Am Rande der Welt, dort wo die Ordnung endete und das Chaos begann, lag ein klitzekleines Königreich. Es war so klein, dass es nur aus einem Schloss mit Garten bestand und nicht einmal einen Namen besaß. Doch das machte überhaupt nichts. Gerade diese Unscheinbarkeit hatte es bisher vor Invasoren und anderem Gesindel bewahrt. Ein überaus glücklicher Umstand, denn das klitzekleine Königreich verfügte weder über Soldaten noch über Waffen, um sich im Ernstfall verteidigen zu können. Dafür jedoch blühten im Garten die allerschönsten Rosen, roter Hibiskus und duftender Jasmin. Tagsüber summten Bienen, Vögel zwitscherten und am Abend konnte man die Frösche in den Tümpeln quaken hören. Es lebte sich hier überaus glücklich. Bis zu jenem Tag, an dem Königin Melitta ihren Sohn zu sich rief, um den Schwur einzulösen, den sie ihrem Gatten Albrecht auf dem Sterbebett geleistet hatte.
„Jacob, mein Sohn“, sagte sie. „Du bist erblüht wie die Rosen in meinem Garten. Aus dem Kind ist ein Mann geworden. Aus dem Prinz wird ein König werden. Ich fühle, dass die Zeit für die Krönung gekommen ist. Bist du bereit?“
„Ich bin es, Mutter“, antwortete Jacob und kniete ehrfürchtig vor Melitta nieder. „Lass mich beweisen, dass ich die Probe bestehen kann, damit du und alle Untertanen erkennen mögen, dass ich des Thrones würdig bin.“
„So sei es, mein Sohn.“ Mit dem glücklichen Lächeln einer stolzen Mutter erhob sich Melitta und küsste Jacob auf die Stirn. Dann raffte sie ihre Röcke und eilte aus dem Saal, um alles für die Zeremonie zu richten.
Das ganze Schloss wurde geputzt und geschmückt. Im Garten reihte man Tische zu einer langen Tafel. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und geröstetem Fleisch. Der Kellermeister rollte ein gewaltiges Fass mit Bockbier in den Hof. Wie fleißige Ameisen huschte das Gesinde umher, trug kristallene Krüge auf, gefüllt mit funkelndem Wein, Körbe voll praller Trauben und reifer Feigen und auf silbernen Platten Naschwerk allerlei Art.
All dem gönnte Jacob jedoch keinen Blick. Seine Gedanken kreisten einzig um den Tisch, der mitten auf dem Zeremonienplatz stand. Darauf, abgedeckt mit einem golddurchwirkten Seidentuch, harrte die prallste Tomate, die sich im klitzekleinen Königreich finden ließ. Und nur, wenn ihm das Kunststück gelang, die Zahnbürste so gegen die Tomate zu drücken, dass sich der Bürstenkopf zwar nach hinten bog, die Frucht aber nicht verletzt wurde, hatte er die Probe bestanden und durfte zum König gekrönt werden.
Schließlich fanden die Vorbereitungen ein Ende. Die Königin nahm Platz auf ihrem Thron und Jacob gesellte sich an ihre Seite. Das Gesinde reihte sich schweigend neben ihnen auf, vier Diener fassten die vier Zipfel des seidenen Tuches und eine feierliche Stimmung breitete sich wie ein Baldachin über Schloss und Garten aus. Nur der Hausmeister schielte hin und wieder zum Bockbierfass, was man ihm bei der Hitze nicht verdenken konnte. So stand der Probe nichts mehr im Wege, hätte nicht die Bürste gefehlt.
Mit einer anmutigen Bewegung, hinter der er seine wachsende Anspannung verbarg, beugte Jacob sich zum Ohr seiner Mutter hinunter. „Wo bleibt er denn?“, fragte er so leise, dass nur sie es hören konnte.
„Ich weiß nicht“, flüsterte Melitta zurück, den Mund hinter einem Fächer verborgen. „Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen.“ Kaum ausgesprochen hörten sie Kies unter eiligen Füßen knirschen. Eine weiß gekleidete Gestalt, die beim Laufen mit beiden Armen durch die Luft ruderte, als wären sie Windmühlenflügel, bog um die Rosenhecken.
