Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Die Berliner Mauer ist gefallen. Wer hätte das zu hoffen gewagt! Achtunddreißig Jahre waren lang für meine Sehnsucht nach einem Stück Heimat meiner Kindheit, die für mich in dieser Zeit verschlossen war. Damals war ich jung gewesen, jetzt ist mehr als mein halbes Leben vergangen.
Bald bin ich am Ziel meiner Fahrt. Fest halte ich das Lenkrad meines Autos umfasst. Schon sehe ich Kiefernwälder und märkischen Sand neben der Autobahn. Die Spannung steigt in mir mit jedem Kilometer, den ich dem Stückchen Erde näher komme, dem meine Sehnsucht gegolten hat. Es sind genau eintausend Quadratmeter, der Garten mit dem Sommerhaus meiner Großeltern, in einem Vorort von Berlin.
Eigentlich war ich in meiner Kindheit in Berlin, später Westberlin, zu Hause gewesen, aber Großmutter und dieses Wochenendhäuschen im Umland der Stadt waren damals der Mittelpunkt für die ganze Familie. Fast jedes Wochenende im Sommer trafen wir hier zusammen, in diesem Ort an der Spree zwischen Moor, Heide, sandiger Brache, Feldern, Wiesen und vor schier unendlich sich dehnenden Kiefernwäldern.
Im Mai, wenn es warm wurde, dann schlossen meine Großeltern ihre Stadtwohnung ab und zogen in ihr Sommerhaus. Schon an dem nächsten Wochenende fanden sich alle andern ein. Wie liebte ich es, dort Jahr für Jahr die Ferien mit meinem Bruder und meinen Cousinen zu verbringen. Wie spannend war es dann, wenn meine Eltern, Tanten und Onkel’ aus der Stadt kamen, wenn wir oben in den Mansarden eng beieinander übernachteten. War das ein Lachen und Erzählen, bis Großmutter von unten manchmal an die Decke klopfte. Wir Kinder spielten gegenüber dem Grundstück auf der Brache, im Wald, fuhren mit dem Fahrrad umher oder gingen an die Spree zum Baden.
Als ich größer geworden war, hatte ich hier auch meine erste Liebe gefunden. Was hat mich mein großer Bruder damit gehänselt und Großmutter höllisch aufgepasst, dass ich mich nicht allzu lange mit dem Jungen herumtreiben konnte. Franz hieß er. Ich liebte ihn, wie man nur lieben kann, wenn man jung ist. Da fragt man nach nichts. Ich, als Westberlinerin, hatte mich nicht daran gestört, dass er voller Stolz das blaue Hemd der FDJ trug, dass er an die Arbeiterbewegung glaubte und sich dafür einsetzte. Wenn es wirklich einmal fast dazu kam, dass unsere unterschiedlichen Meinungen aufeinander prallten, dann lachten wir einfach und nahmen uns in die Arme. War es wichtig, was einmal sein würde? Was wir heute oder morgen zusammen machen, wo wir mit den Rädern hinfahren, dass wir uns in die Heide legen und küssen konnten, das war wichtig. Mehr, nein, mehr war zwischen uns nicht. In jener Zeit ging man so leicht nicht weiter in einer Beziehung. Aber eins wussten wir ganz genau, egal wie es mit dem kalten Krieg zwischen Ost und West weitergehen sollte, wir wollten zusammenbleiben. Ob das nun in Westberlin oder in der DDR sein würde, die Frage stellten wir uns nicht.
Und dann kam der Tag, der all unsere Wünsche zerstört hatte. Pfingsten 1952, bei schönstem Wetter war die Familie wieder bei Großmutter auf dem Grundstück versammelt. Sie kochte gerade für alle eine große Kanne Muckefuck, wie wir den Malzkaffee nannten, da kam der Nachbar an den Zaun gelaufen. Durchs Radio hatte er es gehört, die DDR- Regierung sperrte für alle Westberliner die Grenzen zur DDR ab. Nur nach Ostberlin konnten wir in Zukunft von Westberlin aus noch gelangen, nie über Berlin hinaus in das Umland. Ich hatte gerade Gladiolenknollen in die Erde gepflanzt. Ich sollte sie nie blühen sehen. Voller Panik packten wir unsere Sachen und fuhren zurück in die Stadt, ehe die Grenzen ganz geschlossen wurden.
Mit Franz hatte ich mich noch ein paar Mal in Ostberlin getroffen. Bald erzählte er mir, dass uns das Häuschen nicht mehr gehörte. Er war begeistert davon, dass nun alles in den Besitz des Volkes der DDR überging; er fand jeden Privatbesitz ungerecht. So konnte er wohl nicht verstehen, wie weh mir das tat. Bald hatten wir uns immer weniger zu sagen. Es bedurfte keines Abschieds, es war einfach zu Ende und wir gingen unserer Wege.
Was ist aus ihm geworden? Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört. Ob er noch dort wohnt? Ob ich ihn heute wiedersehen werde?
