Ein geheimnisvolle Wunderstein. von Ingeborg Restat
Es war einmal vor vielen Zeiten, als es noch seltsame Geistwesen gab, welche die Menschen erschreckten oder ihnen halfen, da lebte einsam am Waldesrand in der Nähe eines Bauerndorfes ein Holzfäller mit seiner jungen Frau in einer ärmlichen Hütte.
Aber nach Reichtum strebten die beiden nicht, denn sie hatten sich von Herzen gern und waren glücklich. Der bescheidene Verdienst des Holzfällers reichte ihnen zum Leben. Es störte sie auch nicht, wenn sie hörten, wie verächtlich der reichste Bauer des Dorfes über sie redete. Mit ihm, dem ewig Unzufriedenen, der stets nach mehr Reichtum gierte, wollten sie nicht tauschen.
Es war ein Sonntag, an dem die junge Holzfällerfrau einen Jungen zur Welt brachte. Sie nannten ihn Felix und glaubten, den hübschesten Sohn der ganzen Welt zu haben. Ihre Freude darüber war groß. Sie betteten ihn in eine kleine Wiege neben ihrem Bett. „Er wird ein schönes Leben haben. Wir wollen ihn immer gut behüten“, sagte die Mutter. Als sie sich am Abend schlafen legten, hielten sie sich fest bei den Händen vor Glück, ehe sie einschliefen.
Mitten in der Nacht erwachten sie. Es wurde seltsam hell im Zimmer. Ängstlich rückten sie zusammen. Wie von Sonnenstrahlen umgeben erschien aus dem Nichts eine Frau mit hell schimmernden Haaren in einem leuchtenden, langen Gewand. Sie war wunderschön anzusehen. In ihrer Hand hielt sie einen Stein, der glitzerte und funkelte wie ein Diamant. Sie trat an die Wiege des kleinen Jungen und legte ihn auf sein Bett. Dann wandte sie sich an die Eltern: „Fürchtet euch nicht, ich bin eine gute Fee. Ich bringe eurem Sohn ein kostbares Geschenk, weil er an einem besonderen Tag zu einer besonderen Zeit geboren wurde: am siebenten Sonntag des Jahres zur siebenten Stunde und siebenten Minute. Bewahrt diesen Edelstein gut auf, denn es ist ein Wunderstein. Eines Tages wird er eine geheime Kraft besitzen, wenn euer Kind sie braucht.“ Dann verschwand die Fee wieder und der helle Schein wurde dunkler und dunkler. Auch der Edelstein glitzerte und funkelte nicht mehr.
Die Eltern nahmen ihn an sich und bewahrten ihn gut auf, obgleich er nur noch wie ein gewöhnlicher Kieselstein aussah und keinem Edelstein glich.
Viele Winter und Sommer vergingen, der kleine Felix wuchs heran. In der Tochter des reichsten Bauern vom Ort, fand er eine Spielgefährtin. Na ja, das duldete der Bauer, sie waren ja Kinder, doch später einmal, da sollte Marie nur einen reichen Mann heiraten, der auch ihn, den Bauern, vielleicht noch reicher machen konnte. Er liebte seine Tochter abgöttisch, schenkte ihr, was sie sich wünschte. Aber noch mehr liebte er Gold und Geld.
Eines Tages kam ein reicher Reisender in einer vornehmen, schwarzen Kutsche ins Dorf gefahren. Er sah Marie mit ihrem kleinen Hund vor dem Haus des Vaters und befahl seinem Kutscher die prächtigen Pferde anzuhalten. Marie wich zurück, der Blick, mit dem der Fremde sie musterte, war ihr unheimlich. Aber wie erschrak sie, als der Vater aus dem Haus gelaufen kam und sofort dem Wunsch des Fremden nachkam und ihm ihren kleinen Hund aushändigte, weil er ihm viel Geld dafür geboten hatte. Marie weinte, Marie bettelte, wollte ihren Hund festhalten, aber der Vater kannte kein Erbarmen. Noch einmal sah der Fremde sie seltsam an und lächelte eigenartig. Dann fuhr er mit dem Hund davon.
„Hab dich nicht so! Du kannst ja einen Neuen bekommen“, fuhr der Bauer Marie an. Aber Marie wollte keinen anderen Hund. Sie weinte sehr. Doch der Vater rieb sich die Hände über das gute Geschäft, das er gemacht hatte. Marie würde es sicher bald vergessen. Was war schon ein Hund?
Selbst Felix vermochte Marie kaum zu trösten. Die beiden schlossen sich immer enger zusammen. Sie konnten sich gar nicht mehr vorstellen, ohne den andern zu sein, je größer sie wurden. Die Eltern von Felix sahen es mit Sorge und der Bauer mit Missfallen.