„Weg! Fort! Gestohlen!“, schrie der hohlwangige Mann und warf sich Melitta zu Füßen. Vor Schreck ließ die Königin den Fächer fallen. „Oh, Gott, Dr. Best. Sagt, dass Ihr nicht von der Bürste sprecht, nicht von der Dr. Best plus mit dem bewährten Schwingkopf.“
„Doch“, keuchte Dr. Best und wischte sich den Schweiß ab, der in kleinen Bächen von seinen Schläfen rann. „Sie ist nirgends zu finden. Obwohl ich sie gehütet habe wie meinen Augapfel. Es kann nur die eine Erklärung geben: Sie wurde auf hinterhältigste Weise geraubt!“
„Geraubt!“ Bleich und verstört sank Melitta zurück auf ihren Thron. „Was für ein Schicksalsschlag. Ohne Bürste keine Probe. Ohne Probe keine Krönung. Ohne Krönung kein eingelöstes Versprechen. Jacob!“ Nach Luft ringend ergriff sie die Hand ihres Sohnes und drückte sie. „Jacob, mein Sohn, jetzt liegt das Schicksal dieses Königreiches allein in deiner Hand. Zeige, wie tapfer und mutig du bist. Mach dich auf den Weg, überquere die Grenzen unseres Landes, scheue dich nicht vor der Fremde, ziehe hinaus, suche und finde die Bürste.“
Also machte Jacob sich auf den Weg. Er trug nichts bei sich außer dem, was er auf dem Leib hatte und eine von seiner Mutter gepackte Tasche, deren Riemen ihm in die Schulter schnitt. Er beachtete den Schmerz nicht, sondern schritt beherzt auf die Grenze des klitzekleinen Königreiches zu. Dort angekommen, blieb er stehen und blickte hinaus auf das unbekannte Land, das sich einer Wildnis gleich bis zum Horizont erstreckte. Und während er dastand und schaute, hörte er plötzlich ein Geräusch, das sich rasch näherte. Ein Fahrzeug rollte an seine Seite, die Tür öffnete sich, Kreateur Reno stieg aus und überreichte Jacob den Zündschlüssel.
„Jacob“, sagte er. „Das ist das Dotomobil. Ich habe es einst gebaut, um mit deinen Eltern auf Kaffeefahrt zu gehen. Seit dem Tod deines Vaters steht es nur noch unnütz in der Garage. Vielleicht erleichtert es dir deine Reise.“ Er tippte sich an die Chauffeursmütze und schlenderte über die Grenze zurück in das klitzekleine Königreich.
Das ließ sich Jacob nicht zwei Mal sagen. Rasch verstaute er die schwere Tasche im Kofferraum, sprang auf den Fahrersitz und brauste mit dem Dotomobil quer über das weite, karge Land bis hin zum Horizont. Dort endete die Straße, sodass er aussteigen und nach dem Weg fragen musste. Nur leider gab es niemanden, den er fragen konnte. Einzig eine morsche Bank stand dicht vor dem Horizont. Auf die setzte sich Jacob, um in aller Ruhe nachzudenken. Da hob die Bank auf einmal zu sprechen an. Sie fragte Jacob nach seinem Namen und der Familie, nach Beruf, Hobby, Krankheiten, Hund und Katze, nach dem Woher und dem Wohin und dem Grund für alles. Als wohlerzogener Prinz gab Jacob höflich Auskunft. Das gefiel der Bank, und sie versprach zu helfen. Zwar wusste sie nichts über den Verbleib der Dr. Best plus mit dem bewährten Schwingkopf, aber sie gab Jacob den guten Rat, nach dem weisen Riesen zu suchen und öffnete ihm den Horizont, sodass er weiterfahren konnte.
