Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Mai 2004
Entkernt und vorgeführt
von R. Funke

Ursache

Manche Dinge im Leben beginnen scheinbar harmlos.
Eines Tages wurde unserer Schule eine neue Lehrkraft aus der weit entfernten Hauptstadt zugewiesen. Eine schöne junge Frau, adrett, dynamisch. Sie brachte die große Welt in unser Dorf, zeigte den Kleinsten neue Spiele und organisierte für unsere Mütter, die nie eine Schule besucht hatten, Abendkurse. Nach und nach trugen immer mehr Bäuerinnen Hosen. Ihr traditionelles Kopftuch verschwand mit der Zeit, wie auch die Sprache unserer Väter. Am Ende fragte niemand mehr nach dem alten Dorfschullehrer, der still und heimlich verschwand und nie wieder gesehen wurde.
Dem Dorfvorsteher, der den Belangen unserer Gemeinschaft dreißig Jahre lang treu gedient hatte, wurde ein jung-dynamischer Assistent aus der Hauptstadt zur Seite gestellt. Wo immer er auftauchte, machte er sich eifrigst Notizen, unterhielt sich mit jung und alt und vermittelte uns das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Er stellte Infrastrukturpläne auf, schieb Eingaben und bewirkte, dass unsere Dreihundert-Seelengemeinde neue Strom- und Telefonleitungen bekam. Plötzlich interessierte sich die Regierung für die Probleme der östlichen Provinz. Die löcherige Hauptstraße wich einer spiegelglatten Asphaltdecke und statt Pferdefuhrwerken rollten Traktoren über die Straße. Am Ende fragte niemand mehr nach dem alten Dorfvorsteher, der ebenfalls still und heimlich verschwand und nie wieder gesehen wurde.
Dann ging es immer rasanter zu. Wir bekamen eine eigene Polizeidienststelle – natürlich mit Polizisten aus der Metropole – das Gebetshaus wich einem Parteibüro mit Bürgerzentrum, bäuerliche Parzellen wurden flurbereinigt und um den Dorfkern herum entstanden moderne Siedlungen ... für Bürger aus der Hauptstadt. Das Dorf sei ein wahres Schmuckstück, ein Vorzeigeprojekt der Fortschrittlichkeit, wurde uns gesagt. Regierungsbeamte kutschierten ausländische Delegierte in Luxuskarossen durch die Gemeinde. „Seht ihr“, sagten sie zu den Gästen, „was wir für unsere ethnischen Minderheiten tun? Seht ihr nun, dass die Berichte der regierungsfeindlichen Presse nur Lügenmärchen sind?“ Die Besucher waren überzeugt und schlossen Rüstungsverträge ab. Nur einige Wochen später rollten mehr Panzer als Traktoren durch das Dorf.
„Zu eurem Schutz“, erzählten sie uns.
„Schutz vor wem?“, fragten wir. Die Antwort blieben sie uns schuldig.

Meine Mutter stand mit einem Pappschild bewaffnet vor dem Parteibüro – „Wir wollen unser Dorf zurück!“ hatte sie mit großen Buchstaben auf die Pappe geschrieben. Ich verstand nicht, warum sie das machte. Wir hatten alles, was wir uns erträumten – ich war damals eben zu naiv, um es zu begreifen. Hinter der Jalousie des Büros kam Hektik auf. Der Parteisekretär öffnete die Tür und winkte meiner Mutter zu. „ Bitte treten Sie doch ein – wir können über alles in Ruhe diskutieren.“ Er wirkte freundlich und lächelte – genau wie die anderen beiden Herren vom Staatsschutz. Meine Mutter kniete sich zu mir hinunter. „Du wartest hier. Hast du verstanden?“, wies sie mich in der Sprache unserer Väter an. Ich nickte und kramte ein Stück Kreise aus meiner Rocktasche. Sie umarmte und küsste mich. Dann ging sie aufrecht und stolz, mit Rock und Kopftuch bekleidet, durch die Türe, die hinter ihr geschlossen wurde. Ich malte mit der Kreide Himmel und Hölle auf den Asphalt und begann zu hüpfen. Eins, zwei, alles ist vorbei – sieben, acht, gute Nacht – neun, zehn, auf Wiederseh’n? ... Endlose Stunden vergingen – die längsten Stunden meines Lebens. Die Sonne verschwand hinter den Bergen, und hinter der Jalousie gestikulierten Personen, deren Tätigkeit ich nicht deuten konnte. Kurz vor Mitternacht wurde das Licht ausgeschaltet. Der Parteisekretär trat mit seinen beiden Kollegen auf die Straße. Sie schlossen ab und begaben sich auf den Heimweg.
„Wo ist meine Mutter?“, fragte ich mit all meinem kindlichen Mut.
Der Sekretär kam auf mich zu, kniete sich herunter und lächelte freundlich. „Ich kenne deine Mutter nicht, kleines Fräulein. Aber so wie ich Mütter im Allgemeinen kenne, wird sie sich jetzt bestimmt große Sorgen machen, dass du noch nicht daheim bist. Sollen wir dich heim fahren?“
Ich sah ihm in die Augen und wusste dass er log. „Nein. Ich habe es nicht weit“, antwortete ich geistesgegenwärtig und rannte nach Hause.
Hinter den Fenstern unseres Hofes brannte Licht. Warum hat sie mich zurückgelassen? Hat sie ihr Mädchen nicht mehr lieb?, dachte ich und weinte.
Ich klopfte an die Türe. Von innen hörte ich Schritte auf knirschenden Dielen. Eine Frau öffnete und schaute mich verwundert an. „Was möchtest du zu dieser späten Stunde? Hast du dich verlaufen, meine Kleine?“
„Wer sind Sie und was tun Sie hier?“, fragte ich verwirrt.
„Na, hör mal – ich wohne hier ...“

