Nur ein Sandkörnchen in der Wüste von Monique Lhoir
Mein Körper ist im Abendland
Und meine Seele im Orient
Mein Körper ist im Land der Ungläubigen
und mein Herz ist in Stambul
Und mein Herz ist in Oran...!
(Isabelle Eberhardt)
1900 – 1904 in Nordafrika
“Es wird im Dorf Klatsch geben.” Isabelle saß im Schatten der Palmen, den Rücken an einen Brunnen gelehnt. Gerade noch hatte sie versucht, mit Slimène, den sie liebte, Wasser mit einem zerschlissenen Ziegenlederbehälter zu schöpfen. Vergeblich. Der Brunnen war ausgetrocknet. “Das französische Militär und auch dein Volk werden nicht akzeptieren, dass ich mit einem Spahi zusammen bin. Zwar kämpfst du für die Kolonialherren, aber in ihren Augen bist du doch nur ein Einheimischer“, sprach sie weiter. Mit einem Zweig malte sie Kreise in den Sand.
Slimène schaute sie aus dunklen Augen an. Oh, wie sehr mochte sie diese Augen in seinem fast schwarzen, stolzen Gesicht.
“Sie werden alles unternehmen, um uns zu trennen.” Sie zerstörte ihre Zeichnungen mit dem Fuß. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, sesshaft werden zu können, fühlte sich heimisch und geborgen, mit ihm, Slimène, dem Algerier. Sie liebte seine sinnliche Erotik, seine heitere, sanfte Art – etwas, was ihr nicht eigen war. Sie wollte ihn. Als Ergänzung zu ihrem Selbst? Sie wusste es nicht genau.
Isabelle stand auf und glättete ihr langes formloses Gewand, einen Burnus, den sonst nur Männer trugen. Sie rückte das weiße Tuch zurecht, das sie um ihr knabenhaft kurz geschorenes Haar gebunden hatte. Träge ging sie in ein Lehmhaus, das am Rande der Wüstenstadt El-Qued stand und Schutz vor der Hitze bot.
Slimène folgte ihr. “Wir werden es schaffen”, beruhigte er Isabelle und nahm sie in den Arm. Ja, er sah in seiner Naivität die Dinge einfach, viel einfacher als sie.
Isabelle straffte ihren Rücken und schaute zu ihm auf. “Ja, wir werden es schaffen, so Gott will. Und ich werde nichts bedauern, vom Schicksal nicht mehr verlangen, als dass es mich in Frieden in meiner Wüste mit dir leben lässt, weit ab von der Heuchelei und der Gemeinheit der Menschen. Allein mit dir – und dennoch nicht allein.”
Isabelle nahm alle ihre Energie zusammen. Sie lieh sich Geld von ihrem Bruder Augustin, der mit seiner Frau in Marseille wohnte. Ein paar Wochen später zog sie, wie sie ihm schrieb, in das schönste arabische Haus von El-Qued, einer Oasen-Stadt inmitten der Sahara von Algerien. Sie kaufte sich ein Pferd, das sie Souf nannte, eine Ziege, Hühner und einen Hund. Ein Freund ersteigerte ihr die uralte Dienerin Khalifa, die einen krummen Rücken hatte und Haschisch rauchte, was die Einheimischen Kef nannten.
Isabelle war glücklich. Manchmal ging sie zur Kaserne und wartete, bis Slimène in seinem roten Spahiumhang und den Stiefeln herauskam. Jedes Mal ergriff sie eine Erregung, die sie wollüstig und eigenartig traurig machte. So vergingen August und September in angenehmem Nichtstun.
Seit sie denken konnte, hatte Isabelle einen Traum gehabt. Als Tochter einer russischen Emigrantin war sie in der Schweiz ohne legitimen Vater zur Welt gekommen und mit “Vava”, ihrem Hauslehrer aufgewachsen. Ihre Mutter hatte von Anfang an gekränkelt und sich nicht um sie gekümmert. Wild und ungezähmt war Isabelle über die Gartenwege der Villa Neuve in Genf gehüpft und hatte von früh bis spät getan, was ihr gerade einfiel. Ihre Phantasie kannte keine Grenzen. Ihr Haar trug sie stets kurz geschnitten und kleidete sich wie ein Junge.