Nicht lange und Jacob gelangte in eine schaurige Gegend. Verkohlte Baumstümpfe ragten aus verbrannter Erde. Rauch waberte zwischen ihnen und zog in düsteren Schwaden zum Himmel empor. Durch den Qualm konnte er sogar noch Feuerschein erkennen. Was für ein heftiger Brand musste hier gewütet haben. Noch nie in seinem Leben hatte Jacob Vergleichbares gesehen. Er stieg aus dem Dotomobil, schulterte die Tasche und trat schaudernd näher. Dabei entdeckte er an einem der verkohlten Baumstämme ein Stück Holz, das aussah wie ein Wegweiser. Und tatsächlich. Als er den Ruß abgewischt hatte, konnte er einen Pfeil erkennen, der quer über die grauenhafte Gegend zeigte und darunter die Reste einer Inschrift: „Zum .ach....ach..“
Ja, wie „ach, ach“ ist es mir auch zumute, dachte Jacob, und kämpfte sich mühsam durch Ruß und Rauch voran. Hin und wieder grollte der Boden unter seinen Füßen und ihm wurde himmelangst. Aber da er versprochen hatte mutig und tapfer zu sein, ließ er sich nicht beirren und setzte brav einen Fuß vor den anderen, bis er an einen Berg gelangte, aus dem die fürchterlichsten Laute an sein Ohr drangen. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt, als wie aus dem Nichts eine vermummte Gestalt vor ihm auftauchte.
„Wer bist du denn? Und wie kommst du hierher?“, fragte die Gestalt mit rauchiger Stimme.
„Ich heiße Jacob und bin auf der Suche nach Dr. Bests Zahnbürste, der mit dem bewährten Schwingkopf. Mir wurde gesagt, der weise Riese könnte eventuell helfen. Er wohnt nicht zufällig in dieser Gegend?“
„Nein, hier gibt es weder einen weisen Riesen noch eine Zahnbürste mit Schwingkopf.“ Die Gestalt fasste Jacob am Arm und führte ihn durch eine Öffnung ins Innere des Berges. Dort schob sie die Kapuze aus dem Gesicht. Es war eine Frau. „Hier wohnt der Rachendrache, und er ist furchtbar erkältet.“
„Hier wohnt ein Drache?“, fragte Jacob erschrocken und rief sich rasch ins Gedächtnis, was er aus den Büchern seines Vaters über Drachen gelernt hatte. Meist besaßen sie mehrere Köpfe, schlimmstenfalls neun, spieen Feuer und entführten Jungfrauen. So wie diese hier?
„Holde Maid.“ Beherzt legte Jacob den Arm um die Schulter der Frau. „Ihr müsst euch nicht vor dem Lindwurm fürchten. Ich bin ein Prinz und als solcher in die Pflicht genommen euch aus den Klauen des Ungetüms zu erretten.“
„Ach, Jungchen“, entgegnete die Frau und wand sich aus Jacobs Griff. „Mich musst du nicht retten. Ich bin die Klosterfrau und wollte hier nur Kräuter sammeln, um dem Rachendrache einen Tee zu brühen gegen den Husten. Doch das ganze Kraut ist verbrannt. Dabei leidet der Ärmste seit Tagen. Hörst du ihn?“ Wie zur Antwort grollte dumpfer Donner aus der Tiefe des Berges. Das klang tatsächlich nach einer üblen Bronchitis. „Für dich allerdings ist es besser, wenn du jetzt gehst. Krank ist der Rachendrache unleidlich und missgelaunt, sodass ich nicht für deine Sicherheit garantieren kann.“
Noch während sie das sagte, schwoll das Grollen zu einem Dröhnen an. Gleich darauf tauchte am anderen Ende der Höhle ein mächtiger Schatten auf, und man hörte es stapfen und keuchen.
„Beim Melissengeist, habe ich dir nicht gesagt, du sollst im Bett bleiben?“, schimpfte die Klosterfrau, postierte sich vor Jacob und gab ihm hinterm Rücken mit den Fingern Zeichen, dass er die Höhle verlassen sollte. Doch Jacob war vor Entsetzen wie gelähmt.
„Wenn ich liege, wird der Husten nur schlimmer“, fauchte der Rachendrache. „Das wird die nächste schlaflose Nacht.“ Er schüttelte einen seiner drei Köpfe und nieste. Eine Stichflamme schoss durch die Höhle. In ihrem Schein entdeckte er Jacob hinter dem Rücken der Klosterfrau.
