„Der Flug ZF 2149 von Isla Margarita, Venezuela, hat dreißig Minuten Verspätung“, gab die Stimme bekannt, die aus dem Lautsprecher auf dem Düsseldorfer Flughafen erklang.
Die Zeit reicht für eine Tasse Kaffee, dachte Christina.
Sie wartete auf die Ankuft ihrer Freundin Rosita.
Christina behielt den Informationsbildschirm im Auge. „Gelandet“ leuchtete hinter Rositas Flug auf. Christina trank den letzten Schuck Kaffee aus und ging schnellen Schrittes Richtung Ausgang B6.
„Hier bin ich!“, rief sie und winkte Rosita zu.
Braungebrannt kam die Freundin ihr entgegen. Mit einem freudigen Kuss auf die Wange begrüßten sie sich.
„Du siehst gut aus“, bemerkte Christina.
Rosita drehte sich einmal um die eigene Achse und machte zum Abschluss einen Knicks.
„Lass die Scherze! Erzähl lieber! Bleibst du jetzt für längere Zeit hier?“ Christina sah sie erwartungsvoll an.
Rosita schüttelte verneinend den Kopf.
„Schade. Ich hatte gehofft, du würdest langsam zum normalen Leben zurück finden.“
„Nein.“
„Ruf deine Mutter an. Ich musste ihr versprechen, dass du dich, sobald du gelandet bist, bei ihr meldest.“ Christina reichte Rosita auf dem Weg zum Parkhaus ihr Mobiltelefon, und sie wählte die Nummer der Eltern.
„Hallo Mutti, ich bin gut gelandet. Bis später, ich komme noch auf einen Sprung bei euch vorbei. Tschüss.“
Christina löste den Parkschein am Automaten. Sie gingen zum Auto, verstauten Rositas Gepäck im Kofferraum und fuhren schweigsam auf die Autobahn Richtung Köln. Hin und wieder warf Christina einen Blick auf Rosita.
„Es ist immer schön, bei meiner Rückkehr den Kölner Dom zu sehen“, sagte Rosita, als sie über die Rodenkirchener Brücke fuhren und somit den Rhein überquerten.
„Ich dachte du wärst eingeschlafen. Seit dem Flughafen hast du kein einziges Wort gesprochen.“
„Entschuldige. Ich kann mir vorstellen, wie gespannt du auf den Reisebericht bist. Eine traumhaft schöne Insel, die Bewohner hilfsbereit und freundlich. Stell dir vor, wie günstig alles ist. Ich habe für zwei Tassen Cappuccino und ein Teilchen nur 45 Cent bezahlt.“
„Dann wirst du wenig Geld ausgegeben haben.“ Christina lächelte zu ihr hinüber.
„Ich habe kaum etwas ausgegeben. Die Insel ist steuerfrei.“
„Rede nicht länger um den heißen Brei herum. Hat dir die Reise etwas gebracht?“ In Christinas Stimme schwang Erwartung mit.
„Nein.“
Christina musste sich sich mit der kurzen Antwort zufrieden geben. Sie hatte sich in den letzten Monaten daran gewöhnt. Damit war alles gesagt. In ein paar Tagen würde Rosita ihr die Urlaubsfotos zeigen, und der nächste Flug wäre bereits gebucht.
„Sind meine Eltern eigentlich sehr beunruhigt, wenn ich weg bin?“, fragte Rosita und holte Christina aus ihren Gedanken zurück in die Wirklichkeit.
„Sie haben Angst dich zu verlieren.“
„Das ist doch Quatsch! Es ist nur ... , ich komme mir vor, als würde ich nach etwas Bestimmtem suchen.“
„Und wenn du es gefunden hast, was dann?“, fragte Christina.