Als Felix ein junger Mann geworden war und Marie ein schönes junges Mädchen, da sagten sie sich, wie lieb sie sich hatten und dass sie sich nie trennen wollten. Sie schworen sich, einander treu zu sein. Felix nahm seinen ganzen Mut zusammen, zog seinen besten Anzug an, ging zum Bauern und bat ihn, ihm Marie zur Frau zu geben.
Jedoch der Bauer lachte ihn aus. „Wie kommst du armer Schlucker dazu, für dich eine Frau wie Marie zu fordern. Hast ja kaum mehr, als du auf dem Leib trägst. Wirst es mit eurer Holzfällerei auch nie zu etwas bringen. Hahaha! Geh und komm erst wieder, wenn du mir etwas vorzuweisen hast. Nur dann kannst du es wagen, mich, den reichsten Bauern im Dorf, um seine Tochter zu bitten. Aber das wirst du nie erreichen.“ Höhnisch lachte er ihm hinterher, als Felix betrübt davonging.
„Mutter, ich muss in die Welt ziehen. Ich muss es schaffen, mehr aus mir zu machen, denn ich kann ohne Marie nicht leben“, sagte Felix und schnürte sein Bündel.
Da holte die Mutter den Stein der Fee hervor, der noch immer stumpf und blind aussah. „Hier, nimm ihn, er soll ein Edelstein, ein Wunderstein sein. Vielleicht kann er dir in der Fremde helfen.“ So hoffte die Mutter. Sie berichtete ihm, was in der Nacht nach seiner Geburt geschehen war.
Staunend hörte Felix zu. „Und die Fee hat nicht gesagt, was ich tun muss, damit der Stein mir hilft?“ Ungeduldig schob er ihn von einer Hand in die andere und betrachtete ihn von allen Seiten. „Wie kann das ein Edelstein sein, wenn er aussieht wie ein Kiesel aus dem Bach?“, sagte er, steckte ihn aber in seine Tasche ein, ehe er sich von den Eltern verabschiedete.
Marie weinte bitterlich, als sie Felix von dannen ziehen sah. Aber all ihre Tränen hatten den Bauern nicht erweichen können. „Ich will doch nur, dass du es einmal gut hast. Nur das habe ich im Sinn. Du verdienst keinen Habenichts, sondern einen stattlichen, reichen Mann.“ So redete er auf sie ein.
Marie aber wartete von diesem Tag an nur auf Felix. Sie hatte versprochen, ihm die Treue zu halten. „Er kommt wieder, ich weiß es! Er kommt wieder“, sprach sie oft zu sich selbst.
Als Felix einen Tag lag gewandert war und es Abend wurde, da setzte er sich in einem Wald an den Wegesrand unter einen Baum, um dort zu übernachten. Er breitete eine Decke aus und nahm Wegzehrung aus seiner Tasche. Dabei kam ihm der Stein in die Hand. Was mochte es mit diesem Stein auf sich haben? ‚Das ist ja nicht mal ein Edelstein, den man zu Geld machen könnte’, dachte er. Dabei drehte er ihn nach allen Seiten und schaute ratlos darauf nieder. Unwillig legte er ihn schließlich beiseite, wie sollte er das Rätsel lösen?
Da - was war das, lachte nicht neben ihm jemand?
Felix sah sich um und um; niemand war zu sehen. Da - wieder: „Hihihihi!“; leise, aber ganz deutlich war es zu hören. Er blickte hinunter ins Gras und sprang erschrocken auf. Geheimnisvoll glitzerte und funkelte der Stein wie ein Diamant und daneben saß ein kleines, verhutzeltes Männlein mit Bart und langer Feder am welligen Hut. Es rauchte bedächtig aus einer für ihn viel zu langen Pfeife und paffte genüsslich den Rauch vor sich hin.
„Wer bist du? Woher und wieso kommst du hierher?“
„Wer ich bin? Ich bin Ratweisli aus dem Reich der Feen und Geister. Bin ein bisschen klein geraten, dafür habe ich viel in meinem Kopf. Und gerufen hast du mich eben selbst.“
„Ich? Wie denn? Ich kenne dich nicht und habe auch nicht ein Wort gesagt.“
„Hihi! Felix, ich hätte dich für klüger gehalten. Der Stein - mit meinem Wunderstein hast du mich gerufen.“
„Du steckst in dem Stein?“
„Krrr! Nicht in dem Stein. Damit kannst du mich nur rufen, wenn du mich brauchst.“
„Aber den habe ich doch nicht zum ersten Mal in der Hand gehabt. Warum bist du nicht schon früher gekommen?“
„Weil du ihn eben erst dreimal um sich selbst gedreht hast. Nur so kannst du mich rufen.“
Felix setzte sich wieder. Wozu sollte das gut sein? Wie sollte ihm so ein kleiner Wicht helfen? „Und warum bist du zu mir gekommen?“, fragte er.
