'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
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April 2004
WEITE WEGE
von Gerlinde File

Es war einmal eine junge, hübsche Frau, die hieß Marietta. Sie hatte Erholung im Wald gesucht, war vom Weg abgekommen und hatte sich zuletzt vollends verlaufen. Als sie stehen blieb und sich ratlos umblickte, entdeckte sie im Gehölz einen winzigen Kerl, der sie hinterhältig angrinste. "Was ist los mit dir?, " fragte er. "Hast du dich etwa verlaufen?" Die Frage schien eher rhetorischer Natur zu sein, denn der Kleine war offenbar genau im Bilde und er schien durchaus gewillt, sich die Notlage der Frau schamlos zunutze zu machen. "Ich kann dir den Weg zeigen", erbot er sich heuchlerisch, "aber nur, wenn du mich auf deinem Rücken reiten lässt. Ich bin schon alt und schwach, und wenn du mich mitnimmst, dann ist uns beiden geholfen." Marietta fühlte sehr wohl, dass sich da etwas Ungutes zusammenbraute, aber sie wusste sich keinen anderen Rat. Sie willigte ein und hob ihn auf ihre Schultern.
Anfangs ging es noch recht gut. Der Zwerg war ziemlich leicht, er kannte wirklich jeden Strauch und jeden Baum und er wies ihr den Weg. Aber dieser Weg zog sich, und bisweilen war sich Marietta nicht mehr sicher, ob der Kleine sie nicht absichtlich in die Irre führte. Er wurde immer schwerer und sie wurde immer müder und je müder sie wurde, umso mehr Freude schien er an dem Ritt zu haben. Er krallte sich an ihr fest und sie spürte, wie er ihr bei jedem Schritt sein Geschlecht in den Nacken drückte. Die Sache wurde peinlich und sie wollte ihn wieder loswerden, aber der Kerl dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen. Endlich gelangten sie tatsächlich an den Rand des Waldes. Marietta bat den ekelhaften Reiter nachdrücklich, er möge doch absteigen. Als er sich wieder weigerte, übermannte sie die blanke Wut. Sie griff nach ihm und riss ihn mit aller Gewalt von ihren Schultern. Das gelang ihr zwar, doch ein fürchterlicher Schmerz im Genick ließ sie aufschreien, denn der Zwerg hatte sich so sehr festgekrallt, dass er ihr ein ganzes Stück Haut samt Fleisch aus dem Nacken gerissen hatte. Jetzt saß er hämisch grinsend im Moos, nagte gierig an dem Stück Fleisch und sagte böse. "Das hättest du nicht tun sollen. Du wirst schon sehen, was du davon hast."
Marietta lief in wilder Panik davon und kam endlich ins nächste Dorf. Sie kannte dort kein Haus und keinen Menschen. Es schien, als hätte sie der Zwerg nicht bloß aus dem Wald sondern gleich in ein ganz anderes Land geführt. Die Leute im Dorf nahmen die fremde Frau zum Glück auf. Sie versuchten, ihre Wunde zu heilen, aber die wollte und wollte sich nicht schließen. Die vielen Schmerzen machten Marietta rastlos und wie von einem inneren Zwang getrieben lief sie von einem Ort zum nächsten, aß, was man ihr mitleidig anbot und schlief oft unter freiem Himmel, wenn die Müdigkeit sie übermannte.
So verging ein ganzes Jahr. Marietta war erschöpft und sehnte sich nur noch nach dem Tod. Endlich wies ihr eine gute Seele den Weg zu einem Bildstock, der außerhalb einer nicht allzu weit entfernten Ortschaft stand und der schon vielen Menschen Heilung gebracht hatte. Sie fasste noch einmal Hoffnung, fand tatsächlich den Gnadenplatz und fiel auf die Knie, um ihren ganzen Schmerz vor Maria und dem Kinde auszubreiten. Hinter einem vergitterten Fensterchen stand die geschnitzte Statue, liebevoll bemalt und fast lebensecht.
