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April 2004
Selkie Island
von Diana Krewald

Vor langer Zeit erzählte im Lande Erin eine uralten, blinde Frau dieses Märchen an den Feuern von Kenmare.
In alten keltische Mythen heißt es, dass einst Engel, die des Lichtes teilhaftig waren, sich vom Teufel verführen ließen und zur Strafe in großen Scharen vom Himmel herabgestoßen wurden. Jene, die auf der Erde landeten, wurden zu Elfen. Die andern stürzten in die raue See und wurden zum Meeres-Volk, den Selkies.
Äußerlich glichen sie Seehunden, wiegten sich mit Vorliebe bei Sonnenschein auf den weißen Wellen. So mancher Fischer versuchte sie zu fangen, aber die Selkies waren schlau, tauchten unter, bevor ein Mensch in ihre Nähe kam. Fleisch war knapp in jenen Tagen, unzählige Seehunde starben einen grausamen Tod in den engmaschigen Netzen.
Die Selkies waren erzürnt, forderten Rache für den Tod ihrer nahen Anverwandten. Männliche Selkies besaßen die Fähigkeit gewaltige Stürme zu entfesseln. Heftige Unwetter folgten, zahllose Schiffe versanken in den dunklen Fluten. Diese unerklärlichen Unglücksfälle schürten den Glauben an geheimnisvolle Meereswesen.
Earl Cormack von Thomond, Herr von Bunratty Castle, hatte nach dem Tod seines Vaters, die Burg geerbt. Dabei zählte der junge Mann gerade 20 Lenze. Er gab nichts auf das törichte Weibergeschwätz! Bis zu dieser schicksalhaften Begegnung an einem Julimorgen.
Im Morgengrauen war er erwacht, konnte nicht mehr einschlafen. Kurzentschlossen ließ der junge Mann seinen schwarzen Hengst satteln und ritt die Küstenstraße entlang. Es war ein herrlicher Morgen. Gerade ging die rote Sonne am Horizont auf, entflammte weiße Lämmerwölkchen über dem Meer. Das azurblaue Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen, glitzerte wie Tausende von Diamanten. Cormack erreichte die Klippen. Er hielt sein Pferd an, genoss die Aussicht.
Es war Ebbe, die kleine Bucht mit den dunklen Felsen war freigelegt. Bei Flut brachen sich mächtige Wellen daran. Dicke Seetang-Teppiche breiteten sich auf dem weißen Sand aus.
Auf einmal erspähte der junge Mann etwas, dass sich oben auf den weißen Wellen wiegte. Nach einem Weilchen glaubte er einen Körper auszumachen. Die Gestalt näherte sich der Küste. Cormack saß ab, band sein Pferd an einer Erle im kleinen Wäldchen fest. Interessiert beobachtete er im sicherem Schutz einer Klippe das Strandgut, was zur Küste trieb.
Beinahe war der junge Mann enttäuscht, als schwerfällig ein großer, goldbrauner Seehund an Land robbte. Dieser hinterließ eine sichtbare breite Spur im feinkörnigen Sand, steuerte auf die Felsen der kleinen Bucht zu.
Auf einmal schüttelte sich das massige Tier, funkelnde Wassertropfen stoben durch die Luft. Cormack traute seinen Augen nicht, der Seehund streifte seine goldene Hülle ab, und verwandelte sich in eine wunderschöne Frau.
Sein Herz schlug schneller, er hielt den Atem an. Unruhig rutschte der junge Mann hinter der Klippe hin und her, bemüht, keinen Laut zu machen.
Bei den Göttern, sie war vollkommen nackt! Langsam wanderte sein Blick über ihren begehrenswerten Körper. Zarte weiße Haut, ein engelsgleiches Gesicht mit korallenroten Lippen und zierlicher Nase. Es wurde von wallenden, goldblonden Locken eingerahmt, die ihr bis zur Hüfte reichten.
Die junge Frau war etwa in seinem Alter. Nie zuvor hatte er ein lieblicheres Weib erblickt! Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, die alten Mythen waren Wirklichkeit. Cormack sah eine Selkie.