„Ich kann mehr für dich tun, als du denkst. Gold und Geld kann ich dir zwar nicht verschaffen, aber wie du es dir verdienen kannst, dazu kann ich dir verhelfen.“
Das sollte Felix bald erfahren. Dieser kleine Ratweisli wusste alles. Er begleitete ihn, beriet ihn, sagte ihm, was er machen sollte und verhalf ihm zu dem nötigen Wissen, wenn er es brauchte. Er wurde mit seiner Hilfe zu einem gefragten Edelsteinschleifer, der auch die Goldschmiedekunst beherrschte. An Königshäusern in der Welt verlangte man nach seiner Kunst. Er war fleißig, willig und gelehrig, hörte auf Ratweisli, wenn der ihm riet. So zog Felix durch die Welt. Mehr und mehr sammelten sich Geld, Gold und Edelsteine in seinem Gepäck an. Felix wurde reich. Seine Marie aber vergaß er darüber nicht; zu ihr wollte er zurückkehren. Er zweifelte keinen Moment daran, dass sie noch immer auf ihn wartete.
Doch während Felix in der Ferne fleißig war, um endlich für viel Geld und Gold seine Marie von Bauern erbitten zu können, wurde der nicht müde, einen reichen Mann für seine Tochter zu suchen. Aber wen er ihr auch vorschlug, sie lehnte jeden ab. Immer ungeduldiger wurde der Bauer.
Eines Tages fuhr wieder der Fremde, der Maries Hund mitgenommen hatte, in seiner vornehmen Kutsche ins Dorf und ließ seinen Kutscher vor dem Hof des Bauern anhalten. Lange saß er mit dem Bauern in der Stube zusammen, dann wurde Marie gerufen. Marie erschrak, als sie das ganze Gold auf dem Tisch liegen sah, als sie den begehrlichen Blick des Fremden auf sich ruhen fühlte. Ihre sonst rosigen Wangen wurden bleich, als sie begriff, dass sie die Frau dieses ihr unheimlichen Mannes werden sollte. „Nein, Vater!“, rief sie verzweifelt. Doch der Vater ließ sich diesmal nicht erweichen. „Dir wird es gut gehen. Alles will dir der Herr zu Füßen legen. Du wirst mir noch dankbar sein für ein Leben in Luxus, was dir dieser Herr bieten kann.“
Alles Auflehnen half Marie nichts, der Vater zwang sie, sofort in die Kutsche zu steigen und mit dem Fremden mitzufahren, so, wie es dieser für viel Gold und Geld verlangt hatte. Heiraten wollte der Fremde Marie dort, hinter vielen Dörfern weiter nach Süden, wo er in einem Schloss lebte. Dem Vater war es recht, so sparte er die Kosten für die Hochzeit. Er war sicher, Marie würde es bei dem Fremden gut gehen. Wie sollte das auch anders sein, wenn einer so viel Reichtum hatte wie dieser Fremde. Irgendwann wollte er hinfahren und Marie in ihrem Glück sehen. Dann würde sie ihm dafür danken, dass er so hart geblieben war und ihr befohlen hatte mitzufahren. Davon war der Vater überzeugt.
Als einige Zeit vergangen war, machte er sich auf den Weg. Und er fuhr und fuhr nach Süden, ließ ein Dorf nach dem andern hinter sich, aber niemand kannte den Fremden oder ein Schloss, auf dem er leben könnte. Marie war verschwunden. Das hatte er doch nicht gewollt! Traurig fuhr er wieder heim. Nun erfreute ihn das viele Geld und Gold auch nicht mehr. Der Bauer hatte das Kostbarste, was er besaß, verloren: seine Tochter.
Zu der Zeit waren das Gold und die Edelsteine in dem Gepäck von Felix so schwer geworden, dass er meinte, es reiche nun, um dem Bauern genug bieten zu können, damit er ihm Marie zur Frau gäbe. Fröhlich pfeifend machte er sich auf den Heimweg. Nichts hielt ihn mehr in der Fremde, er wollte nur noch seine Marie wiedersehen und sie endlich für immer in die Arme schließen.
Wie freuten sich die Eltern, als Felix bei ihnen wieder wohl und gesund vor der Tür stand. Aber was mussten sie ihm erzählen, als er nach Marie fragte. Sie war weg und keiner wusste, wohin sie der Fremde mitgenommen hatte.