„Nichts und dann! Ach, ich weiß auch nicht, warum ich mir das antue, es ist wie eine Sucht. Eigentlich müsste ich in meinem Alter vernüftig sein, einem Job nachgehen und nicht in der Weltgeschichte herumreisen, oder?“
„Gibt es fürs Vernünftigsein eine Altersgrenze? Schau, dein Vater wartet am Gartentor auf dich.“
Rosita atmete tief durch. Sie würde sich den Fragen der Eltern stellen müssen, die nach jeder Reise hofften, dass sie wieder ein geregeltes Leben führen würde. Wie sollte sie ihnen ihr Verlangen nach dem Kennenlernen, Erforschen von anderen Ländern plausibel machen, wenn sie es selbst nicht verstand. Etwas war in ihrem Inneren, das sie förmlich dazu zwang. In den achtundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie die innere Unruhe gut unter Kontrolle halten können und sie vor den Eltern nicht aufkommen lassen. Das Einzige, was sie mit Bestimmheit
wusste -: es zog sie magisch zu Inseln hin. Sechs Wochen Urlaub im Jahr auf einer europäischen Insel, das hatte ihr früher gereicht, um für kurze Zeit diese Unruhe zu stillen. Mehr konnte sie sich von ihrem Verdienst nicht leisten. Sie träumte von mehrwöchigen Aufenthalten in der Karibik. Unerwartet hatte Rosita vor einem Jahr einen größeren Geldbetrag von ihrem Patenonkel geerbt. Kurzentschlossen kündigte sie ihre Arbeitsstelle und begab sich auf Entdeckungsreisen. Durch das Testament des Onkels öffneten sich die Schleusen - und das Verlangen, in die Karibik zu fliegen war nicht mehr zu bändigen. Jamaika, die Dominikanische Republik, San Andreas, die Bahamas, Barbados, Isla Margarita hatte sie seitdem besucht und buchte sofort nach ihrer Rückkehr einen weiteren Flug.
„Als ich aus dem Flugzeug stieg, spürte ich ein Kribbeln im Bauch. Ich schob es gedanklich beiseite und dachte, der lange Flug wäre schuld daran. Du weißt, ich hatte wegen der politischen Verhältnisse auf Kuba zum ersten Mal eine Vertrauensreise gebucht und wusste nicht, in welchem Hotel sie mich unterbringen würden. Traumhaft schön habe ich es angetroffen. Meine Unterkunft war ein umgebautes amerikanisches Herrenhaus aus der Vorkriegszeit. Der kilometerlange, weiße Palmenstrand lag direkt vor der Tür. Türkisblau hieß mich das Meer willkommen und ständig überzog mich eine Gänsehaut, und dieses Kribbeln im Bauch verstärkte sich.“
„Deine Augen glitzern wie nie!“, bemerkte Christina.
„Auf den Fahrten ins Landesinnere, die vom Veranstalter mit einem klapprigen VW-Bus organisiert wurden, verstärkte sich das Gefühl. Die Landschaft wirkte berauschend auf mich. Oft hatte ich Tränen der Freude in den Augen. Allerdings stimmten mich die langen Warteschlangen der Bewohner vor Lebensmittelgeschäften oder an den Bushaltestellen traurig. Meine Gefühle schwankten von himmhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Ich verstehe nicht, was in mir vor ging. Ich fühlte mich hin- und hergerissen.“
„Die Worte sprudeln förmlich aus dir heraus ... “, sagte Christina.
„Unterbrich mich nicht! Während des Ausflugs nach Havana hatten wir Gelegenheit, die Stadt auf eigene Faust zu erkunden. Du weißt, wie gerne ich alleine einen unbekannten Ort durchstreife. Nach einigen Stunden verspürte ich Hunger, kehrte in einer kleinen Kneipe ein und bestellte mir das Tagesgericht, welches aus einer schwarzen Bohnensuppe bestand. Sie schmeckte mir, als hätte ich noch nie etwas Köstlicheres in meinem Leben gegessen. Die Wände der Gaststätte waren bis unter die Decke mit Namen versehen. Ich beobachtete, wie Besucher Sprüche auf die Wände schrieben. Ein junger Mann setzte sich ohne zu fragen auf den freien Platz an meinem Tisch und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir von der Insel und dass wir uns in der Stammgaststätte des berühmten Schriftstellers Ernest Hemingway befanden. Der Nachmittag wurde zu einem einmaligen Erlebnis, und kurz bevor ich mich verabschiedete, hinterließ ich meinen Namenszug auf der Wand.“
„War der Mann nett, hübsch? Hat er dir gefallen?“
„Christina, der Mann war mir doch egal. Höre mir lieber weiter zu. Ich ging zurück zu unserem Treffpunkt. Wir fuhren ins Havana Hotel, dort waren Hotelzimmer für uns gebucht, in denen wir uns umkleiden konnten, um am Abend die karibische Tanzshow mitzuerleben.“
„Genau das Richtige für dich, tausende von Touristen auf einen Schlag?“, stichelte Christina.