„Wer ist das?“ Drohend bleckte der Rachendrache sechs Reihen braun verfärbter Zähne.
„Ein Prinz, der den weisen Riesen sucht. Er wollte nur nach dem Weg fragen.“
„Bin ich die Auskunft?“ Der Rachendrachen scheuerte sich den Rücken an der Felsenwand, dass seine Schuppen klapperten wie Dachschindeln im Wind. „Ruf die 11 88 0 an. Da wirst du geholfen.“
„Nun sei nicht so unhöflich“, schimpfte die Klosterfrau und versuchte Jacob zum Ausgang zu drängen. Doch Jacob dachte nicht daran zu gehen, sondern ließ seine Tasche von der Schulter gleiten und durchwühlte sie. Neben einer Prinzenrolle, einem Sechserpack Red Bull, einer Dose Oil of Olaz mit Turtleeffekt – wozu er die brauchen könnte, wusste er nicht, seine Mutter die Tasche gepackt – und anderem Kram kam letztlich eine Flasche Hustensaft zum Vorschein, natürlich von Ratiopharm.
„Gute Preise“, meinte die Klosterfrau, als sie die Flasche sah.
„Gute Besserung“, erwiderte Jacob und reichte den Hustensaft an den Rachendrachen weiter. Der brummte beschämt: „Dankeschön“, öffnete die Flasche und nahm drei herzhafte Schlucke, für jeden Drachenrachen einen. Danach verschloss er die Flasche wieder sorgfältig und klemmte sie unter den linken Flügel.
„So, den weisen Riesen suchst du also.“
„Genau. Ich hoffe, er kann mir sagen, wo Dr. Bests Zahnbürste mit dem bewährten Schwingkopf abgeblieben ist. Sie wurde wahrscheinlich geraubt.“
„Du suchst eine Zahnbürste? Na das is’n Ding.“ Der Rachendrache peitschte mit dem Schwanz gegen die Höhlenwand, dass der Felsen wackelte. „Ich vermisse seit Tagen mein Perlweiß für Raucherzähne. Frag den Riesen auch danach. Wenn er nicht umgezogen ist, findest du ihn hinter dem Berg.“
„Kein Problem, das mache ich gern“, sagte Jacob, bedankte sich höflich beim Rachendrachen und der Klosterfrau und lenkte das Dotomobil um den Berg. Hier bot die Landschaft ein völlig anderes Bild. So weit das Auge reichte, sah man nichts als Leinen voll strahlend weißer und leuchtend bunter Wäsche. Seufzend stellte Jacob das Dotomobil ab und lief zu Fuß weiter. Dabei achtete er sorgfältig darauf, ja nicht die im Winde flatternden Laken und Tücher zu berühren, denn kaum etwas konnte größeren Unmut heraufbeschwören, als Schmutzflecken am frisch Gewaschenen. Plötzlich stolperte er über ein Körbchen, das am Boden stand und hörte gleichzeitig eine sonore Stimme:
„Hey, Kleiner. Hör auf, unter der Wäsche herumzuturnen. Reich mir lieber mal zwei Klammern.“ Da Jacob am Waschtag im klitzekleinen Königreich ebenfalls helfen musste – als König würde ihm das erspart bleiben - gehorchte er widerspruchslos, nahm zwei Klammern aus dem Körbchen und reckte sich damit so weit in die Höhe, wie er nur konnte.