Felix war verzweifelt, was nützte ihm noch all sein reicher Besitz an Gold und Edelsteinen. Kopflos vor Schmerz rannte er in den Wald, warf sich ins Moos und weinte bitterlich. Doch nach einer Weile setzte er sich auf. Ob ihm hierbei auch Ratweisli helfen könnte? Mit zitternden Händen nahm er den Stein aus seiner Hosentasche und drehte ihn dreimal um sich selbst.
Da wurde der Wunderstein von Licht erfüllt, begann zu glitzern und zu funkeln wie ein Diamant und schon saß neben ihm im Moos das kleine Männlein mit seiner viel zu langen Pfeife. Bedächtig nahm er einen Zug daraus, blies den Rauch in die Luft und musterte Felix aufmerksam. „Wie siehst du aus? Ich dachte, ich würde zu dem glücklichsten Menschen auf der Welt gerufen werden, und nun hast du geweint. Was ist geschehen?“
„Ach, wenn du mir doch helfen könntest!“ Und Felix erzählte ihm alles, was sich ereignet hatte, während er von zu Hause fort gewesen war.
Nachdenklich sah Ratweisli dem Rauch seiner Pfeife nach.
„Bitte, hilf mir! Ich weiß nicht, wie ich ohne Marie leben soll. Alles Geld und Gold will ich dir geben, wenn du nur meine Marie zurückbringen kannst.“
„Krr! Du hast dir alles verdient und nichts geschenkt bekommen. Kannst du dich wirklich davon trennen? Wer weiß, ob es dir überhaupt helfen würde, den Weg zu Marie zu finden.“
„Aber du kennst den Weg?“
„Langsam! Das wird schwer sein zu erfahren. Doch vielleicht ...“
„Ja? Rede schon!“
„Geduld! Geduld! Rufe mich in drei Tagen wieder, wenn die Glocken der Kirche den Feierabend einläuten. Dann werde ich dir sagen können, was du tun musst.“ Er nahm noch einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, hüllte sich in Rauch ein und war verschwunden. Auch der Stein hatte jeden Glanz verloren.
Lang wurde Felix die Zeit des Wartens. Oft nahm er den Wunderstein in die Hand und war versucht, ihn zu drehen. Dann endlich am dritten Tag rief er schon beim ersten Glockenschlag Ratweisli.
Alles erfuhr er nun von ihm:
Der reiche Mann in der schwarzen Kutsche war der mächtige Zauberer Moriglan, der sieben Dörfer weiter, nicht für jeden sichtbar, sein Schloss auf einem Berg in einem dichten Zauberwald hatte. Wenn er mit seiner Kutsche durchs Land fuhr, dann holte er sich von den Menschen, was er haben wollte. Manche seltsamen Dinge geschahen da, die niemand verstand. „Das war Schicksal!“, sagten die Leute oft ergeben und fügten sich, ohne zu ahnen, dass der böse Zauberer seine Hand im Spiel hatte.
So hatte er sich auch Marie geholt, weil er sie zur Frau begehrte. Marie musste zwar dem Vater gehorchen und mit dem Zauberer mitfahren, jedoch ihr Jawort gab sie ihm nicht; die Hochzeit konnte nicht stattfinden. Wie sehr ihr Moriglan auch zusetzte, Marie blieb ihrem Felix treu. Traurig dachte sie nur an ihn. Ob sie ihn je wiedersehen würde? Auch ihr kleiner Hund, den sie hier wiedergefunden hatte, konnte sie nicht trösten. Sie weinte. Wie hatte der Vater ihr das antun können.
Mit jedem Tag, da Marie sich Moriglan verweigerte, wuchs dessen Zorn. Jeden Morgen kam er zu ihrer Kammer und fragte: „Marie, wirst du heute meine Frau?“
Doch Marie rief nur; „Nein! Ich nehme keinen andern zum Mann als meinen Felix, den Holzfällersohn.“ Dabei wurde sie immer schwächer, konnte vor Verzweiflung und Trauer kaum etwas essen, wies auch die verlockendsten Speisen zurück.
