Der Tod aus der Teekiste
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Mai 2004
Bitte geh nicht!
von Jana Förster

An den dürren Bäumen hingen kaum Blätter, trotzdem drang nur wenig Licht zum Boden. Ringsum kreischten Vögel und in den Dornensträuchern raschelte es unheimlich. Joy fühlte sich einsam und verloren. Es schien ihr, als ob sie schon seit Stunden durch den Wald liefe, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Plötzlich erklangen aus der Ferne Stimmen. Einige schrieen, andere weinten oder lachten. In Joy flammte Hoffnung auf. Sie wollte nicht mehr alleine sein und lief und lief, aber sie kam ihnen nicht näher. Die Bäume standen so dicht, dass die spitzen Zweige an ihrem T-Shirt zerrten und tiefe Wunden in Joys Haut rissen. Ihre Lungen brannten, ihre Muskeln schmerzten von der Anstrengung. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbringen, um ihre Beine zum Weiterrennen zu bewegen.
Es waren fremde Stimmen, aber zwei erkannte sie. Es waren ihre Eltern, die ihren Namen riefen: „Joy!“ Immer wieder. „Joy!“ Joy versuchte sie zu erreichen. Sie hatte jegliche Orientierung verloren, hörte nur noch auf die Rufe.
Plötzlich tauchten zwischen den welken Blättern der Gebüsche Gesichter auf, die grinsten oder traurig aussahen oder weinten. Doch stets verschwanden sie, wenn Joy darauf zurannte. Sie kannte keine der Personen, trotzdem fiel ihr etwas Vertrautes auf - manchmal die Augen, manchmal der Mund, bei anderen die Nase. Sie erkannte sich selbst in ihnen wieder.
Die Erkenntnis erschreckte Joy so sehr, dass sie die Wurzel vor sich nicht bemerkte und hart auf dem Boden aufschlug. Der Schmerz und die Verzweiflung trieben ihr Tränen in die Augen. Sie konnte nicht mehr aufstehen, ihre Glieder schmerzten. Plötzlich ein Rascheln und Knistern, brechende Zweige. Zaghaft drehte sie sich auf den Rücken. Menschen tauchten hinter den Bäumen auf und blickten auf Joy hinab. Sie riefen ihren Namen, lachten sie an. Joy erblickte in der Menschenmenge ihre Eltern, die ihr die Hände reichten. Sie griff danach, aber die Eltern zogen sie blitzschnell zurück. Mit einem Mal veränderten sich ihre Gesichter: Die Augen wurden breiter, pulsierten, der Mund wurde schief und verzerrt. Dann begannen sie zu lachen - ein böses, hämisches Kreischen. Dabei tönte tief aus ihren Kehlen stets der gleiche Satz: „Du gehörst nicht zu uns.“ Joy hielt sich die Ohren zu und schrie.

Schweißgebadet schreckte Joy hoch. Sie war in ihrem Zimmer. Seufzend sank sie in ihr Kissen zurück, jede Nacht hatte sie den gleichen Alptraum, seit... seit sie die Wahrheit kannte. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern:
Sie tritt ins Wohnzimmer, wirft die Dokumente, die sie in der Kommode gefunden hatte, auf den Tisch vor ihren Vater hin. „Bitte, sag mir die Wahrheit.“ Tränen treten in ihre Augen.
Keine Antwort, nur ein geschockter Blick auf die Blätter. Verzweifelt schaut sie ihn an: „Dad?“
Michael blickt zu Boden, die rechte Hand streicht durch sein pechschwarzes Haar und seine Zunge fährt über die trocknen Lippen. Er kann seiner Tochter nicht in die Augen schauen. „Schatz, ich ... deine Mutter und ich, wir lieben dich ...“
„Also stimmt es. Ich bin adoptiert.“ Die Erkenntnis lässt ihre Stimme zittern.
Ein kaum wahrnehmbares Nicken, aber Joy registriert es.
„Warum habt ihr mir das nie erzählt?“
Schweigen.
„Warum?“ Joy schreit. Warum taten sie ihr das an? Tausend Gedanken wirbeln durch ihren Kopf. Sie hält es nicht mehr bei ihrem Vater aus und rennt die Treppe zu ihrem Zimmer hoch.