„Danke“, sagte die volltönende Stimme und ein freundliches Gesicht beugte sich zu ihm herunter. „Ich bin der weise Riese. Und wer bist du, mein Kleiner?“
„Mein Name ist Jacob, und ich bin auf der Suche nach Dr. Bests bewährter Schwingkopfzahnbürste, die ich dringend für die königliche Tauglichkeitsprüfung benötige. Außerdem soll ich vom Rachendrachen nach dem Perlweiß für Raucherzähne fragen. Das ist ebenso verschwunden wie die Bürste. Wisst Ihr vielleicht, wo ich beides finden kann?“
„Na so etwas? Mir sind meine Whitestrips abhanden gekommen“, sagte der weise Riese und kratzte sich mit der Wäscheklammer an der Stirn. „Drei Dinge für schöne Zähne. Wenn das ein Zufall ist, will ich Meister Proper heißen.“ Er klammerte ein Handtuch fest. Dann drehte er sich um und blickte über die Leinen hinweg in die Ferne. „Wenn da mal nicht die Fruchtzwerge hinter stecken.“
„Die Fruchtzwerge?“
„Genau die. Seit Wochen benehmen die sich schon so komisch; haben ihre Grenzen dichtgemacht und mit einer hundsgemeinen Waffe gesichert: dem Fettmagneten.“
„Fettmagnet. Das klingt ja entsetzlich.“ Einen Moment lang wurde Jacob im Gesicht so weiß
wie die Bettlaken auf der Wäscheleine. Dann fasste er sich.
„Und wo finde ich die Fruchtzwerge?“
„Im Winterwald.“ Der weise Riese bückte sich, hob Jacob auf seine Schulter und zeigte ihm die glitzernde Silhouette in der Ferne. „Aber sei auf der Hut, mein Kleiner. So winzig die Fruchtzwerge anmuten mögen, sie haben es gewaltig in sich. Und pass bloß auf, dass du dem Fettmagneten nicht zu nahe kommst.“
„Das werde ich“, sagte Jacob und umklammerte seine Tasche, die von der Schulter zu rutschen drohte. Dabei fiel ihm jene Dose Oil of Olaz mit Turtleeffekt ein, um deren Nutzung er nicht wusste. Rasch kramte er sie vor, um sie dem weisen Riesen zu zeigen.
„Nein, tut mir Leid.“ Behutsam nahm der Jacob von der Schulter und stellte ihn auf den Boden. „Keine Ahnung wozu die gut sein soll. Gegen den Fettmagneten hilft sie bestimmt nicht. Aber warte mal.“ Er fuhr mit der Hand tief in die Hosentasche, brachte eine Flasche in Probiergröße zum Vorschein und schenkte sie Jacob. „Duokraftgel. Das wird dir die nötige Stärke im Kampf gegen die Fruchtzwerge verleihen. Ich wünsch dir viel Erfolg.“
Wie der weise Riese richtig gesagt hatte, waren die Grenzen zum Winterwald dicht, gesichert durch eine hohe Mauer aus Eis und Schnee, hinter der sicher der Fettmagnet auf seine Opfer lauerte. War Jacob schon beim bloßen Anblick dieser Landschaft eiskalt geworden, so gefror ihm beim Gedanken an diese Waffe beinahe das Blut in den Adern. Ein Magnet, der in dieser Kälte das schützende Fett unter der Haut absaugte. Was für ein schrecklicher Tod musste das sein? Nur wie sollte er ihm ausweichen? Wie ihm entgehen?
Während er noch grübelte, fing es an zu schneien. Watteweiche Flocken schaukelten federleicht zur Erde. Eine Weile sah Jacob gedankenverloren zu, dann kam ihm ein wunderbarer Einfall. Mit kältesteifen Fingern holte er den Sechserpack Red Bull aus der Tasche, trank eine Dose nach der anderen aus und packte das Leergut – darauf gab es immerhin noch Pfand - in die Tasche zurück. Als er die letzte Dose verstaute, spürte er ein Zwicken im Rücken und als er über die Schulter nach hinten schaute, entdeckte er da zwei hübsche Flügelchen. Die breitete er aus und flatterte über die Mauer und den Fettmagneten hinweg, mitten hinein ins Reich der Fruchtzwerge. Natürlich war diese illegale Grenzüberschreitung nicht unbemerkt geblieben und so standen die kleinen Kerle mit reichlich unterkühlten Mienen bereit, als Jacob landete.
„Wer bist du und was willst du hier?“, brüllte ihm einer mit Pfirsichwangen entgegen.
