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Mai 2004
Der Heimkehrer
von Eva Markert

Ich wusste nicht genau, wann. Man hat es mir damals nicht gesagt. Ich wusste nur: Eines Tages werden sie mich gehen lassen.
Ich hatte darum gebettelt, gefleht, als ich ankam an diesem Ort, für den es keine Worte gibt. Die anderen haben mir zunächst abgeraten, aber ich bestand darauf, bis sie einsahen, dass es für mich keine andere Lösung gab.
Und dann habe ich gewartet, immer nur gewartet an diesem Ort, wo die Zeit stillsteht. Ich habe versucht, gegen meine innere Rastlosigkeit anzukämpfen. Doch ich wusste, ich würde nur auf dieser Reise Frieden finden können.
Und nun bin ich auf dem Weg. Je näher ich meinem Ziel komme, desto stärker wird diese Wärme in mir. Ja, ich spüre es ganz deutlich: ich kehre zurück, ich komme nach Haus. Undeutliche Erinnerungsbilder tauchen in mir auf, werden schärfer. Ich werde sie wieder sehen. Endlich werde ich sie wieder sehen!
Sie leben immer noch dort. Als ich vor der Wohnungstür stehe, ist es so, als wäre nichts geschehen. Heiße Freude durchflutet mich.
Wie oft bin ich durch diese Tür gegangen! Ich kam von der Arbeit, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn, in mir das Feierabendgefühl. „Vati! Vati!“ Meine Tochter rannte mir entgegen, sprang in meine Arme. Corinna, meine Süße, meine Einzige. Sieben Jahre war sie alt, als ich sie zum letzten Mal sah. Wir machten uns immer Sorgen um sie, weil sie viel zu dünn war und nur so wenig aß.
Wir – Marie und ich. Ich weiß noch, wie wir jeden Abend zusammensaßen, nachdem wir unser Kind ins Bett gebracht hatten. Wir rauchten, tranken Tee, lachten und redeten. Nie ging uns der Gesprächsstoff aus.
Ich trete ein. Es ist totenstill in der Wohnung. Langsam, fast ängstlich gehe ich den Flur entlang. Es riecht wie früher. An einer Wand steht ein Schrankteil, das ich nicht kenne. Aber die alten Messinggarderoben sind noch da. Es ist Sommer. Ich sehe nur leichte Jacken und Mäntel. Kinderkleidung ist nicht mehr dabei.
Wie in alten Zeiten setze ich mich ins Wohnzimmer auf meinen Sessel. Ich warte. Vor dem Blumenfenster saß Marie, wenn ich aus der Firma kam. Als Erstes gab ich ihr immer einen Kuss. Sie war meine zweite Frau. Ihretwegen hatte ich mich scheiden lassen. Ein Skandal damals! Aber unser gemeinsames Leben war es wert.
Ich sehe mich um. Im Wohnzimmer hat sich nichts verändert. Doch: eins ist anders. Sie haben ein Fernsehgerät. Ich wollte nie einen Fernseher. Marie schon. Ob er schon lange da steht? Wann haben sie ihn wohl gekauft? Gleich nachdem ich fortgegangen war?
Ruhelos stehe ich auf und wandere weiter. Ich will mir alles ansehen, bevor sie kommen. Im Esszimmer steht noch der ovale Familienesstisch. Drei Platzdeckchen und drei Servietten liegen darauf.
Im Spülstein in der Küche stapelt sich schmutziges Geschirr. An die Waschmaschine erinnere ich mich noch genau. Wir hatten sie einige Monate zuvor gekauft. Es war unsere erste. Marie lachte, wenn ich mich davor setzte, um ihr beim Waschen zuzuschauen.
Das Kinderzimmer – unordentlich wie immer. Unsere Tochter wohnt also zu Hause. Wie mag sie jetzt aussehen? Auf dem Schreibtisch steht ein Bild von mir. Ich lächele in die Kamera. Jetzt erinnere ich mich, wie dieses Bild aufgenommen wurde. Corinna hat es mit ihrem ersten Fotoapparat gemacht. Ob sie nun meine Leica benutzt?
Wo sie nur bleiben?