Fieberhaft versuchte der junge Mann, sich an die Geschichten zu erinnern, die ihm seine Amme erzählt hatte. Hieß es nicht, wem es gelänge, sich der Haut einer weiblichen Selkie zu bemächtigen, den müsse die Frau zum Manne nehmen?
Inzwischen hatte Niamh sich auf einem der Felsen niedergelassen. Ihre Zauberhülle lag neben ihr zum Trocknen in der Sonne. Aus einer schmalen Vertiefung in der goldenen Haut zog sie einen Kamm hervor. Mit fließenden Bewegungen fing die junge Frau an, ihr langes Haar zu kämmen, in dem das Sonnenlicht tanzte.
Unerwartet erhob sie ihre Stimme, begann in fremder Sprache zu singen. Verzückt lauschte er dem lieblichen, glockenhellen Gesang. Ja, Cormack wollte ihr ganz nahe sein. Vorsichtig schlich der junge Mann im Schutz der Felsen näher, bis er direkt hinter ihr war. Niamh schaute aufs Meer hinaus, bemerkte nichts von seiner Anwesenheit. Blitzschnell packte Cormack die Zauberhülle und lief mit ihr davon.
Die junge Frau hatte plötzlich hinter sich ein scharrendes Geräusch gehört. Schnell wollte sie die Hülle überstreifen, im Meer Zuflucht suchen. Aber die Haut war verschwunden.
Niamh sah sich suchend um, erspähte einen jungen Mann hinter den Felsen. Er richtete sich auf, überragte sie nun um zwei Haupteslängen. Sein braunes Haar fiel ihm auf die Schultern. Die junge Frau blickte in ebenmäßige Gesichtszüge, die von hoher Geburt zeugten. Was sollte Niamh tun?
Sie machte eine Handbewegung, die ihm bedeutete die Hülle zurückzugeben. Es half nichts. Der junge Mann schüttelte den Kopf, drehte sich um und rannte pfeilschnell davon. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm nachzueilen.
Cormack erreichte sein Pferd. Sorgsam faltete er die Zauberhaut zusammen und verbarg sie zu unterst in der braunen Satteltasche. Eben erklomm Niamh die Anhöhe, auf der er stand. Erst in diesem Moment wurde sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Die junge Frau errötete und schlug die Augen nieder.
Trotz seines Begehrens war Cormack ein Ehrenmann. Schnell zog er seinen schwarzen Umhang aus der Satteltasche, trat auf die junge Frau zu. Niamh blickte auf und zuckte vor ihm zurück. Er sah Furcht in ihren goldenen Augen.
„Hab` keine Angst, ich tue dir nichts. Verstehst du meine Sprache?“, fragte er mit leiser Stimme, versuchte ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie nickte, nahm den Umhang dankbar an und legte ihn um.
Schließlich hob Cormack die junge Frau auf sein Pferd und saß hinter ihr auf. Der Hengst verfiel in schnellen Trab und bald passierten sie die schmale Steinbrücke, welche über den Rathy River nach Bunratty Castle führte. Der graue Wehrturm ragte imposant und bedrohlich vor ihnen auf. Er spürte ihre Anspannung, als sie durch das Tor ritten.
Auf dem Burghof herrscht bereits geschäftiges Treiben. Neugierig beäugten die Bediensteten ihren Herrn und die fremde blonde Frau, die ihn begleitete. Sie tuschelten leise miteinander. Sofort ergriff ein flinker Stallbursche die Zügel des Pferdes. Cormack half ihr absteigen.
Auf einen Wink von ihm eilte eine untersetzte, grauhaarige Hofdame herbei.
„Kümmert euch um My Lady, führt sie in ihre Gemächer.“, wies er sie an.
„Sehr wohl, wie Ihr wünscht, My Lord.“, gab die Alte unterwürfig zurück. Sie wandte sich um, und die junge Frau folgte ihr.