„Ich bin Jacob, zukünftiger Herrscher im klitzekleinen Königreich. Und ich will die Dr. Best plus mit dem bewährten Schwingkopf zurück. Aber dalli!“ Diese mutig gesprochenen Worte überraschten Jacob selbst und die Fruchtzwerge wohl ebenso. Denn sie steckten erschrocken die Köpfe zusammen und tuschelten.
„Woher willst du wissen, dass wir die Bürste haben?“, fragte Pfirsichbacke und ein anderer Zwerg, dessen Nase an eine überreife Erdbeere erinnerte, nickte beifällig.
„Der weise Riese hat es mir gesagt. Übrigens, seine Whitestrips will ich auch zurück. Und das Perlweiß für Raucherzähne, das ihr dem Rachendrachen entwendet habt, ebenfalls.“
„Der weise Riese ist im Bilde? Ach du dicke Aloe!“, rief ein Zwergenmädchen mit kirschroten Lippen erschrocken. „Was sollen wir denn jetzt tun?“
„Vor allem einen kühlen Kopf bewahren“, antwortete Pfirsichbacke und baute sich breitbeinig vor Jacob auf. „Und was, wenn wir uns weigern, dir die Sachen zu geben?“
„Dann werde ich sie mir einfach nehmen.“
„Versuch es nur. Wir sind stark.“
„Ich bin stärker.“ Mit einer blitzschnellen Handbewegung zückte Jacob das Duokraftgel und legte damit auf Pfirsichbacke an. Der erbleichte und fiel vor Jacob auf die Knie.
„Nein, tu mir nichts! Du hast gewonnen“, wimmerte er. „Wir bringen dich zu den Sachen.“
„So ist’s brav.“ Langsam ließ Jacob das Duokraftgel sinken und steckte es weg. Erdbeernase und Kirschenmund halfen Pfirsichbacke unterdessen auf die Füße. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Lange stapften sie durch kniehohen Joghurtschnee, bis sie zu einer Stelle kamen, wo der Winterwald sich lichtete.
„Lass uns einen Abstecher machen“, sagte Kirschenmund und deutete mit einer Kopfbewegung zu der Lichtung hin. „Vielleicht kann er das Rätsel lösen.“
„Oh, ja, das wäre toll!“ Begeistert stürmten Erdbeernase und Pfirsichbacke auf die Lichtung, in deren Mitte eine Eisfläche in der Sonne blitzte, so spiegelblank, dass man am liebsten sofort die Schlittschuhe angeschnallt und ein paar Pirouetten gedreht hätte. Jacob folgte ihnen argwöhnisch.
„Schau dir das dort an“, sagte Erdbeernase und zeigte mit einem seiner Knubbelfinger auf eine Stelle am Rande der Eissees. „Kannst du uns nicht sagen, was das ist und wie wir da rankommen?“
Jacob bückte sich. „Was soll ich anschauen? Da ist nichts als Eis.“
„Sieh genau hin.“ Kirschenmund kauerte sich neben ihn und strich mit der Hand über die spiegelblanke Fläche. Da erkannte Jacob, was die Zwerge meinten. Unter der Oberfläche schimmerte etwas mit einer Seele so rein und klar, dass ihm ganz warm ums Herz wurde.
„Das ist eine Flasche Wodka Gorbatschow“, rief er begeistert und sprang auf die Füße. „Aber so hochprozentiger Alkohol ist noch nichts für euch kleinen Kerle. Wenn die rechte Zeit dafür gekommen ist, wird sich die Flasche von ganz allein ihren Weg ins Freie brechen.“
Ehrfürchtig blickten die drei Zwerge zu Jacob auf. Dann fassten sie ihn stumm bei den Händen und führten ihn in den Wald zurück, bis sie zu einer Eishöhle kamen. Dort ließen sie ihn los und Pfirsichbacke stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus.
„Das ist unsere heilige Grotte“, wisperte er. „Hier huldigen wir dem Großen Beiß, damit er uns verschont und nichts Böses tut.“ Nachdem er das gesagt hatte, schlüpfte er durch den niedrigen Eingang ins Innere der Grotte. Jacob musste sich tief bücken, um ihm zu folgen und auch drinnen war die Grotte nicht groß genug, dass er sich aufrichten konnte. Aber das störte ihn nicht weiter, da er sofort entdeckte, wonach er suchte. Auf einem Eisblock lagen die Dr. Best plus mit dem bewährten Schwingkopf, eine Tube Perlweiß für Raucherzähne und eine Packung Whitestrips.