“Mein Traum?”, erklärte Isabelle, als sie in einer Sommernacht mit Slimène in ihrem Haus auf der Matte lag. “Mein Traum war mein Verlangen, in exotische Fernen zu entfliehen. Nordafrika, dieses Land, das für mich schon immer der Stein von Mekka war.” Sie verstummte einen Augenblick und zeichnete sanft die Konturen seines Mundes nach. “In meinen Wunschräumen war ich schon als ganz junges Mädchen eine Nomadin. Das erst Mal reiste ich vor einigen Jahren mit meiner Mutter nach Bône. Ich blickte auf die Straße unter der strahlenden Sonne, und es kam mir so vor, als ob dieser Weg ins herrlich Unbekannte führte. Da wusste ich, wo ich zu Hause sein wollte, wohin ich gehörte.”
Isabelle hörte das Wiehern von Souf, stand auf und ging in den Hof. Sie schaute nach dem Hengst, der lebhaft, ja feurig war, wenn sie ausritt, aber daheim zahm wie ein Lämmchen. Sie hatte ihn im Innenhof untergebracht. Beruhigend streichelte sie sein Fell. Er stupste sie mit dem Kopf an und knabberte an ihren Händen. Slimène trat hinter Isabelle und nahm sie in den Arm.
“Wir sollten heiraten, um meinem Volk im Dorf keinen Anlass zum Reden mehr zu geben.”
“Ich werde nie eine arabische Fatma werden.” Isabelle schmiegte sich an Slimène. “Weißt du, das Leben muss nicht von der Wiege bis zur Bahre einen vorgeschriebenen Weg nehmen, der von der Pflichterfüllung für Vaterland und Familie geprägt ist”, erklärte sie Slimène. “Man kann wählen. Ich kann wählen. In meinem Utopia sind Frauen den Männern gleichgestellt, haben die gleichen Rechte und dieselbe Verantwortung für ihr Leben. Wie hat George Sand gesagt? Die Ehe ist die barbarischste Institution des Menschen.”
“Wer ist George Sand? Muss ich ihn kennen?” Slimène drehte Isabelle zu sich herum.
“George Sand ist eine Frau.” Isabelle lachte. “Eine Schriftstellerin.” Sie stieß ihn neckend in die Seite und lief zu ihrer Matte zurück.
Ramadan, der Fastenmonat, kam. Isabelle verbrachte diese Tage mit körperlicher Arbeit oder ritt zu den Scheichs, um sich mit ihnen zu unterhalten und ihre Artikel zu schreiben. Sie war dort beliebt, weil sie die arabische Sprache perfekt beherrschte, die Höflichkeitsriten einhielt und eine gepflegte Konversation zu führen wusste. Aber wann immer es möglich war, verbrachte sie ihre Zeit mit Slimène. Abends saßen sie auf der Terrasse des Hauses und bewunderten den Sonnenuntergang. Manchmal war er verschleiert und bleich, manchmal leuchtend wie ein Feuerwerk in Purpur, Orange, Violett und Rosa. Slimène hockte auf den Stufen, eine Zigarette zwischen den Fingern, und wartete auf den Augenblick, dass die Sonne verschwand, damit das Fasten ein Ende hatte und er wieder rauchen durfte. Die alte Khalifa wartet darauf, endlich ihre Pfeife mit Kef zu stopfen.
Isabelle lachte beide aus: “Nein, nein! Es ist noch nicht soweit. Das Minarett der Moschee schimmert noch rötlich von der Sonne. Seht nur!” Beide fluchten leise und blickten sie böse an.
Doch die Kolonialherren sahen es nicht gerne, dass sie, eine Europäerin, mit einem Muselmanen ohne Trauschein zusammenlebte.
“Mademoiselle”, General Dechizelle, Befehlshaber der französischen Armee in Batna, musterte Isabelle und klopfte mit einem Stift auf den Schreibtisch. “Ich kann nichts gegen Ihre Ausweisung machen.”
“Aber warum?”
Der General räusperte sich. “Sie werden beschuldigt, sich hier etabliert zu haben, als Mann verkleidet und unter dem Namen Mahmoud Saadi, um die Offiziere des arabischen Büros zu bespitzeln. Sie arbeiten für die Zeitschrift L’Aurore in Frankreich und geben Informationen weiter. Sie hätten sich an den Spahi-Sergeanten Slimène herangemacht, um ihn auszuhorchen.”