Schon verlasse ich die Autobahn, fahre durch den Wald, in dem ich fast jeden Weg gekannt habe. Da vorne rechts waren die besten Blaubeerfelder gewesen. Aber was war das? An der Chaussee entlang steht ein Zaun, „Sperrgebiet“ warnen Schilder. Etwas ehemals Militärisches der DDR? Und da links, dort war doch immer die Schlucht gewesen, in der wir im Frühjahr die Maien geschnitten und im Herbst blühende Erika geholt haben, das war nun eine Mülldeponie. Etwas Beklemmendes legt sich mir um die Brust.
Ich verlasse den Wald, fahre die Chaussee auf den Ort zu. Wie schön, links und rechts stehen noch die alten Linden. Sie blühen gerade. Tief atme ich den süßen Duft, wie nach Honig, durchs offene Fenster ein. Wie oft habe ich davon geträumt, diese Chaussee entlangzufahren, heimzukommen an den schönsten Platz meiner Kindheit, der für mich Sicherheit und Geborgenheit in schweren Zeiten mit Bombennächten in der Stadt bedeutete. Hier bin ich auch zum letzten Mal mit meinem großen Bruder zum S-Bahnhof gegangen, vier Kilometer weit bis zum nächsten Ort, ehe er zurück an die Front musste. Von der Zukunft nach dem Krieg haben wir dabei gesprochen, die es für ihn nicht mehr geben sollte. Er ist nicht zurückgekehrt.
Ich erreiche den Ort. Mein Herz klopft. Wie wird es sein, wenn ich vor Großmutters Häuschen stehe, das der ganze Stolz ihres Lebens gewesen war? Ich weiß, niemand wohnt mehr darin. Wie oft bin ich diese Straße in den Ort hineingelaufen. Ich fahre langsam. Alles scheint wie damals zu sein, Asphalt auf der Fahrbahn und daneben loser oder festgetretener märkischer Sand. Es ist, als sei die Zeit hier stehen geblieben. Auch das erste Haus, an dem ich vorbeifahre, sieht aus wie früher, es hat dem angesehenen „Herrn Doktor“, wie wir gesagt haben, gehört. Aber all die andern Häuser! Sie wirken vernachlässigt, nirgendwo ein frischer Anstrich. Ziegel, die irgendwann von den Dächern der Stallungen heruntergefallen sind, liegen noch da, wo sie heruntergekamen.
Gleich, nur noch um die nächste Ecke, dann wird mir das rote Dach von Großmutters kleinem Sommerhäuschen entgegenleuchten. Großvater und sie sind schon lange tot. Sie haben es nie wiedergesehen. Aber warum sehe ich es nicht, warum nicht den grünen Zaun? Habe ich nach so vielen Jahren eine falsche Erinnerung daran? Da vorne rechts ist eine Schule und dahinter Wald. Das gab es unserem Grundstück gegenüber nicht. Dort war die Brache gewesen, auf der man sich bei glühendem Sonnenschein die Fußsohlen verbrennen konnte oder, wenn ein heftiger Wind darüber ging, feiner Sand herübergeblasen wurde, der uns ins Gesicht stach. Die Brache gibt es nicht mehr und gegenüber der Schule ist das, was ich suche.
Ich bin am Ziel meiner Sehnsucht angekommen. Ich bin nicht darauf vorbereitet, was ich vorfinde. Kein rotes Dach mehr, es ist schwarz, die Dachpappe teilweise in Fetzen, nur noch ein Stück verrosteter Zaun, verwilderte Fliederhecken dahinter. Die weiße Veranda ist noch da, in der ich zitternd mit den andern eng beieinander gesessen hatte, wenn ein heftiges Gewitter mit seinen Blitzen die Nacht erleuchtete. Großmutter duldete es nicht, wenn auch nur einer dabei oben in den Mansarden bleiben wollte. Bei dem ersten Grollen polterte sie mit ihren Holzpantinen die Treppe zu den Mansarden hoch und donnerte an die Tür, dass alle erwachten. Und nicht nur wir Kinder, brav folgten auch Eltern, Tanten und Onkel’ ihrer Aufforderung. Wir zählten wie lange es vom Blitz bis zum Donner dauerte. Beruhigten uns, wenn das Gewitter noch weit weg war. Aber wenn Blitz und Donner zugleich kamen, es vielleicht irgendwo eingeschlagen hatte, dann wäre ich am liebsten unter den Tisch gekrochen. Wie prasselte der Regen auf das Dach, wie peitschte Sturm die Äste der beiden Fliederbäume, die links und rechts der Veranda standen, gegen die Fensterscheiben. Diese Fliederbäume sind noch da, knorrig, mit langen Ästen. Doch oben bei den Mansarden sind leere Fensterhöhlen und der Garten steht voller hochgewachsenem Gras und Gestrüpp. Es tut weh, alles so zu sehen.