„Du hast Recht, aber ich habe es kaum gemerkt, dass sich so viele Menschen im Raum befanden, weil die Show sich um uns herum abspielte. Wir saßen im Grunde mitten im Geschehen. In rasender Geschwindigkeit wechselten die Tänzer, Kleider und Bühnenbilder. Ich fühlte mich, als wäre ich eine der Tänzerinnen. Die trommelnden Rhythmen zogen mich magisch in ihren Bann. Nach drei Stunden, als die letzte Tanzgruppe die Bühne verließ und das Licht im Zuschauerraum erleuchtete, brauchte ich lange, bis ich mich von dem Erlebten lösen konnte. Ach Christina, dreh’ ich jetzt total ab?“
„Ich bin sprachlos. So viele Worte hattest du noch nie für deine Auslandsaufenthalte übrig. Deine Augen sprühen vor Glück, als hättest du etwas Unglaubliches erlebt.“
„Ich bin wie berauscht von diesem Land. Die politische Situation siehst du zwar an allen Straßenecken, doch ... . Ich weiß nicht, es ist das Kribbeln, dieses Gefühl, als wenn ich etwas gesucht und gefunden hätte. Aber was?“
„Und nun?“, fragte Christina.
„Komm, wir fahren. Meine Eltern warten bestimmt ungeduldig auf mich, sie hatten mir von dieser Reise abgeraten. Wie ging es meinen alten Herrschaften während meiner Abwesenheit?“
„Sie waren ziemlich beunruhigt.“
„Ach, wie immer!“ Rosita lächelte.
„Dieses Mal war es viel schlimmer. Sie haben mich fast täglich angerufen und gefragt, ob du dich gemeldet hättest.“
„Sie sind eben nicht mehr die Jüngsten“, sagte Rosita beiläufig.
Sie bezahlten und verließen das Flughafengebäude.
„Christina?“, fragte Rosita und berühte sie leicht am Arm. Die Freundin drehte sich zu ihr um.
„Wenn ich das Gefühl beschreiben sollte - es war, als wäre ich nach Hause gekommen.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen, oder? Hier ist dein Zuhause!“
Als sie in Rositas Augen sah, wusste sie, dass ihre Freundin es Ernst gemeint hatte. Ohne weitere Worte gingen sie zum Auto.
Auf der Fahrt nach Köln sah Christina eine veränderte Freundin neben sich sitzen, sie hörte nicht auf zu erzählen. Als sie über die Rheinbrücke fuhren, kurbelte Rosita das Fenster herunter.
„Hey Kölner Dom, alles klar?“ Sie winkte ihm zu und Christina lächtelte über Rosita.
Aus der Ferne konnten die Freundinnen erkennen, dass Rositas Eltern am Gartentor auf sie warteten. Christina setzte sie bei ihren Eltern ab. Rosita fiel der Mutter um den Hals und drehte sich tanzend mit ihr im Kreis. Den Vater drückte sie herzlich an sich.
„Du hast dich ja noch nie so gefreut uns wiederzusehen“, sagte die Mutter erstaunt.
Rosita machte es sich mit den Eltern im Wohnzimmer bequem und erzählte von der eindrucksvollen Reise. Zum ersten Mal sprach sie mit den Eltern über ihre innere Unruhe und dass sie sich auf Kuba wie Zuhause gefühlt hatte. Eine unheimliche Stille breitete sich im Zimmer aus. Ihr Vater stand auf, vergrub die Hände tief in den Hosentaschen und ging im Zimmer auf und ab.
„Setz dich Peter, du machst mich ganz nervös“, sagte Hilde.
Peter sah seiner Frau tief in die Augen.
„Es ist an der Zeit, erzähl ihr endlich ... .“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Peter!“, rief Hilde entsetzt.