“Aber das ist doch Blödsinn, das wissen Sie genau. Ich liebe Slimène. Es ist richtig, dass ich Reiseberichte an L’Aurore schicke. Damit verdiene ich mein Geld. Ich bin Schriftstellerin. Slimènes Sold reicht bei weitem nicht aus, um uns zu ernähren. Aber mit Politik habe ich nichts im Sinn.” Isabelle kniff die Augen zusammen, auf ihrer Stirn bildeten sich Unmutsfalten.
Dechizelle räusperte sich erneut. “Ich habe offiziell mitgeteilt, dass mir, abgesehen von ihrem exzentrischem Verhalten und ihrer Kleidung, keinerlei Auffälligkeiten bekannt und Ihre Handlungen völlig korrekt seien.”
“Mein exzentrisches Verhalten und meine Kleidung? Ja, es ist richtig, ich ziehe Männerkleidung vor, aber nur, weil man darin besser reiten kann und sie mir in dieser Hitze Erleichterung verschafft.” Isabelle verschränkte die Arme vor der Brust.
“Sie sind Europäerin.”
“Und Sie meinen, ich sollte mich auch so kleiden? Haben Sie eine Ahnung, wie unbequem das ist? Ja, für die Schweiz oder Russland mag das angebracht sein, aber nicht hier in dieser Hitze.”
“Der anonyme Schreiber äußert weiterhin, dass Sie seiner Meinung nach nur nach El-Qued gekommen seien, um sich in einem Land, in dem sich nur wenige Europäer aufhalten, unbeobachtet ihren lasterhaften Neigungen und ihrem Hang zu den Eingeborenen hinzugeben.” Der General wischte sich den Schweiß von der Stirn.
“Lasterhafte Neigungen? Sie meinen, weil ich nicht verheiratet bin?” Isabelle stand auf und lief unruhig hin und her. “Ich kann mir denken, wer der Schreiber ist. Ein Konkurrent bei L’Aurore. Er hatte sich mir genähert, ich habe das in einem meiner Artikel erwähnt und ihn abgewiesen.”
Aber es half alles nichts. Slimène wurde in den Norden Algeriens versetzt und Isabelle ausgewiesen. Vor ihrer Abreise setzte sie ihren Fes auf und ging noch einmal auf die Straße hinaus. Sie genoss das arabische Straßenleben, die Frische der weißen Bögen der Häuser mit ihrem durchbrochenen Muster. Sie besuchte die Oase, wo das Wasser nach Jasmin schmeckte, sie genoss die Begegnung mit einem Greis in der Moschee, nahm ihre Mahlzeit an der Ecke der Straße ein, in der sie ihr Haus hatte.
Isabelle dachte an Slimène, der an die ewige Liebe glaubte. Wenn sie sich an seine Worte erinnerte, dann fühlte sie sich alt und um vieles überlegen. Was wusste er schon von der zivilisierten Welt. Mit Tränen in den Augen verkaufte Isabelle Souf, zog den Burnus aus und legte sich ein letztes Mal unter Palmen, bevor sie sich nach Marseille einschiffte.
Als Matrose verkleidet reiste sie vierter Klasse. In der zweiten Nacht tobte ein Gewitter. Sie konnte nicht schlafen, stand nachts an der Reling und schrie aufs unruhige Meer hinaus: “Ich werde mich nicht unterkriegen lassen! Ich komme wieder. Drei Dinge sind in mir stark: Mein Glaube, mein Stolz und meine Liebe!”
Nach ihrer Ankunft in Marseille nahm sie die Straßenbahn und schleppte sich dann mit ihrem Bündel Habseligkeiten zu Fuß zum Haus ihres Bruders. Sie klammerte sich in Gedanken an Slimène. Nur er hatte ihr das Gefühl von Harmonie und Geborgenheit gegeben, doch Slimène war weit weg.
Die stickige Marseiller Luft raubte ihr den Atem. Sie saß am Fenster, schaute auf das hektische Leben draußen und vermisste schmerzlich die Weite der Sahara. So schrieb sie Brief um Brief an Slimène und machte eine Eingabe nach der anderen an die Behörden. Nach einem halben Jahr hatte sie es geschafft: Slimène wurde nach Marseille versetzt.