Cormack holte die Zauberhülle aus der Satteltasche. Wo konnte er sie verstecken? Ja, im Turmzimmer war die Hülle sicher. Er besaß den einzigen Schlüssel. Mit festen Schritten eilte der junge Mann die breite Steintreppe hinauf, die in die Burg führte.

***
Am letzten Tag des Julis wurde das junge Brautpaar vermählt. An diesem Tag begannen auch die dreitägigen Feierlichkeiten des Lughnasadh Festes. Seit Generationen ehrten die Menschen den keltischen Licht- und Sonnengott Lugh und dankten den Göttern für eine gute Weizenernte.
Die harte Arbeit der letzten Wochen hatte sich gelohnt, es wurde ein rauschendes Fest. Bis in den letzten Winkel war die Burg geschmückt, glich einem bunten Blumenmeer. Ausladende Tische bogen sich unter der Last erlesener Speisen. Man hatte weder Kosten noch Mühen gescheut. Nie sah man ein glücklicheres Brautpaar. Noch Jahre später sagten die Leute, mit Niamh sei das Licht und die Freude auf Bunratty Castle eingekehrt.
Anfangs fiel es Niamh nicht leicht sich an ihr menschliches Leben zu gewöhnen. In ihrem Inneren blieb sie immer eine Selkie. Trotzdem versuchte sie sich anzupassen, von den Frauen am Hofe zu lernen.
Nach kurzer Zeit bewältigte die junge Frau von allein die vielen ungewohnten Pflichten. Ja, und mit jedem neuen Tag wuchs ihre Liebe zu ihrem Gatten. So wie ein zartes Pflänzchen, dass sich nach dem Sonnenlicht streckte.
Cormack las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. 14 Jahre lebten sie glücklich und zufrieden. Die Götter segneten ihren Bund, schenkten ihnen drei Söhne.
Niamhs neues Leben breitete sich, wie ein neu begonnener Wandteppich vor ihr aus. Zu Beginn war das Muster undeutlich, aber mit jedem angeknüpften Faden wurde es klarer.
Viele bunte Fäden verbanden sich zu filigranen Darstellungen von Blumen und Vögeln. Ja, diese standen für die glücklichen Zeiten in ihrem Leben. Das sorglose Zusammensein mit den Kindern, wie sie heranwuchsen. In jenen Tagen wurden viele große Feste auf der Burg begangen. Die Freude war allgegenwärtig.
Aber unter das bunte Muster mischten sich unbemerkt graue und sogar tiefschwarze Fäden, die dem Betrachter des Teppichs nicht weiter auffielen.
Dunkle Gedanken, die in der Nacht kamen, wenn es still auf der Burg war. Niamh nicht schlafen konnte, sie sich wie ein Dieb in der Nacht hinausstahl. In letzter Zeit zog es die junge Frau häufiger an ihren Lieblingsplatz, den Nordturm. Lange stand sie dort, starrte in die Dunkelheit hinaus. Nur der klare Nachthimmel über ihr, den Myriaden von funkelnden Sternen bevölkerten.
In diesen Momenten dachte die junge Frau an ihr Zuhause auf dem Meeresgrund. Tiefe Traurigkeit überkam sie. Wie ging es ihrem Vater, dem Selkie-König und den sechs älteren Schwestern? Gewaltsam war sie damals von Cormack aus ihrer Mitte gerissen worden. Die junge Frau hatte ihm nie verziehen.
Manchmal schien ihr Leben als Selkie, wie ein schöner Traum, den sie für immer verloren hatte. Ach, welch glückliche Stunden hatte Niamh in den unvergleichlichen Smaragdgärten des Korallenschlosses verbracht!
Würde sie die Gärten jemals wiedersehen? In einer Nacht erkannte die junge Frau, dass ihr Leben als Mensch nur ein schönes Gefängnis war. All die Jahre hatte sie sich in ihr Schicksal ergeben. Warum hatte Niamh ihre wahre Natur nur verleugnet? Sie war eine Selkie! Es musste einen Weg gegeben, ihr altes Leben zurückzubekommen.
***
Nur einmal in all den Jahren fragte Niamh ihren Gatten nach der Zauberhülle.