Auch ins Schlafzimmer gehe ich. Diese schönen Kirschbaummöbel! Aber ich habe nicht sehr oft in meinem Bett geschlafen. Das Schlafzimmer wurde erst kurz vorher geliefert. Ich weiß noch, dass ich einige Nächte im Esszimmer in dem alten Schaukelstuhl zugebracht habe wegen der Rückenschmerzen und weil ich Marie nicht stören wollte.
Meine Ungeduld steigert sich immer mehr. Die Stille in der Wohnung macht mich langsam unruhig. Warum sind sie immer noch nicht da?
Da endlich höre ich ein Geräusch. Schnell laufe ich in den Flur. Es ist Marie. Sie bemerkt mich nicht. Unbeobachtet kann ich sie anschauen. Ich bin überwältigt. Wie schön sie ist!. Und so elegant sieht sie aus. Wahrscheinlich arbeitet sie wieder. Nein, sie hat sich wirklich kaum verändert.
Zögernd trete ich auf sie zu. Ich nehme sie in meine Arme und drücke sie ganz fest: Wie gut das tut! Ich presse mein Gesicht in ihre Halsbeuge. Lange habe ich mich danach gesehnt. „Marie“, flüstere ich, „Marie!“ Mehr kann ich im Augenblick nicht hervorbringen.
Marie blickt auf ihre Uhr. Sie hat wie so oft keine Zeit. „Ich muss mich beeilen“, sagt sie und geht in die Küche. Ich folge ihr. Sie steht mit dem Rücken zu mir und kocht Kaffee mit einer Maschine, die mir vorher gar nicht aufgefallen ist. Früher haben wir doch immer nur Tee getrunken!
„Marie, wie geht es dir?“ Endlich kann ich wieder sprechen. „Geht es dir gut?“ Ich kann mich nicht satt sehen an ihr. Nie wieder möchte ich sie verlassen!
Marie gähnt. „Immer dieser Stress im Büro!“, seufzt sie. „Es ist einfach zu viel!“ Sie füllt eine Kanne voll und stellt drei Tassen, Zucker und Milch auf den Wohnzimmertisch. Meine Tochter wird also auch gleich kommen! Ich kann es kaum noch erwarten.
Marie setzt sich ins Wohnzimmer mir gegenüber und gießt sich eine Tasse Kaffee ein. Sie nimmt nur Milch, keinen Zucker mehr. Jetzt sehe ich es: Ihre Gesichtszüge sind doch schärfer geworden. Zwei tiefe Linien ziehen sich von ihren Nasenflügeln hinunter bis zu den Mundwinkeln. Ihr dunkles Haar wirkt heller, als ich es in Erinnerung habe, weil sich viel Grau hineingemischt hat. Meine arme, arme Marie! Wie schwer mag es für dich gewesen sein?
Aber ihre Bewegungen, die sind immer noch dieselben,
Sie zündet sich eine Zigarette an. Verwundert sehe ich, wie sie heftig daran zieht, den Rauch tief in sich hineinsaugt und dann langsam und genüsslich ausbläst.
„Warum rauchst du noch?“, frage ich sie vorwurfsvoll. „Wie kannst du so leichtsinnig sein! Du weißt doch jetzt, wie gefährlich das ist!“
Sie zieht ungerührt wieder an ihrer Zigarette und streift die Asche an einem der Aschenbecher ab.
Auf dem Tisch liegen mehrere Zigarettenschachteln. Es sind verschiedene Marken. O mein Gott, das Kind! Es wird doch nicht auch angefangen haben zu rauchen?
Ich gehe zu Marie hinüber, lege ihr meine Hand auf die Schulter und schreie, so laut ich kann. „Marie! Marie! Ihr dürft nicht rauchen, hörst du!“
Ich liebe sie doch so sehr! Wenn ich sie nur beschützen könnte! Wieder gebe ich ihr einen Kuss. „Marie!“, rufe ich noch einmal beschwörend. „Sieh mich an! Ich bin hier!
Aber meine Worte erreichen sie nicht. Sie zeigt keine Regung, raucht einfach weiter. Ich streichele ihre Wangen. Nur einmal schließt sie für einen ganz kurzen Moment die Augen.