Ich steige aus und bahne mir einen Weg in den Garten. Hier haben einmal die Pflaumen- und Kirschbäume gestanden. Nichts mehr davon. Großvaters Schuppen, in dem er seine Werkbank stehen hatte, darüber sauber geordnet das Werkzeug an der Wand, ist eingefallen. Einmal war hier auch für vier kleine Entchen einen Sommer lang der Stall gewesen. Großmutter hatte sie von einer Bauerin geholt. Es war Krieg, Lebensmittel knapp, im Herbst sollte ein Festessen davon für die ganze Familie stattfinden. – So hatten es alle beschlossenen! Aber die Enten bekamen Namen und die Schwächste von ihnen, die Piepsliese, die immer laut jammernd den andern hinterherlief, war bald der Liebling von allen geworden. Als der Herbst herankam, da sagte der Erste. „Also ihr könnt sie ja essen, aber ohne mich.“ Auch der Zweite schloss sich dem bald an. Niemand wollte am Ende eine dieser Enten, an denen jeder in der Familie für einige Monate Freude gehabt hatte, gebraten auf dem Tisch sehen. Ehe Großmutter und Großvater zum Winter zurück in die Stadt zogen, gaben sie die Enten der Bäuerin zurück. Wer weiß, wer die dann gegessen hat. Wir nicht! Und das in einer Zeit der Lebensmittelkarten, wo sich jeder sehr einschränken musste.
Nun gibt es auch diesen Schuppen nicht mehr. Seine Bretter liegen vor mir so, wie sie zusammengefallen sind, und werden schon überwuchert.
Wie viel Erinnerung hier mit jedem Platz verbunden ist. Ich stehe vor der Treppe außen am Haus zu den Mansarden hoch. Sie ist auch noch da, aber ihre Stufen sind zerbrochen. Wie oft haben wir alle in den Nächten bei Bombenalarm auf ihren Stufen gesessen und zum Himmel über Berlin geschaut, wenn er sich rot nach dem Abwurf der Bomben färbte. Mit Bangen, ob wir unser Zuhause noch vorfinden werden, sind wir dann am Sonntagabend nach so einem Wochenende zurück in die Stadt gefahren. Wie lange das alles schon her ist.
Ich setze mich auf eine Bank, die unter dem Nussbaum steht. Hier hat der Tisch gestanden, um den wir uns damals alle versammelten. Wie alt ist dieser Baum? Großvater hat ihn aus einer Walnuss gezogen, die doppelt so groß war wie üblich. Das muss so um 1912 gewesen sein. Niemand sonst hatte so große Nüsse gehabt. Was haben wir um diesen Baum gekämpft, als er nach einem Winter beinahe eingegangen wäre, nur noch ein Ast war grün geworden. Wir haben es geschafft. Alles hat er überstanden und der Wind rauscht über mir in seiner kräftigen Krone. Ich stehe auf, lege meine Hand an seinen Stamm, er ist mir vertraut. Ich möchte das Gefühl haben, heimgekommen zu sein, aber ich stehe mit meinen Füßen auf Heimatboden und doch bleibt mir dieses alles hier so fremd. Die Zeit ist vorübergegangen und andere nach uns, denen das Stückchen Erde, der Ort und das Land Heimat gewesen ist, haben hier ihre Spuren hinterlassen.
Die alten Nachbarn gibt es auch nicht mehr. In dem Haus nebenan geht die Tür auf. Ein Mann tritt heraus, schaut misstrauisch zu mir herüber. „Was suche Sie da!“, ruft er.
„Die Vergangenheit!“, antworte ich ihm. Nichts sonst.
Ich gehe, steige ins Auto und fahre zurück in den Ort. Die Vergangenheit! Ja, ich will noch versuchen zu erfahren, was aus Franz geworden ist. Ich finde das Haus seiner Eltern. Eine alte Frau sitzt vor der Tür auf einer Bank. Gleichgültig schaut sie mir entgegen, als ich an den Zaun trete. Doch als ich den Namen von Franz nenne, spüre ich Misstrauen und Ablehnung bei ihr. „Der ist weg“, sagt sie nur.
Ich dränge: „Wohin?“
Sie brummt etwas vor sich hin.
„Wie, bitte?“ Ich lasse nicht locker.
Da bricht es bitter aus ihr heraus: „Das weiß keiner! Ist gut, dass der weg ist! Dem weint niemand eine Träne nach, so, wie der sich hier aufgeführt hat. Was haben sie denn mit dem zu schaffen?“, will sie noch wissen.
Ich murmele etwas von Kindheit und so ..., wende mich ab und fahre weiter. Franz hatte sich also nie geändert, er hat für seine Ideale gelebt, hat an das geglaubt, was man ihm sagte, vielleicht sogar Unrecht dadurch getan. Es ist nicht an mir, darüber zu urteilen. Alles ist ja Vergangenheit.
Noch einmal fahre ich an unserem Grundstück vorbei, dass nicht mehr das Stückchen Erde meiner Kindheit ist. Aus der Schule gegenüber stürmen die Kinder laut rufend und lachend heraus. Das ist Gegenwart, für sie ist das alles jetzt Heimat.
Und ich? Habe ich meine Heimat in den langen Jahren verloren? Hier kann ich sie nicht wiederfinden. Da wo ich jetzt wohne, bin ich gerne zu Hause, doch Heimat war für mich immer an diesem Ort meiner Kindheit. Aber es gibt sie für mich nicht mehr, sie kann nur noch in der Erinnerung lebendig werden.
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