Als sieben Wochen so vergangen waren, musste sich Moriglan eingestehen, dass er, der mächtige Zauberer, keine Macht über die Treue von Marie zu ihrem Felix hatte. Doch aufgeben, nein, das wollte er nicht. Sollte es nicht doch noch ein Mittel geben, ihren Willen zu brechen? Wieder ging er zu ihrer Kammer und fragte: „Wirst du heute meine Frau?“ Doch wie alle Tage antwortete Marie: „Nein, ich nehme keinen andern zum Mann als meinen Felix.“
Zornig trat er gegen die Tür, dass sie aufsprang. Marie wich zurück. Aber schon war er bei ihr und hob seinen Zauberstab über ihr Haupt. „Wenn du so hart und unerweichlich sein kannst, dann werde zu Stein, zu einem Block in meinem Felsengarten.“
Marie hob entsetzt abwehrend ihre Hände. Doch so, wie sie da stand, spürte sie, wie sie erstarrte. Von einer unheimlichen Kraft wurde sie hinaus in den Garten getragen und zwischen vielen anderen Felsblöcken abgesetzt. Bald war von ihr nichts mehr zu erkennen. Ein Fels hatte sich um sie geschlossen. Sie konnte alles sehen und hören, aber sie war gefangen im Gestein und konnte nicht heraus. Diesen Garten mit den vielen Felsblöcken, größeren und kleineren, hatte sie schon vom Fenster ihrer Kammer aus gesehen und sich gefragt, was das wohl zu bedeuten hätte. Tränen, die sie weinte, rannen wie ein Rinnsal aus ihrem Felsen heraus. Jetzt, selbst gefangen darin, sah sie auch Rinnsale aus den anderen Blöcken fließen, hörte Klagen, Weinen und Jammern daraus. Das waren ja verzauberte Menschen wie sie. Bei den kleineren Felsblöcken glaubte sie Kinderstimmen zu erkennen. Wo war sie hingeraten? Ihr graute! Warum wurde sie so bestraft? War es denn falsch, nur einen Menschen lieben zu können? Was würde der Vater tun, wenn er wüsste, wie es ihr erging? Könnte er sich noch an dem Gold und Geld erfreuen, was er für sie erhalten hatte? Worauf sollte sie hoffen. Felix wird sie hier nie finden. Sie war verzweifelt.
Doch auch als weiterhin Moriglan jeden Morgen zu ihrem Felsen kam und fragte: „Hast du dich nun besonnen, wirst du meine Frau werden“, grollte ihm dumpf aus dem Stein ihre Antwort entgegen: „Nein, ich nehme keinen andern zum Mann als meinen Felix.“
„Dann wirst du für alle Ewigkeit ein Fels bleiben!“ Wütend schlug er seinen Zauberstab gegen den Felsen, dass es ihr wehtat, und ging.
Marie konnte nicht wissen, dass Felix alles von Ratweisli erfahren hatte. Sogar was Marie dachte, konnte das Männlein ihm berichten. Nichts verschwieg er ihm.
„Oh, meine Marie! Was wurde ihr angetan!“ Unglücklich vergrub Felix das Gesicht in seinen Händen.
Ratweisli paffte den Rauch seiner Pfeife in die Luft und wartete lauernd ab.
Da richtete sich Felix auf, kniete sich vor ihm hin und flehte: “Nimm alles Geld und Gold, alle Edelsteine von mir, aber sag mir, wie ich Marie befreien kann.“
„Wenn du deinen ganzen Reichtum weggibst, wirst du Marie nie vom Bauern zur Frau bekommen. Hast du das bedacht?“
„Es geht jetzt um Marie und nicht mehr um mich. Wenn sie nur von dieser Qual erlöst wird, dann will ich mich zufrieden geben. Nun zu wissen, wie böse es ihr ergeht und nichts dagegen zu tun, das kannst du nicht von mir erwarten. Sag mir, was ich machen muss! Du weißt es bestimmt. Komm, sag es mir!“
„Ich frage dich noch einmal, ist dir allein Maries Freiheit deinen ganzen Reichtum wert?“
„Ja und ja und noch einmal ja!“
Da sprang das kleine Männlein auf, sah Felix beschwörend an und rief: „Dann hole ich mir dein Geld, Gold und alle Edelsteine. Du wirst so arm sein wie zuvor. Noch in dieser Nacht wirst du alles an mich verlieren und nur Marie befreien können, aber kein gemeinsames Leben wird euch beschieden sein. Noch ein letztes Mal: Willst du das?“
„Ja, ich will es, um Maries willen!“
„So sei es!“ Ratweisli setzte sich wieder hin, nahm seinen Hut ab, drehte an der Feder daran, hielt sich den Hut danach an sein Ohr und lauschte. „Hm, hm!“ grunzte er öfter dabei, auch mal ungehalten „Krr!“. Zuletzt setzte er den Hut wieder auf und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
„Nun sag schon!“, drängte Felix.
