu“, feixte sie. Ein Flügelstoß trug das furchteinflößende Untier noch näher an die Kinder heran. Sie beugte sich vor und griff nach Nion.
Plötzlich veränderte sich die Miene der Teufelin: „Was ist das für ein Gestank?“, fragte sie.
Der Geruch der Blumenkränze verbreitete sich; die Teufelskralle verströmte ihre wohlriechenden Duftwolken.
Angewidert wich die Teufelin einen Schritt zurück. „Nehmt das sofort weg!“, fauchte sie außer sich. Ihr Schweif peitschte wild hin und her und wirbelte trockenes Laub auf.
Nion trat dichter an die Bestie heran. Mit einer fließenden Bewegung zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn schnell auf die Sehne.
Die Teufelin knurrte warnend, doch er spannte seinen Bogen und zielte auf ihre Fratze. Unerschütterlich stand er da und hielt mit seinem Pfeil auf das Ungeheuer. Ban war an seiner Seite, den Knüppel kampfbereit in der Hand. Die Mädchen und Jungen hoben Steine und Stöcke auf, um mit ihnen zu kämpfen.
Beim Anblick der erbärmlich bewaffneten Schar, brach die Teufelin in dröhnendes Gelächter aus: „Nur zu! Tötet mich! Hasst mich! Vernichtet mich! Lasst eurer Wut freien Lauf!“
Ihre schwarzen Schwingen schlugen und sie erhob sich in die Luft. Unbemerkt von den Kindern, nährte sie sich von Nions Wut, Bans Hass und der Angst der Übrigen. Sie wuchs erneut.
Die Zweige der leidenden Bäume raschelten.
„Wo sind unsere Eltern? Sage es mir, oder...“, stieß Nion hervor.
„Oder was?“, das Monster grinste breit. „Tötest du mich? Tust du etwas... Böses?“ Abermals nahm sie an Größe zu. Ihre Macht wurde stärker. Nur die Schwarze Teufelskralle hinderte sie noch, sie alle in ihre Gewalt zu bekommen.
„Komm und töte mich, so, wie ich es mit deiner Mutter gemacht habe!“, höhnte die Teufelin.
Nions Herz blieb einen Augenblick stehen. Seine Mutter war tot! Und sein Vater wahrscheinlich auch. Die Traurigkeit, die Nion überfiel, fühlte sich wie ein körperlicher Schmerz an. Ein Wehlaut entfuhr ihm und er ließ den Bogen sinken.
Die Teufelin nahm weiter an Stärke zu. Sie labte sich an Nions Leid.
Nion fiel. Hilflos lag er auf dem Waldboden. Er dachte mit aller Macht an seine Mutter. Sie hatte ihn immer in den Arm genommen, wenn er verzweifelt oder traurig gewesen war. Er hatte dem beruhigenden Pochen ihres Herzens gelauscht und sich geborgen gefühlt. Selbst in diesem Augenblick glaubte er ihren Herzschlag zu hören, und er kroch auf das Geräusch zu, bis er auf einen kleinen, verdorrten Baum stieß. Trostsuchend umklammerte Nion das Bäumchen.
Das dröhnende Lachen der Teufelin schien von überall her zu kommen. Einige Kinder duckten sich. Ban stellte sich schützend von seinen Bruder, der vor Angst am ganzen Körper zitterte.
Nion bemerkte von alledem nichts. Er empfand nur eine große Liebe für seine Eltern und weinte aus tiefster Seele über ihren Tod. Seine heißen Tränen tropften auf die Rinde des Baumes, und wo sie die vertrocknete Borke benetzten, verwandelte sie sich in Haut. Die Äste wurden zu Armen und Beinen, die toten Blätter zu Haaren. Langsam kam ein Mensch zum Vorschein. Es war seine Mutter! Ihr Herz schlug. Sie atmete - sie lebte! Voll Zuneigung umarmte sie ihren Sohn.
Die Teufelin brüllte zornig. Rasend vor Wut, versuchte sie über die Lichtung zu fliegen, doch es war zu spät. Ihre Gestalt wurde bereits kleiner. Nion erkannte die mächtige Waffe gegen dieses Übel: Liebe war Gift für das Scheusal.
„Ihr könnt es spüren! Fühlt es mit euren Herzen,“ schrie Nion, „die toten Bäume sind unsere Eltern!“
Überall auf der Lichtung umarmten die Kinder liebevoll die verzauberten Bäume und ihre Eltern kamen zum Vorschein. Überglücklich schloss Nion seinen Vater in die Arme.
Je mehr Freude und Liebe die Menschen empfanden, desto kleiner wurde die Teufelin, bis sie schließlich nur noch die Größe einer lästigen Fliege hatte.
Das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen schlug nach ihr und verscheuchte sie.
Gemeinsam verließen die Menschen den Finsterwald, und kehrten ins Dorf zurück. Es wurde ein prächtiges Fest gefeiert! Alle aßen und tranken nach Herzenslust. Sie tanzten, lachten und waren glücklich. Auch Nion und seine Eltern waren herzlich eingeladen und machten sich erst am nächsten Tag auf den Heimweg.
Die Teufelin flog heimlich davon. Sie ist seither auf der Suche nach einem anderen Ort, um Zwietracht zu säen und wieder Größe und Macht zu erlangen.
Nimm dich in Acht! Wenn du ein Summen hörst und du ein Gefühl verspürst, dass dir eingibt, deine Lieben böse, schlecht oder ungerecht zu behandeln, könnte es die Teufelin sein.
Höre nicht auf sie, denn der Finsterwald ist kein schöner Ort.







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