Ganz schön bissig ...
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Mai 2004
Wo dein Herz ist
von Birgit Erwin

Wie immer fielen sie sich bei ihrer Rückkehr einfach stumm in die Arme. Sie nahmen sich kaum die Zeit für ein paar Küsse, bevor sie sich die Kleider herunterrissen, um die Versäumnisse eines halben Jahres nachzuholen. Niemand wagte es, die beiden in dieser Zeit zu stören.
Vielleicht hatten die Toten nicht viel zu verlieren, aber an dem Wenigen hingen sie.

„O sole miooooo...“
Pluto schloss krachend die Fensterläden, ehe er sich wieder neben seiner Frau ausstreckte.
„Und, wie war der Aufenthalt bei deiner lieben Mutter?“, fragte er und machte einen heroischen Versuch, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben.
Sie rollte sich herum, bis sie in der Armbeuge ihres Mannes zu liegen kam.
„Ganz schön. Wie immer. Sie lässt dich grüßen.“
„Aber sicher doch! Liebling, wir wissen doch beide, dass sie mich nicht leiden kann.“
Ein spitzbübisches Lächeln huschte um Proserpinas blasse Lippen.
„Du hast mich immerhin entführt. Und die Folgen kennst du ja selber. Hat sie nicht ein klitzekleines bisschen Berechtigung dazu, dir böse zu sein.“
Er starrte zur Decke und runzelte die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte.
„Nein“, sagte er schließlich, „hat sie nicht. Jeder Mann mit Augen im Kopf hätte dich entführt. Ich bin nur froh, dass du dich hier unten eingelebt hast.“ Er küsste ihre Schulter. „Ich liebe dich, Proserpina.“
„Und ich liebe dich. Aber jetzt erzähl mal: Hat es irgendwelche Probleme gegeben, während ich fort war?“
Er schwieg. Proserpina stützte sich auf die Ellenbogen und lächelte auf sein dunkles Gesicht hernieder.
„Also ja! Erzähl! Ist es immer noch dieser Mönch, der aus Versehen bei uns gelandet ist?“
„Ach der... Nein, der hat sich gut eingelebt, auch wenn sein missionarischer Eifer ungebrochen ist. Nein, diesmal ist es ein ganz spezieller Fall ...“
„Mach‘s nicht so spannend!“ Sie knuffte ihn in die Seite.
„Aua!“, murmelte er halbherzig. Mit den Gedanken war er weit fort. Dafür liebte sie ihn, für seine Hingabe, sein Pflichtgefühl. Das ließ sie die langen kalten Winter der Unterwelt beinahe freudig ertragen.
„Er heißt Diomed, irgend so ein griechischer Held, der genug Feinde erschlagen hat, um sich die Ewigkeit in den Elysischen Feldern zu verdienen.“
„Und er kann Styx nicht bezahlen, weil Grabräuber sein Grab geplündert haben“, nickte Proserpina. Die Geschichte war alt. Traurig, aber alt. Doch ein seltsamer Ausdruck im Gesicht ihres Mannes ließ sie innehalten.
„Keine Grabräuber?“, fragte sie.
„Nein. Er hat ausreichend Geld. Mehr als er braucht. Und deswegen wollte er eine Rückfahrkarte.“
Eine Weile herrschte Totenstille. Im wahrsten Sinne des Wortes.
„Eine was?“, fragte Proserpina. endlich. „Du hast nicht eben Rückfahrkarte gesagt?“
„Doch. Was glaubst du, was Styx für einen Aufstand gemacht hat. Und jetzt campiert dieser Diomed am Ufer, hat ein paar andere Raufbolde um sich geschart und propagiert den Nomadentod. Wenn das so weitergeht, proben die bald den Aufstand.“
„Dann sollte ich wohl mal hingehen.“
„Und was willst du tun? Das Ufer des Styx ist so ungefähr der letzte Platz, von dem du jemand vertreiben kannst.“
„Mir fällt schon was ein.“ Sie tätschelte seine verkrampfte Hand. „Das tut es doch immer. Übrigens... dieser Gesang...?“
Er stöhnte dumpf.
„Styx hat seinen Jahresurlaub genommen, als du fort warst.“
„Das kündigt er doch an, so lange ich denken kann.“
„Jetzt hat er es getan.“
„Und?“
O sole mioooooo
„Er war in Venedig!“
Als kluge Ehefrau wusste Proserpina, wann es besser war, nicht zu lachen. Sie beugte sich über ihren Mann. Etwas in seinen Augen bewog sie, den fälligen Besuch bei Diomed um ein paar Stunden zu verschieben.