Da – hatte sie sich etwa bewegt? Erschrocken sah Marietta zu, wie sich das Kind in den Armen der Mutter aufrichtete und sie ansah. Aber das war nicht der verständnisvolle oder gar mitleidige Blick, den sie erwartet hatte. Das Gesicht schien immer älter und breiter zu werden. Der Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Von einem Augenblick zum nächsten hatte sich das unschuldige Kind in den garstigen Giftzwerg verwandelt, der ihr diese entsetzliche Wunde zugefügt hatte. Marietta konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle. Gleichzeitig traf sie der tadelnde Blick der Heiligen Frau, die, als ob sie ihr beweisen wollte, was wahre Liebe vermag, dem Kleinen liebevoll ihre Brust zum Trinken bot. Dieser ließ sich nicht lange bitten. Unverschämt biss er sich an ihrem Fleisch fest und zog daran wie an einem riesigen Stück Kaugummi.
Damit hatte die gute Mutter nicht gerechnet. Mit einem entsetzten und angewiderten Blick erstarrte sie zu Stein. In die gespenstische Stille hinein lösten sich kleine Bröckchen und rollten langsam zu Boden. Plötzlich fiel mit einem lauten Knall der ganze Bildstock in sich zusammen. Als die Staubwolke sich gelegt hatte, saß der Giftzwerg unversehrt auf einem Haufen von Steinen und kaute zufrieden an einem immer noch rosigen Stückchen Brust.
Marietta, die das alles mitangesehen hatte, übergab sich vor Ekel und fiel weinend vornüber. Der Zwerg aber, als hätte er nur auf diese Gelegenheit gewartet, sprang ihr wollüstig grunzend wieder auf die Schultern und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie ihren gemeinsamen Weg noch nicht zu Ende gegangen seien. "Und jetzt los! Steh auf! " schrie er sie unvermittelt an.
Schwerfällig rappelte sich die arme Frau hoch und ergab sich dem Willen ihres Peinigers. Weinend und die schwere Bürde mit sich tragend, schlug sie den Weg zum Wald ein. Sie war froh, von niemandem gesehen zu werden. Eine Weile schleppte sie sich dahin, wurde immer müder, fühlte sich schließlich total erschöpft und hielt Ausschau nach einem Rinnsal, um wenigstens ihren Durst zu stillen. Als sie einen Bach rauschen hörte, schaffte sie es mit letzter Kraft bis ans Ufer. Dort brach sie zusammen und fiel zu Boden. Der Zwerg schrie und hämmerte ungeduldig auf ihrem Kopf herum. Es half nichts. Marietta blieb liegen und rührte sich nicht mehr. Der kleine Quälgeist stieg ab, rüttelte und schüttelte verwirrt den leblosen Körper und versuchte, ihn auf den Rücken zu drehen.
Beim Fallen hatte sich ein scharfer Stein in die Rippen der Frau gebohrt. Als die Wunde frei lag, begann sie heftig zu bluten und der kleine Mann, der gleich daneben stand, wurde förmlich mit Blut übergossen. Das Blut brannte auf seiner Haut, brannte hinein bis in sein Fleisch, brannte hinein bis in sein kaltes Herz. Als der Schmerz unerträglich wurde, erlöste ihn eine Ohnmacht. Es wurde Nacht und es wurde Tag.
"Traugott, steh auf! Jetzt wach doch schob auf!“ hörte er eine feine Stimme rufen. Er schrak aus dem Traum hoch und sah sich um. Wer hatte da gerufen? Galt der Ruf ihm? Noch nie hatte ihm jemand einen Namen gegeben. Und überhaupt, was machte er da mitten im Wald?
Erst konnte er sich an nichts erinnern, dann sah er die Leiche neben sich im Grase liegen. War diese Frau früher nicht viel größer gewesen? War nicht die ganze Welt viel größer gewesen? Oder nein, war er selbst auf wunderbare Weise viel größer geworden? Verwundert lief er zum Wasser und aus dem Wasser sah ihm ein stattlicher junger Mann entgegen. Er brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass er selbst dieser Mann war, der sich im Wasser spiegelte. "Das bin ich.", sagte er zu sich selbst, wie um sich dieser Tatsache zu vergewissern. "Das bin ich. Ich, Traugott." Jetzt hatte er einen Namen, und – er hatte ein Herz, ein Herz, das begriff, was er angerichtet hatte.