Ich kenne sie. An der Art, wie sie die Zigarette ausdrückt, merke ich, dass sie beunruhigt ist. Sie blickt auf die Uhr. Es ist die Uhr, die ich ihr zu ihrem vierzigsten Geburtstag geschenkt habe. Eine zierliche, goldene Uhr mit rundem Zifferblatt. Wahrscheinlich macht sie sich wieder Sorgen um Corinna. Sie hat sich immer Sorgen um sie gemacht, vor allem, wenn sie nicht pünktlich nach Hause kam.
Meine Corinna! Ich kann es kaum noch erwarten, sie zu sehen!
Erleichtert atmet Marie auf, als jemand die Treppe hinaufkommt. Die Haustür wird aufgerissen. Ich springe hoch. Je länger ich wieder hier bin, desto intensiver erlebe ich alles, was um mich herum geschieht. Und jetzt ist mein liebes kleines Töchterchen gerade angekommen.
Ein blondes Mädchen wirft seine Schultasche in eine Ecke und hängt eine Jacke auf. Ja, es ist Corinna. Wie hübsch sie geworden ist! Und so erwachsen sieht sie schon aus. Warum nur konnte ich nicht bei ihr sein, sie nicht groß werden sehen? Nein, es ist nicht gerecht. Auch wenn ich selbst mit schuld daran bin.
Meine Tochter beachtet mich ebenfalls nicht. Nur als ich sie umarme, verharrt sie einen Augenblick. Was empfindet sie gerade? Fühlt sie, dass ich da bin? Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie streicht mit ihrem Zeigefinger genau über diese Stelle. Corinna war schon immer besonders sensibel.
Ich gehe mit ihr zum Wohnzimmer. Zärtlich drücke ich ihre Hand, und für einen Moment glaube ich zu spüren, dass ihre Finger den Druck erwidern. „Corinna“, sage ich, „mein Liebling!“ Sie wendet mir das Gesicht zu. Ich suche ihren Blick, aber sie sieht durch mich hindurch.
Corinna bleibt im Türrahmen stehen und lächelt ihrer Mutter zu. Wenn sie das tut, formen sich ihre Augen zu kleinen Halbkreisen. „Wenn du lachst, hast du ganz bogige Augen“, habe ich früher oft zu ihr gesagt. Sie bekommt immer noch bogige Augen.
Wir sitzen alle zusammen im Wohnzimmer. Ich höre ihnen zu. Ganz plötzlich entbrennt ein hitziges Wortgefecht. Anscheinend sind beide sehr jähzornig. Von Marie kenne ich das ja. Wie war sie böse auf mich damals. „Du bist schuld!“, hat sie geschrieen und dabei herzzerreißend geweint. „Warum bist du nicht eher zum Arzt gegangen?“
Ich höre, wie sie tadelnd zu Corinna sagt: „Du hast die ganze Woche nicht ein einziges Mal morgens abgewaschen!“
„Ich habe keine Zeit dazu“, erklärt Corinna. „Der Bus fährt so früh.“
„Dann musst du eben eher aufstehen!“
„Ich sehe überhaupt nicht ein, dass ich für ein bisschen Geschirr auf meinen Schlaf verzichten soll!“
„Du übertreibst mal wieder! So ein Abwasch dauert doch höchstens eine Viertelstunde.“
„Eine Viertelstunde mehr Schlaf macht einen großen Unterschied!“, behauptet Corinna eigensinnig. „Und außerdem kann ich auch später noch abwaschen.“
„Das tust du ja doch nie. Aber ich will mittags nicht in eine unaufgeräumte Küche kommen!“
„Ach, lass mich doch in Ruhe mit deinem albernen Abwasch!“ Wütend zündet sich Corinna eine Zigarette an.
Ich sage ihnen, dass sie sich nicht streiten sollen. „Hört doch auf damit!“, bitte ich. „Es gibt so viel Wichtigeres im Leben als ein paar schmutzige Teller!“ Aber sie hören nicht auf mich. Ich bin Luft für sie.
Klirrend stellt Marie ihre Kaffeetasse ab. Aber dann entspannen sich ihre Gesichtszüge von einem Augenblick auf den anderen. Auch Corinna beruhigt sich schnell. Ich lächele. Meine beiden Hitzköpfe!
Ich schaue Marie wieder an. Ihr Gesicht war das Letzte, was ich verschwommen sah, als ich auf der Intensivstation noch ein letztes Mal kurz aufwachte. Doch die Operation konnte mich nicht mehr retten. Der Krebs war schon zu weit fortgeschritten. Ich bin bald wieder eingeschlafen und irgendwann hinübergeglitten.