Die Herrin der Unterwelt blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte in ihrer Zeit als Göttin der Toten einiges gelernt, aber dieser Anblick war sogar ihr neu.
„Styx, äh ... hallo ... Pluto hat gesagt, du habest ... Urlaub gemacht...?“
Der unmelodische Gesang brach ab. Die hagere Gestalt in dem grell gestreiften Hemd drehte sich um. Unter dem flatternden Band seines Strohhutes war sein Gesicht grau und hager wie immer und seine Augen leer.
„Willkommen daheim, Herrin“, krächzte er.
Proserpina lächelte warm.
„Danke, Styx. Mein Mann hat gesagt, es gebe Unregelmäßigkeiten.“
„Ha!“ Das graue Gesicht des Fährmannes wurde noch fahler. „Dieser Diomed! Frechheit! Eine Rückfahrkarte! Als ob ich ein Taxiunternehmen wäre! Ihr macht dem ein Ende, Herrin, nicht wahr?“
„Das werde ich. Wo finde ich ihn denn?“
Styx nickte in eine Richtung, dann wandte er sich wieder der Schlange zu, die sich vor der Fähre gebildet hatte. Proserpina ging weiter. Das Klagen und Schluchzen der heimatlosen Seelen schnitt ihr nach all den Jahren noch immer ins Herz. Flehend streckten sie ihre blutlosen Hände nach ihr aus. Sie hätte so gerne eine Ausnahme gemacht, tausend Ausnahmen, aber es ging nicht. Wer den Fährmann nicht bezahlen konnte, war zu einem trostlosen Zwischendasein am Ufer des Styx verdammt. In all diesem Jammern war es beinahe obszön, ein fröhliches Trinklied zu hören. Natürlich gab es hier nichts zu trinken, aber das kleine Camp hatte eindeutig Lagerfeueratmosphäre. Vier oder fünf Seelen, deren durchscheinende Körper noch die Spuren ihrer tödlichen Wunden aufwiesen, saßen zusammen und sangen aus voller Brust. Nur einer von ihnen zeigte statt der heroischen Wunden die kränklich grüne Farbe eines Pestopfers. Aber hier unten war Ansteckung ein geringfügiges Problem.
„Diomed!“
Ein großer, gutaussehender Schlaks sprang auf die Füße und verneigte sich mit dem Schatten eines charmanten Grinsens. Er war jung gestorben und schien seinen Tod zu genießen.
„Schöne Herrin, zu Euren Diensten.“
„Ich habe gehört, Ihr wollt nicht übersetzen?“
„Hat Euch der alte Griesgram von einem Fährmann geschickt? Das ist nicht ganz wahr, ich will nur eine Rückfahrkarte. Ich kann schließlich bezahlen.“
„Aber am anderen Ufer wartet die Seligkeit auf Euch“, sagte Proserpina mit einem ernsten Blick. „Denkt Ihr nicht daran, wie viele dieser Unglücklichen sich nach einer Heimat sehnen?“
Diomed zuckte die Achseln und wandte sich ab.
„Kein Interesse.“ Er starrte auf seine Füße.
In diesem Augenblick zupfte eine Hand an ihrem Gewand. Proserpina sah nach unten und erkannte den Pesttoten. Um ein Haar wäre sie zurückgewichen, dann schämte sie sich ihrer kleinlichen Regung. Die durchscheinende Hand zeigte verstohlen in Diomeds Richtung dann auf das andere Ufer des Flusses. Seine Lippen bewegten sich. Sie waren ziemlich zerfressen und so brauchte die Göttin eine Weile, ehe sie die lautlose Botschaft verstand.
„Seine Frau!“, wisperte der Tote und zwinkerte noch einmal.
„Ach so“, murmelte Proserpina. „Der Odysseus-Komplex! Na, dann wollen wir mal!“
„Diomed!“ Sie wandte sich mit einem strahlenden Lächeln an den jungen Helden. „Wisst Ihr was, ich gebe Euch recht: Man sollte niemanden zwingen, sesshaft zu werden. Ihr sollt Eure Rückfahrkarte bekommen.“
„Ehrlich?“, fragte er zögernd.
„Ganz ehrlich. Ich würde doch nie mit unfairen Tricks spielen! Ich bin schließlich eine Göttin!“