An einem schwĂĽlheiĂźen Tag ging Isabelle zum Hafen und wartete auf das Schiff, das ihr den Geliebten bringen wĂĽrde.
“Ich habe mich entschlossen”, sagte Isabelle und hakte sich bei ihm unter. “Wir werden heiraten. Aber ich werde niemals eine Fatma werden, damit musst du dich abfinden.”
Isabelle hatte gesiegt, denn mit der Heirat erhielt sie automatisch die französische Staatsbürgerschaft und damit das Recht, in jedem französischen Hoheitsgebiet zu leben – auch in ihrer Sahara.
Obwohl Frankreich es aufgegeben hatte, sein nordafrikanisches Hoheitsgebiet vom Atlantik bis zum Roten Meer auszuweiten, bestand immer noch die Möglichkeit der Einverleibung Marokkos. Victor Barrucand, der nun auch eine Zeitung in Algier herausgab, unterbreitete Isabelle die Idee, in Kriegsgebiete zu reisen, um über die Scharmützel der Armee mit den rebellischen Stämmen zu berichten. Ihre Berichte sollten nicht nur in seiner Zeitung veröffentlicht werden, sondern auch in einem Buch.
„Muss das sein?“ Slimène sah Isabelle wütend an. „Es gehört sich nicht für die Frau eines Muselmanen, allein zu reisen.“
„Ich habe dir gesagt, dass ich nie eine Fatma werde. Schreiben ist meine Arbeit und ich verdiene mein Geld damit.“
Slimène wusste, dass er sie nicht halten konnte und schwieg. So gab er seine Stellung auf und ging zurück in seine Heimatstadt Algier.
Isabelle reiste in den Süd-Oran. In Ain Sefra besuchte sie die Militärunterkünfte und lernte Soldaten aller Nationalitäten kennen, die in der Fremdenlegion dienten. Besonders nahm sie sich der ausgemergelten und vom Malaria-Fieber geplagten Legionäre an und schrieb über deren Leid.
Sie schrieb über kalte Nächte, wo sie, eingerollt in ihrem Burnus mit der Gefahr des Krieges im Nacken, unter freien Himmel übernachtete. Sie schrieb über Eidechsen, über die Tränen und letzten Zuckungen eines sterbenden Kamels und über Schnee, der die Dünen und Berge um die Oasen bedeckte. Und sie schrieb über die Vergewaltigung und Entwürdigung einer alten Frau, die der Tod ihres Sohnes vor Jahren in den Wahnsinn getrieben hatte.
Doch dann erfasste sie das Malaria-Fieber, unter dem sie schon während ihrer ersten Reise mit ihrer Mutter gelitten hatte. Als sie nach Monaten der Abwesenheit nach Algier kam, stellte sie fest, dass Slimène eine Geliebte hatte.
“Oh Slimène, du warst meine einzige feste Bindung in diesem Leben. Ich weiß, deine kleine Liebste hatte nie Fieber, war immer da. Sie versteht es, in ihren Spiegel zu schauen, zu zwinkern und die Lippen zu schürzen. Wenn ihre Augen sich vor Ekstase schließen, glaube nicht, dass sie dich liebt. Es ist bloß ein oberflächliches Erschauern. Unsere Liebe dagegen war ein wahnsinniges Gefühl, ein heftiges Leiden.” Aber Slimène ging nicht zu Isabelle zurück.
Isabelle litt unter der Trennung und ihre Fieberanfälle häuften sich. Noch einmal fuhr sie mit Barrucand nach Ain Sefra und besuchten die Zeltlager der Krieger.
Als sie im Feuerschein unter den Nomaden standen, drehte sich Barrucand zu Isabelle um und frage sie: “Was machen Sie, eine Fremde in Algerien, unter all diesen Nomadenkriegern, wo Sie doch viel angenehmer leben könnten? Was zum Teufel hat sie in dieses Land gezogen?”
Sie lächelte. “Ich folge meiner Bestimmung.” Dabei schaute sie ihn nicht an, sondern beobachtete die Flammen des Lagerfeuers.
Aber das Fieber blieb und Isabelle beschloss, sich im Krankenhaus von Kenadsa behandeln zu lassen. “Um weitere Reisen zu machen”, schrieb sie an Barrucand. “Es gibt noch so viel für mich zu tun.”