Es war in jener Nacht, als Cormack erwachte und den Platz neben sich leer fand. Er suchte sie an ihrem Lieblingsplatz auf dem Nordturm, und da stand sie, wie so oft, und blickte in die Dunkelheit hinaus. Die Luft war feucht und der Rauch, der von den Fackeln aufstieg, hing über der Burg wie ein lautloses Gespenst. Reglos stand Niamh in ihrem weißen Gewand da.
„Wo hast du sie versteckt?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
„Wovon sprichst du?“, gab er ahnungslos zurück.
„Die Zauberhaut! Gib sie mir!“ Die junge Frau sah ihn an, Tränen glitzerten in ihren Augen.
„Ich hab die Haut nicht mehr... ich hab sie damals ins Meer geworfen.“, log er.
Niamh brach in Tränen aus, rannte davon. Am nächsten Tag wirkte sie fröhlich wie immer, so als wäre nichts geschehen, aber in ihrem Innern war ein Licht erloschen.

***
Seit Jahren hatte Cormack das Turmzimmer nicht mehr betreten, die Ungewissheit ließ ihm keine Ruhe. Es war ein langer Aufstieg. Geschwind ging er den schmalen Flur entlang. Der junge Mann nahm die Goldkette ab, die er um den Hals trug. Daran hing ein schwarzer Schlüssel. Er steckte ihn ins Schloss. Die Tür leistete Widerstand, gab schließlich mit leisem Knarren nach.
Diarmuid, der jüngste Sohn, war ihm unbemerkt gefolgt. Eben sah er noch, wie sein Vater hinter der Eichentür verschwand. Auf Zehenspitzen schlich er heran, spähte durchs Schlüsselloch.
Drinnen war es dämmrig. Sein Vater hatte eine Kerze angezündete, sie spendete gedämpftes Licht. Er stand vor einer breiten Holztruhe. Ihr Deckel war geöffnet. Eben nahm der junge Mann eine gelbliche Tierhaut heraus. Was wollte Vater damit?
Ungläubig starrte Cormack auf die Zauberhaut. Seltsamerweise war sie nicht verrottet, sah aus wie damals. Wie war das möglich? Plötzlich hörte er vor der Tür ein dumpfes Geräusch. Blitzschnell ließ der junge Mann die Haut wieder in der Truhe verschwinden, schloss sie ab.
So ein Mist! Diarmuid war gegen den Stuhl an der gegenüberliegenden Wand gestoßen, der krachend zu Boden fiel. Vater hatte es gehört, eilte zur Tür. Schnell machte der Junge sich aus dem Staub, rannte die Treppe hinunter. Cormack riss die Tür auf, sah hinaus. Es war niemand da. Nur der altersschwache Stuhl lag auf dem Boden. Seltsam, war der von alleine umgefallen? Er zuckte die Achseln, schloss die Tür ab. Es war Zeit fürs Abendmahl. Nachdenklich ging der junge Mann die Treppe hinunter.

***
Früh am Morgen war ein Bote aus der Grafschaft Sligo eingetroffen. Er brachte beunruhigende Kunde aus dem Norden. Cormacks Vetter Dogall brauchte seine Hilfe. Feindliche Schiffe waren an der Küste gesichtet worden. Die Lage sah ernst aus. Am nächsten Morgen brach Cormack mit seinem kleinen Heer auf.
Sieben Wochen waren seit dem verstrichen. Niamh saß auf der weißen Bank unter dem alten Apfelbaum. Gedankenverloren stickte sie an einem roten Monogram, den Stickrahmen auf den Knien. Dabei dachte sie an ihren Mann und fragte sich, ob es ihm gut ging.
Die Kinder tollten durch den Garten. Finbar, der Älteste, war zusammen mit seinem jüngeren Bruder Conor auf den Apfelbaum geklettert. Finbar schaukelte übermütig an einem Ast. Sein Bruder kletterte zu einem Amselnest hinauf, das er entdeckt hatte. Diarmuid saß im Gras zu Füßen seiner Mutter. Niamh legte die Handarbeit beiseite, streichelte liebevoll seine blonden Locken.