Mein Onkel hatte mich in dieser Nacht gefunden und aufgenommen. Später verließen wir das Land, das nicht mehr unser Land war, in Richtung Freiheit und Demokratie ... Ich lernte eine neue Welt kennen, die sich massiv von meinen kindlichen Vorstellungen unterschied. Der große Waffenlieferant war gar nicht böse – im Gegenteil, er hatte sogar Mitgefühl für die Opfer seiner internationalen Geschäftspartner. Mein Onkel hatte die Sprache des Gastlandes nie gelernt und wenn ich nach Vater und Mutter fragte, dann weinte er nur. Sein Körper und Geist waren gebrochen, und als ich alt genug war, um die Wahrheit zu ertragen, zeigte er mir seine inneren und äußeren Narben. Wir waren die letzten Zeugen der Landreform 91 – ein junges Mädchen und ein uralter Mann.
An meinem einundzwanzigsten Geburtstag starb er in jener Heimatlosigkeit, die mir das Leben gerettet hatte. Kurz darauf bestieg ich den Flieger für einen letzten Besuch meines Ursprungs. Im Gepäck befand sich eine Frage, die nicht mehr zu überhören war. Ich war mir der Konsequenz bewusst, dass meine Art der Formulierung auf Ablehnung stoßen würde – doch wer damals nicht selbst dabei gewesen war, konnte es eben nicht verstehen.
Heute bin ich erwachsen und begreife die Worte auf dem Pappschild meiner Mutter.