Auch an Slimène schrieb sie: „Ich möchte dich noch einmal sehen, um Frieden zu schließen.“ Sie bat ihn, nach Kenadsa zu kommen. Slimène sagte zu und freudig erregt mietete Isabelle ein zerbröckelndes Lehmhaus an einem Wadi, einem ausgetrockneten Flussbett unterhalb von Ain Sefra. Sie hatte ihn acht Monate nicht gesehen.
Am Morgen seiner Ankunft verließ sie das Krankenhaus und bereitete alles für den Abend vor. Sie besorgte Kef und Anisette. „Was ist das Leben ohne Hoffnung?“, fragte sie den behandelnden Arzt, der sie nicht weglassen wollte. Isabelle hoffte.
Aber Slimène war gekommen, um sich endgültig von ihr zu trennen. Er hatte ein anderes Leben gefunden.
„Wie kannst du nur so selbstsüchtig sein und verlangen, dass ich mich über dein neues Glück freue? Du warst es doch, der an die ewige Liebe glaubte.“ Isabelle traten Tränen in die Augen. Sie goss ihr Glas voll und trank es in einem Zug leer, behielt es aber in der Hand. Melancholisch sprach sie weiter: „Ja, eines Tages trennen sich die Pfade. Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg... Doch mysteriöse Strömungen werden uns vorantreiben und unsere Seelen an unvorstellbare Ufer des Glücks bringen und uns wieder vereinen.“
Slimène stand auf und nahm ihr das Glas weg. „Du hast schon wieder zu viel getrunken.“
Plötzlich hörten sie ein Donnern, das schnell näher kam. Leute liefen an dem Haus vorbei und schrieen: “Das Wadi! Das Wadi!”
Slimène und Isabelle befanden sich im ersten Stock. Als sie die Fluten grollen hörten, zog er sie hoch und rannte mit ihr zur Stiege. Isabelle, noch vom Fieber geschwächt, schaffte es nicht. Sie verlor seine Hand und wurde von den ersten Wassermassen gegen die Wand geschmettert. Schützend legte sie noch ihre Hände an den Hinterkopf – und wurde ohnmächtig, als ein Balken sie traf. “Der Tod erschreckt mich nicht, ich möchte nur nicht unbeachtet sterben und vor allem nicht sinnlos.”
Slimène kam gegen die Wucht des Stromes nicht mehr an und wurde vorwärts getrieben. Das Wildwasser riss Bäume, Sträucher und Geröll mit sich. Die Fluten verschlangen in Sekunden den Ort. Slimène ergriff einen Ast und erreichte das Ufer.
Victor Barrucand besuchte Isabelles Grab auf den mit Pappeln bepflanzten Dünen des Friedhofs in Ain Sefra: “Hier ruhst du nun, meine Gefährtin und Freundin. So, wie du es immer wolltest: irgendwo im glühenden Sand der Wüste, weit fort von den entwürdigenden Banalitäten des vordringenden Abendlands. Im bitterkalten Wind, der zu dieser Jahreszeit über den Sand bläst, bin ich dir immer noch nah. Die Menschen denken, du bist tot, doch deine Gedanken leben in mir und werden ewig weiterleben.”
Anmerkung:
Victor Barrucand veröffentliche nach dem Tode Isabelle Eberhardt sowohl ihre Tagebücher als auch ihre Kurzgeschichten.
Von Isabelle Eberhardt sind „Sandmeere 1 und 2“, „Briefe an drei Männer“ erschienen.
Isabelle Eberhardt starb 1904 mit 27 Jahren. Ihr Leben war von vielen historischen Ereignissen geprägt: Russlands Aufbruch aus zaristischer Autokratie; die geistige Strömung des Nihilismus; die Entstehung einer entfremdeten modernen Sensibilität; der Zusammenprall von primitiver Weisheit und dem “Fortschritt” des zwanzigsten Jahrhunderts, von Islam und Christentum, von Atheismus und Religion, der gierigen kolonialen Besitzergreifung Frankreichs in Afrika. Viele dieser Punkte sind immer noch aktuell und gewinnen sogar noch immer mehr an Bedeutung.
Sie war eine außergewöhnliche Frau, die sich nie wie eine "normale" Frau benahm, wurde wegen ihres Lebensstils immer wieder scharf angegriffen.
Sie hatte sich fĂĽr das Nomadenleben entschieden und fand ihre Heimat in Ain Sefra in Algerien.
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