„Vater macht seltsame Dinge!“, sagte er und drehte sich zu ihr um.
„So, was tut er denn?“, gab sie lächelnd zurück.
„Ach, neulich war er im Turmzimmer, hab ihn heimlich beobachtet.“
„Was hat er dort gemacht?“
„Vater holte eine gelbliche Tierhaut aus einer Truhe, starrte sie lange an“, gab er bereitwillig Auskunft.
„Ja, wirklich seltsam.“ Sie runzelte die Stirn, wandte den Blick ab.
Also, doch ihr Mann hatte die Zauberhülle vor ihr versteckt. Selbst in der Nacht auf dem Nordturm hatte er sie belogen.
Eine Welle schäumender Wut stieg in ihr auf, schmerzhaft bohrten sich ihre Fingernägel in die Handflächen. Die junge Frau blinzelte die Tränen weg, welche einen Schleier über ihre Augen legten. Nein, die Kinder sollten sie nicht so sehen.
Es war Zeit zu handeln. Cormack war weit weg, würde sie nie freiwillig gehen lassen. Ja, ihre Entscheidung war gefallen. Niamh würde ihren Mann verlassen.
Auch ihre Liebe für Cormack konnte sie nicht zurückzuhalten, der Selkie in ihr war stärker. Aber eine brennende Frage beschäftigte die junge Frau. Woher sollte Niamh Hüllen für die Kinder nehmen?

***
Im Schutz der Nacht verließ die kleine Familie die Burg. Sie sattelte heimlich zwei Pferde, ritten schweigend durch die sternenklare Nacht. Ein riesiger Vollmond leuchtete ihnen. Niamh und die Kinder erreichten die kleine Bucht. Eben ging die Sonne auf. Erste rote Sonnenstrahlen brachen durch die graue Wolkendecke. Bildeten einen leuchtenden Kranz, der allmählich den ganzen Himmel in Brand setzte. Es war Ebbe. Sie saßen ab und ließen die Pferde frei. Es waren schlaue Tiere, sie würden ohne Schwierigkeiten den Heimweg finden.
Niamh führte die Kinder an den Strand.
„Habt keine Angst, herrliche Träume werden euch in ein wundervolles Land führen.“, versicherte die Mutter ihnen. Zum Schluss umarmten sie einander. In der Nacht war Niamh eine Lösung für die fehlenden Hüllen eingefallen. Sie würde ihre Söhne vorerst in Steinklippen verwandeln.
Die junge Frau zog die Zauberhaut hervor, berührte die Kinder nacheinander damit. Ihre Söhne fielen in tiefen Zauberschlaf, lagen reglos vor ihr im Sand. Leicht kamen die magischen Worte in Salachin über ihre Lippen und sie waren verschwunden. Schnell streifte Niamh die Hülle über, verwandelte sich in einen Seehund. Endlich war sie frei! Glücklich ließ die junge Frau sich von den Wellen davontragen. Sie hefte den Blick auf die drei neuentstanden Steinklippen, die fast 10 Meter vom Lande entfernt aufragten.

***
Zwei Tage später kehrte Cormack mit seinem Heer nach Bunratty Castle zurück. Es hatte eine blutige Schlacht gegeben, viele Tote waren zu beklagen. Von Niamh und den Kindern fehlte jede Spur. Er war krank vor Sorge. Bis spät in die Nacht war der Suchtrupp unterwegs, fand aber nur die Pferde.
Cormack stürmte ins Turmzimmer hinauf. Er fand Tür und Truhe gewaltsam aufgebrochen, die Hülle war fort. „Die Bucht“, schoss es ihm durch den Kopf. Der junge Mann bestieg sein Pferd, jagte wie von Sinnen davon.
Endlich erreichte Cormack die Bucht. Er sprang vom Pferd, band es an einer Erle fest. Fieberhaft suchten seine Augen das Meer ab.
„Niamh, wo bist du? ... Ich flehe dich an, komm zurück!“, schrie er verzweifelt.