Doch genüsslich blies Ratweisli erst den Rauch in die Luft. Ein listiges Grinsen lag in seinem Blick, als er Felix berichtete: „Du hast es so gewollt! Nun höre mir gut zu. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, den Zauberer zu besiegen. Er glaubt, niemand könne davon wissen, und er hält sich für unbesiegbar, aber die kluge Fee, die dir zu deiner Geburt meinen Wunderstein gebracht hat, die kennt sein Geheimnis und hat es mir eben verraten. Gehe den Bach entlang, der durch den Wald fließt, bis zur Quelle. Warte dort, bis nach einer Vollmondnacht die Sonne aufgeht. Mit dem ersten Sonnestrahl, der das Wasser trifft, wird aus der Quelle ein kleiner Edelstein geschwemmt werden. Wenn du ihn findest, so wird er dir Kraft über den mächtigen Zauberer geben. Nimm eine Rute, befestige an seine Spitze diesen Edelstein. Er wird dir den Weg zum Schloss des mächtigen Zauberers weisen. Du wirst es sehen, sobald du in seine Nähe kommst. Wenn es dir gelingt, unbemerkt in den Felsengarten zu gelangen, so berühre sieben Mal mit dem Edelstein den Fels von Marie. Dann ist der Zauber Moriglans gebrochen und sie wird frei. Doch gebt beide Acht, dreht dem Zauberer nie euren Rücken zu. Nur wenn ihr die Rute vor euch haltet und der Edelstein auf ihn weist, kann er euch nichts tun. Wenn du es sogar schaffen solltest, ihn damit zu berühren, so wird er für lange Zeit in der Erde versinken. Aber das ist viel zu gefährlich, versuche es nicht! Ich wünsche dir Glück, doch sei auf der Hut. So sagte Ratweisli noch, hüllte sich ein in eine Rauchwolke und verschwand.
Felix tat, wie ihm gesagt worden war. Er fand am Ende des Baches die Quelle, sah den Vollmond untergehen und wie die ersten Sonnenstrahlen das heraussprudelnde Wasser aufleuchten ließen. Er fürchtete schon, er könnte den kleinen Edelstein nie sehen, wenn er durch dieses leuchtende Wasser herausgleiten würde. Aber dann blitzte es im Wasser so grell auf, dass er schnell seine Hand eintauchte und schon hatte er den Edelstein aufgefangen. Eilig lief er nach Hause und schnitt sich noch eine Rute von einem Haselnussstrauch ab. Zu Hause verlor er keine Zeit, fasste den Edelstein in Gold und befestigte ihn an der Rute. Dann machte er sich auf den Weg.
Er wanderte durch ein Dorf nach dem andern nach Süden. Wo sollte er nur das Schloss suchen? Die Rute mit dem Edelstein rührte sich nicht. Doch als er das siebente Dorf hinter sich hatte, da sah er vor sich eine dicke Nebelwand und die Rute begann unruhig in seiner Hand zu zucken, zeigte gar in eine Richtung. Mit eiligen Schritten folgte er der Weisung. Je näher er der Nebelwand kam, umso deutlicher erhob sich daraus hervor ein prächtiges Schloss auf einem Berg, umgeben von einer unüberwindlich wirkenden Mauer und tiefem Wald davor. Das musste es sein. Er gelangte in den Wald, der dunkel und unheimlich war. Die Rute wies ihm den Weg, ohne sie wäre er wohl verloren gewesen und hätte nie wieder herausgefunden. Dann erreichte er die Mauer. Auch hier wies die Rute den Weg und Felix schlich an der Mauer entlang. Manchmal glaubte er, das Kichern von Ratweisli zu hören. War er unsichtbar bei ihm? Wie sollte er nur an dem großen Tor vorbeikommen? Es stand auch noch weit offen. Doch die Rute wies daran vorbei. Schon wollte er in weiten Sprüngen vorschnellen, da erschrak er. Wiehern und Trommeln von Pferdehufen auf dem Weg zum geöffneten Tor näherten sich. Schnell sprang er hinter einen Busch. Schon fuhr sie an ihm vorbei, die schwarze Kutsche, mit dem Kutscher auf dem Bock und Mariglan darin. Felix duckte sich tiefer, zum Fürchten sah er aus, der böse Zauberer. Donnernd fielen die Torflügel hinter der Kutsche wieder zu. Felix schlich daran vorbei. Wie sollte er nur durch die Mauer kommen? Da zuckte die Rute in seiner Hand unruhig und wies auf ein Dornengestrüpp. Dahinter versteckt fand er ein Loch in der Mauer, groß genug, so dass er hindurchkriechen konnte.
Niemand war jenseits der Mauer in Hof und Garten zu sehen. Das machte es Felix leichter voranzukommen. Er sprang vorsichtig von Busch zu Busch. Doch als er den Felsengarten erreicht hatte, wollte er verzweifeln. Wie sollte er hier zwischen den vielen großen und kleinen Felsen Marie finden? Wohin er die Rute auch drehte, sie zeigte es ihm nicht an.