„Das ist der Altar mit den Opfergaben für den Großen Beiß. Und das ist er“, flüsterte Pfirsichbacke und zeigte auf ein Bild über dem Eisaltar. Von dort blickte ein Furcht einflößendes Antlitz auf sie hernieder. Ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, mit hoher, energischer Stirn, stechendem Blick, kräftigen Kieferknochen und einem hämisch grinsenden Mund, in dem ein blendend weißes Gebiss mit zwei gefährlich aussehenden Reißzähnen auf seinen Einsatz lauerte: Der Große Beiß.
„So ein Bild habe ich in einem der Bücher meines Vaters schon einmal gesehen.“ Unbeeindruckt raffte Jacob die Zahnpflegeutensilien vom Altar. „Was ihr Großer Beiß nennt, heißt eigentlich Vampir. Und ein Vampir interessiert sich kein bisschen für Fruchtzwerge. Ob mit oder ohne Verehrung, der tut euch gar nichts. Wo habt ihr das Bild überhaupt her?“ Zahnbürste, Zahnpasta und Whitestrips in der Hand kroch Jacob rückwärts aus der Grotte, sah dabei noch wie Pfirsichbacke eine Plastiktüte hinter dem Altar vorzog.
„Es kam mit diesem bedrohlichen Brief.“ Nachdem Pfirsichbacke die Höhle ebenfalls verlassen hatte, reichte er Jacob die Tüte. Darin befand sich tatsächlich ein Brief, dessen Schrift jedoch im Laufe der Zeit unleserlich geworden war. Einzig auf dem Kuvert konnte man die Buchstaben noch entziffern.
„Der ist gar nicht an euch adressiert“, sagte Jacob, nachdem er sich das Kuvert besehen hatte. Kirschenmund riss ihm den Brief aus der Hand.
„Was redest du für einen Unsinn? Hier steht ganz deutlich „Wald“ und davor ein „i“, ein „e“ und ein „r“: Winterwald.“
„Du darfst nicht nur die Hälfte, sondern musst alles lesen. Das heißt nicht Winterwald, sondern Silberwald.“
Der Brief wechselte von Kirschenmund zu Erdbeernase. „Aber hier steht doch auch ein ganz dickes, fettes „FFF“ wie „FFFruchtzwerge.“
„Richtig hier steht ein „FFF“.“ Jacob tippte mit dem Finger auf den Anfangsbuchstaben des Empfängers. „Nur heißt das Wort nicht Fruchtzwerge, sondern Förster. Dieser Brief sollte an den Förster vom Silberwald gehen. Und nicht an die Fruchtzwerge im Winterwald. Könnt ihr denn nicht richtig lesen?“
Einen Moment lang wurde es ganz still in der Runde. Dann sagte Erdbeernase kleinlaut: „Ich kann Skateboard fahren.“ Und Pfirsichbacke: „Und ich Gameboy spielen.“ Kirschenmund dagegen sagte nichts, machte sich stattdessen an Jacobs Tasche zu schaffen. Als der das bemerkte, gab es einen Klaps auf die Finger, woraufhin Kirschenmund eine beleidigte Schnute zog.
„Ich wollte doch nur sehen, ob du uns etwas mitgebracht hast?“
„Ja, was zum Naschen!“
„Und zum Spielen!“
„Was Spannendes!“
„So viele Wünsche auf einmal. Da muss ich passen.“ Kopfschüttelnd öffnete Jacob die Tasche und überließ den Zwergen die Prinzenrolle, natürlich erst, nachdem er ihnen das Versprechen abgenommen hatte, andere nicht mehr zu bestehlen, sondern stattdessen fleißig lesen zu lernen. Dann verstaute er Zahnbürste, Zahnpaste und Whitestrips, ließ sich über die Grenze bringen – der Fettmagnet wurde ausgeschalten - und fuhr, nach einem kleinen Umweg zum weisen Riesen und dem Rachendrachen, mit dem Dotomobil zurück ins klitzekleine Königreich.