Wirkung

Ich justiere die horizontale Rändelschraube des Fadenkreuzes auf eintausendzweihundert Meter und schweife mit dem Teleobjektiv über die Ordensbatterie der sauberen, knitterfreien Uniform. Der ehemalige Parteisekretär und designierte Präsident lächelt in die Kameras – er hat auch allen Grund dazu, weil sein Land nun in den internationalen Staatenbund aufgenommen wird. Vertreibung, Folter und Mord hat es schließlich nie gegeben. Und wer das dennoch behauptet, der lügt nach offiziellem Wortlaut und verschwindet spurlos. Aus der hinteren Reihe der Tribüne winkt die Kulturministerin, meine ehemalige Lehrerin. Sie hatte mir seinerzeit Himmel und Hölle beigebracht, doch sie konnte nichts dafür – sie war, wie die meisten, nur eine Marionette des totalitären Regimes. Die Fadenzieher gilt es zu erwischen und nicht die Puppen, die hilflos an ihren Strippen baumeln.
Die Feinmessung registriert eine leichte, aber stetige Brise aus Südost – ich stelle den vertikalen Faden des Diodenkreuzes auf die Windgeschwindigkeit ein. Der Orden, knapp unterhalb der letzten Präsidentenrippe, hat es mir besonders angetan: Landreform 91. Aus purem, weichem Gold. Dahinter befinden sich Leber und Milz. Es gibt kein perfekteres Ziel für ein Quecksilbergeschoss, was den physikalischen Streufaktor und den nichtrekonstruierbaren Einschusswinkel betrifft. Ich möchte nicht, dass er schnell und schmerzlos stirbt – meiner Mutter war diese Gnade ebenfalls nicht vergönnt gewesen.
Nun kann nichts mehr schief gehen – schon gar nicht mit einer Präzisionswaffe aus dem Land der unbegrenzten Freiheit. „Wo ist meine Mutter und wo ist mein Vaterland?“, flüstere ich ruhig ausatmend mit gekrümmtem Finger. Eins, zwei, alles ist vorbei – sieben, acht, gute Nacht ... erklingt es in meinem Kopf, während das Projektil mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit den Lauf verlässt, den Orden zerfetzt und die Innereien des Staatschefs vor laufenden Kameras über die Tribüne verteilt.
... neun, zehn, kein Wiederseh’n - Quecksilber und Gold, welch luxuriöses Ende.
Gerne hätte ich ihn persönlich gefragt, Auge in Auge, nur mit einem Mikrofon bewaffnet, doch die Antwort eines notorischen Lügners hätte mich gewiss nicht befriedigt.
Heimatlos ist nicht gleich wehrlos – das hätte er sich einprägen sollen, als er noch die Gelegenheit dazu hatte ..., denke ich, während die Zielperson in sich zusammensackt.
Die rekrutierten Fahnenschwenker und Blumenkinder, die den Weg zur Ehrentribüne säumen, verhalten sich seltsam gefasst – so als hätten sie mit diesem Vorfall gerechnet oder ihn seit langem herbeibesehnt.
Sie kennen mich nicht, aber sie lieben mich.
In gut einem Kilometer Entfernung versuchen Bodyguards, die ausländischen Gäste aus der Todeszone zu entfernen. Der Chef der gefürchteten Geheimpolizei steht erstarrt neben dem sterbenden Präsidenten und scheint die Situation noch nicht begriffen zu haben.
Gute Gelegenheit, reinen Tisch zu machen.
Ich lade nach – einziges Manko solcher Hightech-Waffen: Sie besitzen kein automatisches Magazin, da der Ladevorgang die handgearbeitete Munition beschädigen könnte – ein kleiner Kratzer nur, und ich würde auf diese Entfernung vielleicht Unschuldige verletzen, was ich mir nie verzeihen könnte. Der horizontale Faden befindet sich exakt zwischen Kinn und Stirn. Ich kann mich an das Gesicht meiner Mutter nicht mehr erinnern – warum soll man sich also an sein Gesicht erinnern können? Die Auswirkungen des Projektils sind grauenvoll, doch es muss sein – wenn ich es nicht mache, dann macht es niemand. Sein boshaftes Gehirn zerplatz wie eine Seifenblase.
Onewayticket – zehn, eins - Willkommen in der Hölle.
Zwei auf einen Streich – mehr als ich erhofft hatte.
Während ich meine unüberhörbare Frage wieder auseinander baue und in die samtbeschlagenen Ausbuchtungen des Reisekoffers verstaue – dem einzigen Überbleibsel meiner Kindheit, dem internationalen Symbol der Heimatlosigkeit – schweift mein Blick über ein benachbartes Hochhaus. In der zwölften Etage arbeiten Regierungsangestellte, im darüber liegenden Stockwerk versperren Jalousien die Sicht. Die Folterknechte haben nichts dazugelernt. Und sie werden es auch nie, wenn ich nicht weiterhin meine gezielten Fragen stelle.
Ich steige die Feuertreppe hinab und betrete den obersten Flur meines Hotels. Im Zimmer greife ich nach Fotoapparat und Presseausweis, fahre mit dem Fahrstuhl nach unten und laufe mit schwarzem Rock und Kopftuch bekleidet über den Festplatz. Meine Kollegen umlagern die Absperrung, knipsen, kritzeln und telefonieren. Ich halte den Presseausweis hoch und kämpfe mich durch, um mir eine gute Position für meine Fotos zu sichern. Wie geplant, lebt der Sekretär noch. Notärzte versuchen, seine Eingeweide in den Bauchraum zu stopfen, doch es ist nicht mehr viel vorhanden, was sich zurückstopfen ließe. Für einen Sekundenbruchteil kreuzen sich unsere Blicke. Ich lächle und drücke auf den Auslöser, während er mit offenen Augen und schmerzerfülltem Aufschrei stirbt. Diese Antwort ist ehrlich und befriedigt mich. Er wird zumindest ein Grab haben, an dem seine Angehörigen trauern können. Einige Meter entfernt liegt der Chef der Geheimpolizei. Von ihm ist nicht mehr viel übrig, was seiner Identifizierung dienen könnte. Im wahrsten Sinne des Wortes hat er sein Gesicht verloren. Ich fotografiere ihn dennoch, um mich für den Rest meines Lebens an diesen Anblick erinnern zu können. Nun weiß ich, warum meine Mutter ihr kleines Mädchen zurückgelassen hatte ...