Schon wollte er beginnen, irgendeinen Felsen mit dem Edelstein zu berühren, da fuhr er zusammen. Auf dem Weg knirschten Schritte, die sich ihm hastig näherten. Gerade noch zur rechten Zeit sprang er hinter einen größeren Felsenstein und duckte sich. Moriglan ging hastig mit verbissenem Blick an ihm vorüber. Felix atmete auf, er hatte ihn nicht gesehen. Aber was jetzt – der Zauberer verhielt den Schritt, atmete tief ein, als würde er etwas riechen, sah sich um – Felix duckte sich tiefer – gottlob, er ging weiter. Ein Stück von Felix entfernt blieb er bei einem größeren Felsblock stehen. Einmal schlug er mit seinem Zauberstab dagegen. „Marie, hast du es dir überlegt, willst du endlich meine Frau werden?“, rief er laut.
Marie! Felix hatte seine Marie gefunden. Moriglan hatte es ihm selbst gezeigt. Felix traute sich kaum zu atmen, dabei hätte er am liebsten vor Freude gejubelt. Aber lautlos blieb er hocken, hörte, wie Maries Antwort dumpf grollend aus dem Felsblock klang: „Nein, ich nehme keinen andern Mann als meinen Felix!“
Wütend stampfte Moriglan auf, dass der Boden bebte. „Nur dreimal komme ich noch und frage dich. Besinnst du dich nicht, so wirst du ewig ein Fels bleiben. Überlege dir das gut. Noch kannst du wieder zu einem Menschen werden.“ Erbost schlug er wieder mit seinem Zauberstab gegen den Stein und ging.
Felix gab Acht, dass er von ihm nicht gesehen werden konnte. Doch am liebsten wäre er hervorgesprungen, dem Zauberer hinterher, um ihn mit seiner Rute zu vernichten. So sehr packte ihn die Wut. Aber er hielt sich zurück. Erst musste Marie befreit sein, denn wer weiß, was sonst noch geschehen könnte.
Als der Zauberer nicht mehr zu sehen und zu hören war, wagte sich Felix hinter dem Fels hervor. Keine Zeit verlor er, eilte mit wild klopfendem Herzen zu dem Felsen und begann ihn mit dem Edelstein an der Rute zu berühren: einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal – schon holte er aus zum sechsten Mal, da hörte er hinter sich ein Geräusch. Moriglan kam zurück. Felix hastete mit einem Sprung hinter den nächsten Felsblock. Fast war ihm, als hätte diesmal die Rute ihn hierher gezogen. Ganz konnte er sich unter einen Vorsprung dieses Felsens ducken, so tief, dass Moriglan ihn nicht sah, obgleich er suchend umherlief und dabei immer wieder tief die Luft einsog, als würde er einem Geruch nachgehen. „Mir war, als hätte ich einen Menschen gerochen“, brummte er unwillig vor sich hin, dann ging er kopfschüttelnd davon.
Felix atmete auf, sprang hervor und berührte geschwind noch zweimal Maries Felsen. Das Gestein knirschte. Es zeigte sich ein Riss; noch einer und noch einer. Schließlich sprang der Felsen mit Getöse auseinander. Marie war frei! Sie wollte Felix in die Arme fallen, aber er zog sie sofort weiter. Sie mussten, so schnell sie konnten, den Dornenbusch an der Mauer erreichen; denn was, wenn Moriglan das Getöse des berstenden Felsens gehört hatte?
Aber sie kamen nicht weit. Ein wilder Schrei hinter ihnen ließ sie erstarren. Blitzschnell drehte sich Felix um, schob Marie hinter sich, die am ganzen Leib zitterte, und hielt die Rute mit dem Edelstein voran dem Zauberer entgegen. Doch dann packte ihn Entsetzen. Konnte er hier noch etwas ausrichten? Mit wilder schwarzer Mähne kam Moriglan auf sie zu und wuchs dabei zu einer gewaltigen Größe. Riesige, hässlich behaarte Hände breitete er zum Greifen aus und aus seinen nun feurig roten Augen schossen Blitze hervor, die sie trafen und schmerzten. Entsetzt wichen sie zurück. Auch Felix konnte die Rute nicht mehr ruhig halten vor Angst. Marie wollte sich umdrehen und wegrennen. Felix konnte sie gerade noch festhalten. „Nicht, Marie, wir dürfen ihn nicht hinter unseren Rücken kommen lassen.“
Und genau das versuchte Mariglan zu erreichen. Er umkreiste sie und sie konnten sich nur ihm zugewandt, mit der Edelsteinrute vor sich, mit ihm drehen. Unaufhörlich zuckten dabei Blitze aus seinen Augen auf Felix und Marie nieder. Das schmerzte, als würde ihnen ihre Haut verbrannt. Schon kam der Zauberer immer näher an sie heran.
„Felix, wir sind verloren! Er ist stärker.“ Marie verließ der Mut.