Styx wurde vor Wut beinahe undurchsichtig, aber er wagte nicht, sich den Anweisungen der Herrin zu widersetzen. Sein „O sole mioo“ tönte noch ein bisschen krächzender über die zähen Wasser des Unterweltsflusses, als er dem Griechen das Versprechen gab, ihn wieder zurückzubringen.
„Hey, ich könnte dir noch ein anderes Lied beibringen. Und meinen Helm da lassen, dein Hut sieht ziemlich komisch aus“, grinste Diomed und blieb von den finsteren Blick des Fährmanns gänzlich unbeeindruckt. „Ich hol ihn mir wieder, wenn ich zurückkomme. Ich habe es Helena immer gesagt, dass ich noch nicht bereit bin, sesshaft zu werden. Familie und ein trautes Heim sind einfach nichts für mich. Sehr gesprächig bist du nicht gerade, was? Na, dann eben nicht.“
Mit einem sanften Stoß glitt der Nachen ans Ufer. Diomed sah sich neugierig um. Blauer Himmel, grüne Hügel - hübsch war es ja, das musste er zugeben, und solange es nicht für immer war, konnte man es schon eine Weile aushalten. In diesem Augenblick trat eine Gestalt aus dem hellen Licht. Er blinzelte.
„Helena?“
Sie streckte die Hand aus. Diomed räusperte sich. Zum ersten Mal hatte er in ihrer Gegenwart Herzklopfen und schweißfeuchte Hände.
„Helena, ich hätte dich beinahe nicht erkannt. Du siehst so verändert aus. Ganz ehrlich, der Tod steht dir gut! Helena ... was soll das ... was machst du da??“

Als Diomed später versuchte, sich an die Einzelheiten jener ersten Begegnung mit seiner toten Frau in den Elysischen Feldern zu erinnern, fiel es ihm schwer. Es war, als läge ein rosiger Nebel über ihrem Wiedersehen. Nur das Glücksgefühl in seinen Lenden war so real, dass es schmerzte.
Tatsächlich schien es Helena mit der Erinnerung genauso zu gehen. Nachdem sie verschwunden war, um sich, wie sie sagte, die Nase zu pudern, hatte er sie lange suchen müssen, und als er sie endlich gefunden hatte, schien sie sich nicht mehr erinnern zu können, dass ihre erste Begegnung je stattgefunden hatte. Insgeheim glaubte er ja, dass sie sehr wohl wusste, was geschehen war, und dass sie sich einfach schämte. So wild wie am Ufer des Styx war sie daheim jedenfalls nie gewesen. Und auch jetzt... aber sie hatten schließlich alle Zeit der Welt. Außerdem fühlte er sich mittlerweile richtig heimisch unter dem ewigblauen Himmel der Himmlischen Gefilde. Manchmal, wenn er Hand in Hand mit seiner Frau durch den immerwährenden Frühling wanderte, fragte er sich sogar, warum er sich so lange dagegen gesträubt hatte.

„Du hast es also wieder einmal geschafft“, sagte Pluto. Er versuchte schon seit geraumer Zeit, die Gedanken seiner Frau zu erraten. Sie lächelte nur. Überhaupt sah sie, seit sie vom Styxufer zurückgekehrt war, unverschämt befriedigt aus.
„Habe ich.“
„Darf ich fragen wie?“
„Liebster, du kennst doch den alten Spruch, wo dein Herz ist, ist deine Heimat.“ Sie küsste ihn sanft auf die Lippen. „Manche begreifen das sofort. So wie ich. Andere brauchen jemanden, der ihnen die richtigen Argumente nahelegt.“
„Aha.“
„Willst du sonst noch etwas wissen?“
„Und du bist ganz sicher, dass du „Pluto“ gerufen hast, als wir vorhin...?“
„Ganz sicher. Was sollte ich denn sonst gerufen haben, mein Göttergatte?“
Er sah ihr tief in die Augen. Als kluger Ehemann wusste er, wann es besser war zu schweigen.




Mythologischer Hintergrund: Der Sage nach entführte Pluto, der Gott der Unterwelt Proserpina, die Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, die darauf hin in tiefe Trauer versank. Endlich kamen die Götter zu einer Einigung. Ein halbes Jahr verbrachte Proserpina auf dem Olymp, die andere Hälfte bei ihrem Ehemann im Orkus. Die Menschen verspürten diesen Ortswechsel als Winter und Frühling.
Dass Styx jemals in Venedig war, ist nicht bewiesen, aber es dürfte auch schwer werden, das Gegenteil zu beweisen.

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