„Ist etwas passiert?“ Rosita sah ihre Eltern ängstlich an.
Die Mutter senkte den Blick zum Boden.
„Mutti, was ist los?“
Peter stellte sich hinter seine Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter. Hilde umschloss sie fest mit der ihrigen. Sie wurde bleich im Gesicht, ihr Herz schlug schneller und Tränen glitzerten in den Augen. Rosita sprang vom Sessel auf und rüttelte die Mutter an den Armen.
„Mutti, bitte sprich.“ Hilfesuchend sah sie den Vater an.
„Es fällt mir nicht leicht darüber zu sprechen.“
„Um Himmelswillen, Mutti bist du krank?“
Bevor die Mutter anfing zu sprechen, atmete sie tief durch ohne Rosita dabei anzusehen.
„Wir waren vor vielen Jahren auf Kuba.“
„Ihr?“
Der Vater nickte zustimmend.
„Wieso habt ihr mir nie davon erzählt? Ich dachte, ihr wäret niemals über die Grenzen von Europa hinaus gekommen.“ Sie setzte sich wieder in den Sessel.
„Das ist eine lange Geschichte. Es war vor achtundzwanzig Jahren. Wir haben in einer kleinen Pension am Stadtrand von Havana gewohnt. Dein Vater hatte sich entschlossen, ein Jahr im Universitätskrankenhaus zu absolvieren.“
„Warum auf Kuba?“
„Wir waren jung und wollten etwas erleben. Frag jetzt nicht weiter, lass deine Mutter erzählen.“
„Nicht weit von der Unterkunft entfernt lag eine Siedlung der Einheimischen. Ihre Häuser, nun - eher Baracken, waren aus gewelltem Blech gebaut. Sie lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen. An einem späten Nachmittag führte uns der Weg an ihren Unterkünften vorbei. Es herrschte kaum Verkehr. Nicht weit von uns entfernt lief eine junge Frau über die Straße, ohne das heranfahrende Auto zu bemerken und wurde von ihm erfasst. Sie stürzte zu Boden. Dein Vater lief zu ihr, kniete sich nieder und versuchte herauszufinden, ob sie verletzt war.“
„Einmal Arzt, immer Arzt“, unterbrach Rosita die Mutter und blinzelte dem Vater zu.
„Sie hatte Glück gehabt und kam mit ein paar Schrammen an den Beinen und Armen davon“, sagte Peter.
„Wir halfen ihr aufzustehen und begleiteten sie zu ihrem Haus.“
„So einfach war das nicht, Hilde. Sie hatte uns gesagt, sie bräuchte keine Hilfe und könnte alleine gehen.“
„Das stimmt, doch du wolltest sie nach Hause bringen.“
„Um Vertrauen zu gewinnen, nannte ich unsere Namen und fragte sie nach ihrem. Ich dachte, vielleicht lässt sie sich dann helfen. Sie hieß Usue“, sagte der Vater.
„Ein ziemlich ausgefallener Name. Was für ein Glück, dass du nicht nur ein guter Frauenarzt, sondern auch ein Sprachgenie bist. Die Geschichte ist spannend. Es wundert mich, warum ihr mir nie davon erzählt habt.“ Lächelnd schaute Rosita ihre Eltern an.
„Den Grund wirst du nun erfahren und ich hoffe, du kannst uns verzeihen.“ Der Vater sah Rosita ängstlich in die Augen.
„Nachdem Usue sich erst gegen unsere Hilfe gesträubt hatte, fasste sie im weiteren Verlauf unseres Aufenthaltes ziemlich schnell Vertrauen zu uns. Hin und wieder gingen wir an ihrem Haus vorbei. Aus dem Inneren drangen weinende Stimmen von Kindern zu uns. Sie hatte vier Kindern das Leben geschenkt. Wir machten es uns zur Gewohnheit, sie zu besuchen und sie mit Lebensmitteln, an die wir einfacher kamen, zu versorgen. Ihr Ehemann war drei Monate zuvor verstorben.“
„Da hatte Usue es nicht leicht. Ich habe die Umstände auf Kuba gesehen. Wie lange wart ihr auf der Insel?“, fragte Rosita.