Wilde Reue packte ihn und das dringende Verlangen, das Unrecht ungeschehen zu machen. Irgend etwas, so meinte er, müsste die Frau zurück ins Leben bringen. Irgendwo, so meinte er, müsste Hilfe zu finden sein. Er hob die Frau mit starken Armen hoch und ging mit ihr fort.
Nachdem Traugott einen weiten Weg gegangen war, gelangte er endlich ans Meer; ans Meer, aus dem einst alles Leben gekommen war. Das Meer müsste ihm helfen können, so dachte er, und er schrie mit lauter Stimme hinaus und bat um das Leben der Frau. Aber die Wellen schlugen immer höher, schwarze Wolken ballten sich zusammen, Blitze zuckten und Donner grollten. Den Mann packte wildes Entsetzen und er ergriff die Flucht, die Frau immer noch auf den Armen. Er hatte Angst, das Wasser würde ihn einholen. So schnell wie möglich kletterte er auf den Gipfel eines Berges. Dort bettete er die Frau auf seinen Schoß und versuchte zu rasten.
Eben brach die Nacht an und der runde Mond erschien in blutroter Pracht am Horizont. Vielleicht kann der Mond mir helfen, dachte der Mann bei sich und mit voller Stimme klagte er ihm sein Leid. Aber der Mond griff mit eisiger Kälte nach ihm. Traugott nahm die Frau wieder auf die Arme und rannte weg, um nicht zu erfrieren. Er rannte und rannte, und als es Mittag wurde, fand er sich in einer weiten Wüste.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Traugott fasste Hoffnung, dass sie mit ihrer Wärme die Frau wieder beleben könnte. Und so rief er ihr mit lauter Stimme zu und bat um Hilfe. Aber die Sonne griff mit sengender Hitze nach ihm und der Mann musste wieder die Flucht ergreifen, wollte er nicht von der Hitze verbrannt werden.
Endlich kam er in eine fruchtbare Gegend, wo es weder zu heiß noch zu kalt war. Erschöpft ließ er sich auf eine Wiese fallen, legte die Frau neben sich ins Gras und schlief ein.
Als er erwachte, machte ihm ein unangenehmer Geruch klar, dass der Körper neben ihm begonnen hatte zu verwesen. Nun begriff er, dass es keine Rettung gab. Weinend grub er mit bloßen Händen ein Loch in den weichen Boden, legte die Frau hinein und deckte sie mit Erde zu. Dann saß er neben dem Grab, die Tränen versiegten und er starrte ins Leere, bis die Nacht kam und ihn der Schlaf für kurze Zeit erlöste.
Schon früh am Morgen weckte ihn die Sonne. Er traute kaum seinen Augen, denn aus dem Grab war über Nacht ein mächtiger Baum gewachsen. Mit starken Ästen griff er hinauf zum Himmel, doch seine Zweige waren kahl. Traugott freute sich über diesen Baum und er fühlte sich seltsam hingezogen, denn der Baum spiegelte die Leere und Hoffnungslosigkeit seiner Seele wider. Den ganzen Tag über tat er nichts anderes, als den Baum zu betrachten, und nachdem die Sonne zwischen seinem schwarzen Geäst versunken war, lehnte er sich an den Stamm und schlief ein. Im Erwachen hatte er einen Traum. Es war ihm, als hörte er den Baum klagen: "Ich kann keine Blätter bilden. Ich habe keine Kraft, Blätter zu bilden!", und als hörte er ihn flehen: "Schenke mir Blätter! Bitte, schenke mir doch Blätter!"
Traugott stand auf und machte sich auf die Suche. Nicht weit entfernt fand er einen Baum, den ein Sturm entwurzelt hatte, der aber noch über und über voller Blätter war. Da sammelte er die Blätter ein, trug sie zu seinem Baum und befestigte sie mit Grashalmen an den Zweigen. So arbeitete er den ganzen Tag. Als die Dämmerung hereinbrach, waren alle Zweige grün, und es sah aus, als wären sie lebendig. Müde von der Arbeit schlief er ein. Am nächsten Morgen jedoch, als er die Augen aufschlug, sah er, dass alle Blätter verwelkt auf dem Boden lagen. Erschrocken blickte er hoch. Seine Arbeit war zunichte, aber an allen Zweigen wuchsen dicke grüne Knospen, die sich öffneten und in kurzer Zeit ein grünes Dach bildeten. Im Rauschen der Blätter vermeinte er, das Weinen eines kleinen Kindes zu hören. Er suchte überall danach, konnte es jedoch nicht finden.