Aber ich konnte sie nicht so einfach aufgeben. Ich wollte sie wieder sehen, musste wissen, ob es ihnen gut ging. Ich machte mir Sorgen. Würden sie mit ihrer Trauer fertig werden? Und wie sollten sie ohne mich zurechtkommen?
„Wo bleibt er denn?“, höre ich Corinna fragen. Marie sieht auf ihre Uhr.
„Er müsste eigentlich jeden Augenblick hier sein.“
Da läutet es. Wie vertraut mir der Klang unserer Schelle immer noch ist! Ich gehe mit Marie zur Tür. Ein Mann kommt die Treppe herauf, den ich nicht kenne. Er ist von kräftiger Gestalt und hat volles, graues Haar. Ganz anders als ich. Ich war immer sehr schlank und hatte schon in jungen Jahren eine Stirnglatze.
Verwundert sehe ich, dass Marie diesen Mann umarmt. „Hallo, mein Schatz!“, sagt sie und gibt ihm einen Kuss.
Er legt seinen Arm um ihre Schultern.
Ich bin verwirrt.
Sie gehen gemeinsam ins Wohnzimmer.
Ich folge ihnen.
Der Mann begrüßt auch Corinna sehr herzlich.
Ich beobachte sie. Zu dritt sitzen sie da, rauchen, trinken Kaffee, lachen und reden miteinander. Man merkt, dass sie sich gut verstehen. Ich weiß immer noch nicht, wer dieser Mann ist. Nur dass er zu Marie gehört, das sehe ich. Ob sie wieder geheiratet hat? Nun fällt mir auch ein, dass mein altes Bett im Schlafzimmer bezogen ist. Nein, sie kann ihn eigentlich nicht geheiratet haben, denn auf dem Türschild steht immer noch mein Name.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es erfüllt mich mit einer leisen Traurigkeit, den Fremden zusammen mit meiner Frau zu sehen. Aber wenn ich in Maries lachende Augen schaue, macht es mich auf irgendeine Weise auch froh.
Corinna schweigt seit ein paar Minuten. Sie sieht bedrückt aus, fast so, als wollte sie weinen. Was hat sie nur? Ich lege meinen Arm um ihre Schultern. Corinna, meine Kleine, warum bist du so traurig?
Sie räuspert sich. „Hast du schon daran gedacht?“, wendet sie sich an Marie. „Heute vor zehn Jahren ist Vati gestorben“ Ganz leise hat sie es gesagt. Augenblicklich wird es still im Zimmer, so als hielte das Leben den Atem an.
Marie seufzt. Der Mann greift nach ihrer Hand. Corinna blickt vor sich hin. Eine Träne läuft ihre Wange hinunter. Sie denken an mich. Meine Liebsten, seid doch nicht traurig, bitte, bitte, seid doch nicht so traurig – ...“
„Was haltet ihr davon: Sollen wir heute Mittag Pizza essen?“, fragt Marie ganz plötzlich in die Stille hinein.
Das Leben holt wieder Atem. „Gute Idee! – Darauf hätte ich jetzt auch Appetit. – Kommt, wir gehen in die Küche!“
Meine Familie – meine Frau und meine Tochter – stehen auf. Der Fremde geht mit ihnen.
Ich folge ihnen nicht. Ich weiß jetzt, Corinna und Marie werden mich nicht vergessen. Aber sie haben sich schon vor langer Zeit für immer von mir verabschiedet. Sie leben und ich bin tot.
Ich gehe nun fort von ihnen, kehre heim an den Ort der Stille, wo ich nun endlich Ruhe finden kann.
Ich werde niemals wieder kommen. Endgültig nehme ich Abschied von meiner irdischen Heimat. Das Bild vor meinen Augen wird unscharf. Farben und Konturen verblassen, Gerüche und Geräusche verflüchtigen sich.
Immer weiter entferne ich mich.
Ich werde einfach warten an jenem Ort der Stille, den Worte nicht beschreiben können. Ich weiß nicht, wie lange. Doch Zeit spielt keine Rolle dort.


E-Mail: evamarkert@arcor.de

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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