„Dreizehn Monate“, antwortete Peter.
„So lange - und das habt ihr vor mir verheimlicht?“
„Bitte, lass mich weiter erzählen. Usue war im vierten Monat schwanger, als wir sie kennen lernten. Kurz vor unserer Rückkehr nach Deutschland gebar sie eine Tochter. Dein Vater half ihr bei der Geburt.“
„Du bist echt klasse, Papa! Ich denke, das war bei den damaligen Verhältnissen nicht einfach, einer Einheimischen zu helfen, oder?“
„Das spielt jetzt keine Rolle.“ In seiner Stimme schwang Angst mit.
„Verstehst du, was wir dir damit sagen wollen?“, fragte die Mutter und sah Rosita hilfesuchend an.
„Was ist daran nicht zu verstehen?“
„Peter, ich kann nicht.“ Die Mutter stand auf und drehte sich zu ihrem Mann um. Er stellte sich neben Hilde und legte den Arm schützend um sie.
„Ihr macht einen Gesichtsausdruck, als wäre jemand gestorben. Was habt ihr?“ Rosita stand von ihrem Sessel auf, weil die Eltern sie nervös machten.
„Du bist Usues Tochter!“
„Was?“, schrie Rosita und fiel zurück in den Sessel.
Mit weitaufgerissenen Augen sah sie die Eltern ungläubig an. Die Mutter ging auf sie zu, umfasste Rositas Hände und ließ den Tränen freien Lauf.
„Ich bin was ... ?“ Rositas Stimme hatte an Kraft verloren.
„Usue hat dich in unsere Hände gelegt, und wir haben dich damals mitgenommen. Du siehst ihr sehr ähnlich“, sagte die Mutter.
„Aber meine Hautfarbe ... !“
„Usue gehörte zu den weißen Bewohnern der Insel. Durch den Verlust ihres Ehemannes war sie gezwungen, in ärmlicheren Verhältnissen zu leben.“
„Wie konntet ihr mich aus dem Land bringen?“
„Bitte, bitte frag jetzt nicht, wie wir das geschafft haben. Ich war Frauenarzt, hatte Beziehungen, wir waren nicht unvermögend ... , das können wir dir alles später erzählen.“
„Aber ... .“
„Usue bat uns, dir ein besseres Leben zu ermöglichen, was sie dir hätte nicht bieten können. Wir hatten uns schon länger ein Kind gewünscht.“
„Ich bin gar nicht in Deutschland geboren? Aber das steht doch in meiner Geburtsurkunde!“ Rosita weinte.
„Wir haben ... , naja, es gab dort Wege ... , verstehst du? Bitte frag nicht weiter“, sagte der Vater.
„Dann ist Kuba meine eigentliche Heimat?“ Rosita wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Das Gespräch dauerte bis tief in die Nacht, und Rositas Fragen fanden kein Ende. Sie wollte verstehen und begreifen. Die Mutter berichtete von der damaligen Zeit und zeigte Fotos, die sie in einem Karton in der hintersten Ecke des Kleiderschrankes versteckt gehalten hatte.
„Ist das Usue?“ Rosita hielt die Aufnahme einer jungen hübschen Frau in der Hand.
„Ja, das ist deine leibliche Mutter“, gab Hilde zur Antwort. Rosita spürte, wie schwer ihr diese Worte fielen, und strich der Mutter sanft über die Hand.
„Wisst ihr, wo sie ist?“
„Wir hatten brieflichen Kontakt, der nach acht Jahren abbrach. In ihrem letzten Brief steht, dass sie in eine neue Unterkunft, nach Varadero, übersiedeln wollte. Unsere Versuche, sie ausfindig zu machen blieben ohne Erfolg. Rosita - wir wollten es dir schon lange sagen, aber als wir den Kontakt verloren hatten, schoben wir es immer vor uns her und verdrängten es später ganz.“
Die Eltern hatten Mühe, mit der neuen Situation umzugehen, alte Ängste kamen auf. Rosita zeigte viel Verständnis für die Eltern und spürte, die innere Unruhe hatte ihre Ursache gefunden. Rositia fragte sich oft, wohin sie gehören würde und wo ihre eigentliche Heimat war.