Seitdem schloss sie sich ein, sobald die Schule vorbei war. Jeden Versuch der Adoptiveltern mit ihr zu reden, blockte sie ab. Wie sollte sie ihnen auch je wieder vertrauen können? Die ganzen Jahre hatten sie gelogen. Sie den wahren Eltern entzogen, geraubt.
Oft dachte Joy an all die Lügen, die ihre Adoptivmutter erzählt hatte. Die Schwangerschaft, in der ihr übel war, die schmerzhafte und lange Geburt, das wunderbare Gefühl, als sie ihre Tochter das erstemal schreien hörte. Alles Lügen. Ihr gesamtes Leben.

Joy stand auf, knipste das Licht an und stellte sich vor den Spiegel. Nachdenklich betrachtete sie ihr Gesicht. Sie dachte an ihre richtigen Eltern. Ob sie ihnen wohl ähnlich sah? Die Augen von der Mutter, der Mund vom Vater. Mit den Fingern betastete sie ihr Gesicht.
Warum wurde sie zur Adoption freigegeben? Der Gedanke, dass ihre leibliche Mutter sie nicht haben wollte, versetzte ihr einen schmerzhaften Stich tief ins Herz. So verdrängte sie es sofort. Man hatte sie aus ihrer Familie gerissen und Fremden überlassen, anders konnte es einfach nicht sein.

Hier war nicht ihr zu Hause, nicht in dieser Familie. Sie fasste einen Entschluss. Ihre wahren Eltern lebten irgendwo da draußen und sie würde sie finden.
Leise öffnete sie ihren Schrank und kramte ein paar Klamotten heraus. Sie packte ihr Tagebuch, ein altes Kuscheltier und die Kleidung in ihren Rucksack. Dann schlich sie die Treppe hinunter zur Haustür, drückte die Klinke und wollte gerade hinausschlüpfen, als hinter ihr eine leise Piepsstimme erklang: „Wo willst du hin?“
Sie drehte sich um und blickte in die verschlafenen Augen ihrer kleinen Schwester. „Ich...“ Mehr brachte Joy nicht hervor.
„Was ist mit dir?“ Maya blickte ihre Schwester mit besorgten Kinderaugen an.
Was sollte sie ihr antworten? Sie war noch so klein, die Wahrheit würde sie nicht verstehen: Joy war nicht ihre Schwester, sondern eine Fremde. Sie hatte hier nur ein Asyl für ein paar Jahre, bis sie alt genug war, um alleine zurecht zu kommen.
„Bist du krank?“, wisperte Maya.
„Wie kommst du denn darauf?“ Sie schloss die Tür und ging zu ihrer Schwester.
„Na, weil du nur noch in deinem Zimmer bist. Wenn ich krank bin, macht mir Mama immer einen heißen Tee. Warum bringt sie dir keinen?“
Bei dem Wort „Mama“ zog sich Joys Herz zusammen. Es war nicht ihre Mutter.
„Mama und Papa machen sich große Sorgen um dich.“
„Das brauchen sie nicht. Mir geht es gut.“ Joy schluckte, es fiel ihr schwer Maya anzulügen.
„Wirklich?“ Maya blickte zweifelnd ihre Schwester an, die nur leicht nicken konnte.
Der Anblick des kleinen Mädchens trieb Tränen in Joys Augen, verzweifelt kämpfte sie dagegen an. Ihr war nie aufgefallen, wie ähnlich Maya den Eltern sah. Das pechschwarze Haar, die rehbraunen Augen, die Stupsnase. Ein Kontrast zu ihrer eigenen blonder Mähne und den markanten Gesichtszügen. Warum hatte sie das nie bemerkt?
Schweigend blickten beide sich an.
Plötzlich fiel Maya ihrer großen Schwester um den Hals und drückte sie fest an sich: „Ich hab´ dich lieb. Bitte geh nicht!“
Joy flüsterte unter Tränen: „Ich liebe dich auch.“
Langsam löste sich Joy aus der Umarmung und wischte sich die Tränen weg: „Komm, ich bring dich ins Bett. Es ist schon spät.“
Hand in Hand gingen die beiden in Mayas Kinderzimmer. Liebevoll deckte Joy sie zu, dann setzte sie den Rucksack ab und legte sich neben die Kleine. Sie spürte das gleichmäßige Atmen und die Wärme Mayas. Wieder kullerten kleine Tränen über ihre Wangen, als die Erinnerung sie überkam: Ihr achter Geburtstag. Die ganze Familie machte einen Ausflug, Maya war noch ein Baby. Joy war gestürzt und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Ihre Eltern waren sofort da und nahmen sie tröstend in die Arme.
Joy sank in einen traumlosen Schlaf.

nudaria@web.de

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