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April 2004
Der Mann der die Zeit zählte
von Manuela MĂĽhlethaler

Es war in einer fernen Zeit, als ein junges Mädchen entlang dem Fluss schlenderte. Bald sah sie einen alten Mann am Ufer sitzen, der unentwegt die Lippen bewegte. Verwundert sprach sie ihn an: „Guter Mann, was brummelt ihr ständig in Euren Bart?“
Der alte Mann drehte sein Gesicht zu dem Mädchen und sagte: „Ich zähle die Zeit“, dann blickte er wieder in Richtung des Flusses und fuhr weiter in seiner Tätigkeit.
„Ihr zählt die Zeit?“ fragte sie überrascht.
Der alte Mann liess sich nicht stören, und zählte weiter. Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden.
Das Mädchen beobachtete den Mann, wie er flink und ohne Fehler, erst die Sekunden, dann die Minuten zählte und sie hörte, wie er nach einer Weile sagte: „Eine Stunde“.
Er stöhnte dabei, als hätte er schwere Arbeit geleistet.
„Warum stöhnt ihr so?“, fragte ihn das Mädchen wieder.
„Ich habe Dreitausendsechshundert Sekunden gezählt, habe sie zu sechzig Minuten geformt oder besser gesagt, zu einer Stunde, das kostet Kraft“, sagte er mit schwerem Atem.
„Aber warum zählt ihr überhaupt die Zeit?“
„Ich zähle die Zeit, damit ich weiss, wie viel ich davon besitze.“
Das Mädchen staunte nicht schlecht.
„Man muss die Zeit nicht zählen, um zu wissen, wie viel man davon besitzt. Jedes Lebewesen auf dieser Welt hat so viel Zeit, wie es braucht, die kleinste Maus, der stärkste Bär und auch ihr, alter Mann“, sagte sie.
„Da irrst du dich“, antwortete der Mann.
„Niemand hat Zeit. Als ich mir gestern etwas Milch in der Stadt besorgte, sah ich einen gut gekleideten jungen Mann. Er hastete über die Strasse, sein Gesicht war rot, wie das einer Erdbeere. Er war in höchster Eile und schien sehr gehetzt und du willst mir sagen, jeder hätte so viel Zeit wie er brauche?“
Das kleine Mädchen wunderte sich, dass ein so alter Mann so dumme Sachen sagen konnte.
„Alter Mann“, sagte sie „verzeiht mir, dass ich euch widerspreche. Wenn ihr etwas tun wollt, was euch Spass macht, dann müsst ihr es nur tun und schon habt ihr Zeit, denn die Zeit lebt in euch.“
„So einen Blödsinn habe ich ja noch nie gehört“, sagte er zu ihr.
„Alter Mann“, sagte sie mit fester Stimme, „die Zeit ist eine Erfindung des menschlichen Verstandes. Denkt doch mal ein paar Jahrtausende zurück. Seinerzeit war der Lauf der Sonne die Grundlage unserer Zeitbestimmung. Der Tag begann dann, wenn man genug Licht für seine Arbeit hatte und er endete mit dem Untergang der Sonne. Dazwischen tat man, was man zu tun in der Lage war.
Erst mit der Erfindung der Sonnenuhr, begann für die Menschen das Dilemma. Der Tag wurde in Einheiten geteilt und in ihnen musste man nun bestimmte Arbeiten erledigen. Und als man lernte, immer mehr Arbeit in immer kürzeren Zeiteinheiten zu erledigen, begann das Ende der Beschaulichkeit.“
Der alte Mann stand auf und schaute das Mädchen verdutzt an.
„Wie heisst du“, fragte er.
„Ich habe keinen Namen“, antwortete sie ihm.
„Aber wer bist du dann“, fragte der alte Mann.
„Könnt ihr das nicht erraten?“, fragte sie ihn keck.
„Nein, ich habe nicht den Funken einer Ahnung“, antwortete er.
„Ich bin der Müssiggang“, antwortete das Mädchen.
Da fing der alte Mann an zu lachen. Sein ganzer Körper wurde von heftigen Lachanfällen geradezu geschüttelt. Als der alte Mann sich wieder beruhigt hatte, sagte er:
„Der Müssiggang bist du also. Und weisst du auch was man von dir sagt? Müssiggang ist aller Laster Anfang“, sprudelte es aus ihm heraus.
Mit ruhiger Stimme antwortete sie: „Alter Mann, du irrst schon wieder. Überlege doch, ich bin der Müssiggang, ich habe alle Zeit der Welt. Wenn Du so lebst wie ich, dann kannst du alles gut machen. Du kannst deinen Garten sorgfältig pflegen und er belohnt dich am Ende des Sommers mit den süssesten Früchten. Du kannst dein Haus in aller Ruhe bestellen, es wird dich aufnehmen und dir im Winter Schutz vor der Kälte bieten, im Sommer wird es dich vor der Sonne bewahren. Du kannst dich liebevoll um deine Tiere kümmern, deine Kuh wird dir reichlich Milch schenken, dein Huhn legt dir die grössten Eier, die du je gesehen hast, deine Katze wird dein Haus von Ungeziefer befreien. Und du kannst einen Menschen lieben. Er wird es Dir danken und an dunklen Tage bei dir sein. Aber für all diese Dinge wirst du dich hingeben müssen mit Geduld, Ausdauer und Ruhe.
Der alte Mann wurde ernst, sagte aber dann nach eine Weile wirsch: „Man wird faul, wenn man viel Zeit hat“.
„Was ist so übel an der Faulheit“, fragte ihn das kleine Mädchen. „Die Faulheit ist das, was uns übrig geblieben ist vom Paradies.“
Da fing der alte Mann wieder an zu lachen. Er gluckste und prustete, bis ihm fast die Luft wegblieb. Zwischen zwei Lachanfällen sagte er: „Ich bleibe dabei, Müssiggang ist aller Laster Anfang“.
Das kleine Mädchen wandte sich zum Gehen und sagte: „Ich muss euch jetzt allein lassen alter Mann und was ich euch jetzt sage, das merkt euch gut.
MĂĽssiggang ist nicht aller Laster Anfang, MĂĽssiggang ist aller Liebe Anfang.
Das junge Mädchen hatte dies so eindringlich gesagt, dass der alte Mann aufhörte zu lachen. Es sah dem Mann noch einmal mit ernstem Blick in die Augen, drehte sich dann um und ging langsam davon. Eine Weile war es still, dann hörte es, wie der alte Mann wieder zu zählen begonnen hatte. Aber er stockte immer wieder, verzählte sich, schien unkonzentriert, so, als wäre er mit einem anderen Gedanken beschäftigt.
© Manuela Mühlethaler, Würenlos, Januar 2004

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