Zwei Wochen später saß sie neben Christina im Auto, auf dem Weg zum Flughafen. Das Ticket nach Varadero steckte in ihrem Rucksack.
„Bist du aufgeregt?“, fragte Christina.
„Ja, aber freudig. Stell dir vor, ich werde Usue und meine Geschwister finden, und wir werden eine glückliche Zeit miteinander verbringen. Meine Eltern werden mich bei der nächsten Reise begleiten, damit wir wie eine große Familie sind.“
„Ich möchte deine Euphorie nicht stören, doch hast du einmal darüber nachgedacht, wie Usue empfinden könnte?“
Christina hatte dies kaum ausgesprochen, schon bereute sie ihre Worte. Für einen Rückzug war es zu spät.
„Sie wird sich freuen, denke ich,“ sagte Rosita nach einer kurzen Denkpause.
„Kann es sein, dass du nicht zurück kommst?“, fragte Christina ängstlich.
„Das glaube ich nicht“, antwortete Rosita mit leiser Stimme.
Als sie über die Rheinbrücke fuhren, kurbelte Rosita das Fenster herunter.
„Hey Kölner Dom! Bis bald!“, rief sie in den rauen Wind.
„Bist du dir da ganz sicher?“, fragte Christina.
„Meine Wiege stand in Köln. Ich finde Usue und werde sehen, wo meine wahren Wurzeln sind. Mein Visum ist für drei Monate, wenn ich zurück komme, dann ziehen wir beide durch die Kölner Altstadt. Abgemacht?“
Christina nickte ihrer Freundin zu. Die restlichen Kilometer legten sie schweigsam zurück. Beide waren in ihre Gedanken versunken. Am Flughafen angekommen, parkten sie und gingen zum Schalter 171.
„Check du ein, ich gehe schnell für kleine Mädchen“, sagte Christina.
„Schau dir an, wie viele vor mir dran sind, du kannst dir ruhig Zeit lassen.“
„Dann kaufe ich dir noch die Brigitte am Zeitungsstand“, rief Christina ihr zu.
Rositia nickte und zog das Ticket aus dem Rucksack. Sie sah es an, als hätte sie vorher noch nie einen Flugschein in der Hand gehalten.
„Du stehst ja immer noch da, wo ich dich zurückgelassen habe.“ Christiana schob die Zeitschrift in den Rucksack.
„Mir sind deine letzten Worte durch den Kopf gegangen.“
„Wegen der Brigitte?“
„Wegen Usue.“
„Und?“
„Ich habe gesehen, wie ärmlich die Einheimischen auf der Insel leben, doch sie waren stolz, und kaum einer sah unzufrieden aus. Wie wird Usue reagieren, wenn ich plötzlich in ihr Leben eindringe? Was ist, wenn Usue glücklich ist, weil sie weiß, dass eines ihrer Kinder ein besseres Leben führen kann? Wie werden meine Geschwister reagieren?“
„Das fällt dir jetzt erst ein? Hast du dir darüber vorher keine Gedanken gemacht?“, fragte Christina.
„Ich habe plötzlich Angst. Die ganze Zeit hatte ich es nur aus meiner Sicht gesehen, weil ich die Insel in mein Herz geschlossen hatte. Dazu kommt, dass ich zum ersten Mal seit Jahren diese Ruhe in mir fühle, das Gesuchte gefunden zu haben.“
„Höre auf dein Gefühl, und alles wird gut. Es wird Zeit für dich, es stehen nur noch wenige Personen am Schalter.“ Christina ging zum Koffer und wollte ihn gerade hochheben, als Rosita sie davon abhielt.
„Ich fliege nicht.“ Sie blickte Christina in die Augen, die sie mit entgeistertem Gesichtsausdruck ansah.
„Bist du dir da ganz sicher?“
„Es ist besser so.“
Beunruhig und erleichert zugleich drückte Christina ihre Freundin an sich.
„Da wird sich der Dom aber freuen“, sagte Rosita und trug den Koffer in Richtung Parkhaus.
„Altstadtbummel?“, fragte Christina mit heiterer Stimme.
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