Krampfhaft hielt Felix die Rute fest. Sie durfte nicht einmal an dem Zauberer vorbeizeigen. Der versuchte jetzt nach links und rechts auszuweichen. Da, Marie schrie auf, Felix zuckte zusammen, die Rute, sie rutschte ihm zur Seite. Moriglan machte einen Satz nach vorn, wollte nach Marie greifen, hatte sie fast. Aber Felix sprang gerade noch rechtzeitig vor Marie, so dass der Zauberer ihn hätte greifen müssen. Ganz fest hielt er die Rute dabei gepackt vor sich auf den Zauberer gerichtet. Schon war die riesige Hand ihm nah, er glaubte, nun sei es zu Ende. Da schrie der Zauberer auf und wich zurück; der Edelstein an der Rute hatte seine Hand berührt.
Moriglan stand starr und blickte ungläubig auf Felix. „Verdammtes Menschenkind, wer hat dir das verraten?“ Dann brüllte er gewaltig los, wollte sich auf die beiden stürzen, konnte es nicht mehr, nicht einen Schritt auf sie zu tun. Ein fürchterliches Grollen ließ die Felsbrocken umher erbeben. Marie klammerte sich fest an Felix. Der hielt, mit zitternder Hand, eisern die Rute mit dem Edelstein dem Zauberer entgegen. Die Erde unter den Füßen Moriglans öffnete sich, stinkender Rauch entwich, hüllte ihn ein, dann gab es einen gewaltigen Krach wie ein Donnerschlag –. Mit dem Rauch war Moglian, der mächtige, böse Zauberer in der Erde versunken.
Marie und Felix waren die Sinne vergangen.
Als sie wieder zu sich kamen, saßen sie auf einer Wiese nicht weit von einem Dorf entfernt. Verschwunden waren der Berg und das Schloss darauf. Verwundert sahen sie sich um. Ringsumher erhoben sich viele Menschen: Frauen, Männer, jung und alt, und Kinder. Alle kamen auf sie zugelaufen und umringten Felix. Sie dankten ihm für ihre Rettung von dem bösen Zauber. Staunend erfuhr er, dass er nicht nur Marie errettet hatte, sondern dass auch die andern zu Felsbrocken im Felsengarten verwandelt worden waren. Glücklich machten sich alle auf den Heimweg, jeder dahin, wo er zu Hause war, auch Felix und Marie.
Nun musste Felix Marie sagen, dass er jetzt nicht reicher war, als damals, da der Bauern sie ihm nicht zur Frau geben wollte, weil er arm war. Allen erworbenen Reichtum hatte er ja dafür hergegeben, um Marie befreien zu können.
Doch Marie antwortete ihm: „Ich werde keinen anderen als dich zum Mann nehmen, Felix. Der Vater wird uns nicht mehr trennen. Ich werde ihm keine gehorsame Tochter mehr sein, nachdem, was er mir angetan hat. Ich komme mit dir und bleibe bei dir. Arm sein schreckt mich nicht, wenn wir nur zusammenbleiben können.“
Aber nicht nur die Eltern von Felix waren glücklich über ihre Heimkehr. Bald kam auch der Bauer, nachdem er gehört hatte, dass seine Tochter in das Holzfällerhaus heimgekehrt war. Er trat ihr mit Freudentränen in den Augen gegenüber, so dass sie allen Groll gegen ihn vergessen konnte. „Das habe ich nicht gewollt!“, versicherte er Marie immer wieder und umarmte Felix dankbar für ihre Errettung.
In der ersten Nacht, die Felix wieder zu Hause schlief, hörte er seltsame Geräusche. Da war es ihm, als kicherte Ratweisli. Dann erfüllte ein seltsamer Glanz die Stube und er glaubte, eine wunderschöne Frauengestalt zu sehen, die sagte: „Ratweisli, hast du ihm auch alles zurückgegeben: Geld, Gold und alle Edelsteine?“ Das träumte er doch nicht! Wenn er das kleine Männlein auch nicht sah, die Stimme kannte er genau, die jetzt antwortete: „Krrr! Was denkst du von mir? Er hat ja die Probe bestanden und alles für seine Liebe hingegeben. Aber meinen edlen Wunderstein, mit dem er mich rufen konnte, den habe ich behalten. Den braucht er nun nicht mehr.“
„Nein, der ist hier nicht mehr nötig. Felix hat mehr erreicht, als es manchem Menschen vergönnt ist. Wie schön, das Macht und Reichtum wieder einmal die Treue nicht haben besiegen können.“
Dann war es still und dunkel in der Stube. Neugierig stand Felix auf, machte sich Licht und sah in seinen Sachen nach. Alles war wieder da, das Gold und die Edelsteine, sein ganzer Reichtum.
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