Der Tag verging, und als es Nacht wurde, lehnte er sich an den Stamm und schlief ein. Im Erwachen hatte er wieder einen Traum. "Ich möchte Blüten! Ich möchte Blüten!" sagte der Baum zu ihm. "Ich bin zu schwach, um Blüten zu bilden. Bitte schenke mir doch Blüten!"
Also machte sich Traugott auf die Suche. Nicht weit entfernt fand er wieder einen Baum, den ein Sturm entwurzelt hatte. Der war über und über bedeckt mit schneeweißen Blüten. Er sammelte die Blüten ein und trug sie zu seinem Baum. Da Grashalme zu grob waren, um die feinen Blüten zu befestigen, riss er seine eigenen Haare ab und band die Blüten damit an die Zweige. So arbeitete er den ganzen Tag und als die Dämmerung hereinbrach, war die Krone des Baumes in ein weißes Festkleid gehüllt. Traugott sank todmüde in einen tiefen Schlaf. Als er am Morgen die Augen aufschlug, lagen auch die Blüten verwelkt zu seinen Füßen. Dennoch fühlte er Hoffnung in seinem Herzen und als er sich aufrichtete, da war wirklich der ganze Baum voll mit weißen Knospen, die sich allmählich öffneten und ihre Blütenpracht entfalteten. Auf einem Ast entdeckte er ein kleines Mädchen mit blonden Locken, das die Arme nach ihm ausstreckte. Voll Freude ging er hin, um es herunterzuholen, aber als er es berührte, zerfiel es wie eine Seifenblase. Erschrocken wich er zurück. Die Trauer holte ihn ein und er weinte bittere Tränen. In den Blüten spielte die Sonne. Allmählich besänftigte ihr rosa Hauch sein Herz und er wurde ruhiger. Er war voller Sehnsucht, aber auch voll Vertrauen, dass er einen neuen Platz im Leben finden würde.
An den Stamm gelehnt schlief Traugott abends ein und im Erwachen hatte er erneut einen Traum. "Ich möchte Früchte", bat der Baum. "Ich bin zu schwach um Frucht anzusetzen. Bitte, schenke mir doch Früchte!"
Traugott machte sich noch einmal auf die Suche. Wieder fand er einen Baum, den ein Sturm entwurzelt hatte. Der war voll mit kleinen Äpfeln. Er sammelte die Äpfel ein, trug sie zu seinem Baum und befestigte sie an dessen Zweigen. So arbeitete er den ganzen Tag und als die Dämmerung hereinbrach, bogen sich die Äste unter der Last von tausend kleinen Äpfeln. Erschöpft sank er in tiefen Schlaf. Als er am Morgen die Augen aufschlug, da lagen wieder all die Äpfel am Boden, aber der Baum hatte selbst Frucht angesetzt. Eine junge Frau saß zwischen den Ästen und lächelte ihm zu. Erst als er näher hinsah, erkannte er die Frau, die er begraben hatte. Schon wollte er ihr die Hand reichen und sie zu sich herunterholen, doch er schreckte zurück, weil er Angst hatte, auch sie würde sich wie eine Seifenblase vor seinen Augen auflösen.
Marietta kletterte selber vom Baum und kam auf ihn zu. Zaghaft und vorsichtig hielt er ihr seine Finger entgegen. Sie tat das Gleiche. Wie ein Hauch berührten ihre Fingerspitzen die seinen, aber nichts geschah. Die Frau stand immer noch da und lächelte ihn an. Traugott nahm sie vorsichtig in die Arme und so wurden sie ein Paar. Gleich neben dem Baum bauten sie sich ein Haus. Sie hatten viele Kinder miteinander, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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