Jubel erfüllte das klitzekleine Königreich. Melittas Wangen glühten vor Glück und Erwartung, als Jacob mit der Zahnbürste in der Hand über den Zeremonienplatz schritt. Das Gesinde stand Spalier und klatschte Beifall, während vier Diener das Seidentuch hoben, unter dem die Prüfungstomate lag. Ganz behutsam nahm Jacob sie in die linke Hand und die Zahnbürste in die Rechte. Augenblicklich verklang jeder Laut. Selbst die Bienen hörten auf zu Summen, und das Gezwitscher der Vögel verstummte. Vorsichtig drückte Jacob die Zahnbürste gegen die Tomate. Die Tomatenhaut hielt. Er verstärkte den Druck ein wenig. Die Tomatenhaut hielt noch immer. Jetzt drückte er so heftig, dass sich der Bürstenkopf nach hinten bog. Und...? Die Tomatenhaut hielt! Damit hatte Jacob bewiesen, dass er seines Amtes als König würdig war. Überglücklich schloss Melitta ihn in die Arme.
„Jacob, mein Sohn“, schluchzte sie. „Jetzt ist es aber wirklich Zeit für die Krönung.“ Und so geschah es denn auch. Schon am nächsten Tag erhielt Jacob die Krone und wurde zum König des klitzekleinen Königreiches ernannt. Man feierte ein berauschendes Fest, auf dem Bier und Wein und Met in Strömen flossen. Alle waren fröhlich und scherzten ausgelassen, bis auf Jacob, den jungen König, der traurig auf seinem Thron saß, was seiner Mutter natürlich nicht entging. Sie setzte sich zu ihm und griff nach seiner Hand, um sie tröstend zu streicheln.
„Verrätst du mir, was dir die Laune verdirbt, mein Sohn?“
Unwirsch Jacob zog die Hand, in der etwas verborgen hielt, weg. „Findest du, dass ich zu jung aussehe für einen König?“
„Aber nein. Wie kommst du denn darauf?“
„Ich habe in Vaters Bücher nachgesehen“, antwortete Jacob. „Jetzt weiß ich, dass Turtle Schildkröte heißt, und dass Schildkrötenhaut locker und faltig ist. Meine Haut dagegen ist fest und glatt.“
„Und was stört dich daran?“ Besorgt musterte Melitta ihren Sohn.
„Mich? Gar nichts. Aber dich anscheinend. Oder weswegen hast du mir sonst eine Creme mit Turtleeffekt in die Reisetasche gepackt?“
„Eine Creme mit Turtleeffekt? Und die soll ich dir in die Tasche gepackt haben?“
„Genauso ist es“, entgegnete Jacob gereizt und öffnete die Hand, in der er die Dose Oil of Olaz mit Turtleeffekt hielt. Mit spitzen Fingern nahm Melitta die Dose, öffnete sie und schnupperte am Inhalt. Dann tupfte sie sich einen winzigen Klecks davon auf den Handrücken, massierte ihn ein und schnupperte erneut. Ein kritischer Blick auf die Dosenbeschriftung schloss sich an. Danach ein jäher Aufschrei.
„Dieser vertrottelte Alchimist! Erst beschriftet er falsch, dann steckt er sie in deine anstatt in meine Tasche.“ Erleichtert und selig zugleich drückte Melitta die Dose an ihre Brust. „Jacob, mein Sohn, das ist keine Creme mit Turtleeffekt, sondern meine kostbare Oil of Olaz mit total effects, das bisher Beste gegen die sichtbaren Zeichen von Hautalterung. Seit Wochen warte ich schon darauf.“
Als Jacob das hörte, atmete er erleichtert auf. Die trübe Stimmung wandelte sich in Frohsinn, und er regierte fortan glücklich und unbeschwert, während Melitta unermüdlich zu Glätten versuchte, was die Natur zu runzeln beabsichtigte. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann cremt sie sich noch heute.
Ines Haberkorn, April 2004
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