Lange starrte der junge Mann auf die ruhige See, aber nichts geschah.
Er hörte nur das rhythmische Wogen der Wellen, die ohne Unterlass gegen die dunklen Felsen schlugen. Eine einsame Silbermöwe ließ sich von den milden Aufwinden tragen, stieß einen langgezogenen Schrei aus.
Plötzlich tauchte Niamh aus dem Wasser auf. Sie schlug die Kapuze der Zauberhaut zurück, und ihr Oberkörper nahm menschliche Gestalt an. Sein Herz hüpfte vor Freude. Sie wiegte sich auf den weißen Wellen, schwamm bis auf wenige Meter zu ihm heran.
Inzwischen hatte die junge Frau einen Weg gefunden, Hüllen für ihre Söhne zu beschaffen. Im weitentfernten Korallenriff „Der lautlose Tod“, lebte eine Meereshexe, die Zauberhäute herstellen konnte.
Niamh würde jeden Preis bezahlen, egal was die Hexe verlangte! Ja, bald würde sie mit ihren Kindern wieder vereint sein. In zwei Tagen würde die junge Frau dorthin aufbrechen.
Niamhs anfängliche Sorge, die Kinder könnten im Wasser ertrinken, stellte sich als unbegründet heraus. Gleich nach ihrer Rückkehr hatte sie eine weise Selkie Frau um Rat gefragt. Diese versicherte ihr, ihre Söhne wären ebenso im Wasser zu Hause, wie an Land.
Das Selkie Volk würde die Kinder freudig in ihrer Mitte willkommen heißen.
Ja, wenn ihre Mutter mit ihnen zurückkehrte, würde es ein großes Fest geben.
Niamhs Herz wurde weich, als sie ihren Gatten so verzweifelt am Ufer stehen sah. Aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, konnte nicht nachgeben.
„Ich flehe dich an, komm zu mir zurück! Wo sind die Kinder?“, rief er erneut.
„Cormack, mein Wunsch ist es, mit den Kindern bei meinem Volk im Meer zu leben. Was immer du auch sagst, wird mich nicht umstimmen.“, gab sie entschlossen zurück.
Wo war die Niamh, die er liebte? Sie war ihm sonderbar fremd geworden. Cormack sank auf den feuchten Fels nieder, sein Beinkleid wurde nass. Er vergrub das Gesicht in den Händen.
„Liebste, habe ich dich für immer verloren? Gibt es keine Möglichkeit, euch wenigstens manchmal zu sehen?“, stieß er mit heiserer Stimme hervor. Tränen liefen über sein Gesicht, als er sie wieder ansah.
Niamh war tief bewegt, selbst den Tränen nahe. Sie überlegte einen Moment. Ja, es gab einen Ausweg.
„Versprichst du mir, uns nicht mit Gewalt an Land festzuhalten?“ Ihre Stimme klang etwas sanfter.
„Ich verspreche es! Bei den Göttern! Alles was du willst, wenn ich euch nur sehen darf.“ Er erhob sich und Hoffnung lag in seinem Blick.
„Gut, dann werden wir uns jeden Monat bei Neumond hier wieder sehen. Nur für diese Nacht werden deine Söhne und ich menschliche Gestalt annehmen. Im Morgengrauen werden wir wieder ins Meer zurückkehren.“
„So soll es geschehen. Ich werde euch erwarten“, erwiderte Cormack glücklich.
„Also, bis zum Neumond. Lebe wohl!“, rief die junge Frau. Sie erhob die Hand zum Abschied und schwamm davon.
Cormack sah ihr nach. Er stand noch lange schweigend auf dem Felsen mit neuer Hoffung im Herzen. Niamh hielt ihr Wort. All die Jahre suchte sie jeden Monat bei Neumond mit ihren Söhnen die Bucht auf.
Später sei Finbar, der älteste Sohn, zu seinem Vater zurückgekehrt und habe die Burg übernommen. Ja, so erzählt man sich im Lande Erin.

© Diana Krewald, April 2004

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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