Reflexion

Die Vorhalle des Hotels gleicht der Redaktion einer großen Tageszeitung. Eiligst wurden Tische aufgebaut und Telefonleitungen verlegt. Ein weltumspannendes Stimmengewirr raunt durch den Saal. Die Reporterkollegen diktieren die Berichte als Augenzeugen eines feigen, hinterhältigen Mordanschlages. Sie sprechen von „Terrorismus“ und entwerfen Zusammenhänge internationaler Verschwörungen. Niemand fragt nach den wahren Hintergründen – niemand macht sich die Mühe, die Vergangenheit des Sekretärs zu durchleuchten. Ich verbinde mein Notebook mit einer freien Leitung, um die letzten Bilder des sterbenden Staatschefs an die Agentur zu senden. Für den Text sind andere zuständig, ich bin nur eine Fotografin mit einem scharfen, geschulten Auge. Die Fotos werden mich berühmt machen ... bekannter, als ich es mir leisten kann. Was wäre, wenn ein Kollege auf die Idee kommen sollte, meine Vergangenheit mit der des Sekretärs zu vergleichen?
Mein Finger schwebt unschlüssig über der Sende-Taste.
Was ist wichtiger, liebe Mutter, Wahrheit oder Leben?
Das Stimmengewirr verstummt und der Saal löst sich vor meinem geistigen Auge auf. Ich bin wieder ein kleines Mädchen, das allein und verlassen auf dem Dorfplatz steht. Jalousien öffnen und schließen sich, Traktoren wälzen sich über Pferdegespanne und werden wiederum von Panzern zermalmt. Der Dorfschullehrer und der Bürgermeister besaßen Gesichter, wie alle anderen ehemaligen Bewohner meiner Heimat, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Wie viele Menschen mögen in diesem Augenblick verschwinden? Brüder, Schwestern, Väter und Mütter. Wird ein Foto oder ein Zeitungsbericht etwas daran ändern können?
Ich drücke die Lösch-Taste und schicke einige schlechte Aufnahmen aus der hinteren Reihe. „Tut mir leid“, schreibe ich in die Begleit-Mail, „ich kam nicht näher heran.“ Sie werden es verstehen – schließlich bin ich eine zierliche Frau, die nicht mit stählernen Ellenbogen bewaffnet ist. Um nicht mit leeren Händen dazustehen, füge ich auftragsgemäß eine Serie stimmungsvoller Landschaftsbilder an und beschließe, umgehend abzureisen.

Der Flughafenbeamte wirft einen kritischen Blick in meine Papiere und winkt einen Herrn vom Staatschutz an den Tresen. Sie tuscheln miteinander.
„Was war der Grund Ihres Aufenthalts, Aischa B...?“
„Landschafts- und Tieraufnahmen für den Nature Globe.“
Er überprüft den Presseausweis und die Sondergenehmigung für Reisen in die östliche Provinz.
„Sie befanden sich zur Zeit des Attentats in der Hauptstadt?“
„Ja, leider ... schrecklich, was mit Ihrem Herrn Präsidenten geschehen ist.“ Ich mime Bestürzung und Mitgefühl, doch hinter meiner Fassade lächle ich tief in mich hinein. „Was mag nur in den Köpfen dieser kranken Terroristen vorgehen?“, füge ich betont aufgebracht hinzu.
„Aischa ist ein hiesiger Name“, erwidert er und starrt mich fragend und durchdringend an. In mir macht sich ein Gefühl breit, wie es sein muss, wenn man sich hinter der Jalousie befindet. Aber kein Blick der Welt ist stark genug, die Mauer meiner Selbstbeherrschung zu durchbrechen. Die letzte Träne der Angst vergoss ich mit sechs und ich hatte fünfzehn Jahre Zeit, um mich auf meine Heimkehr vorzubereiten. Zerlegen und Zusammensetzen, erst bei Licht, dann bei Dunkelheit, bis ich jeden Handgriff im Schlaf beherrschte und die Waffe zu einem Teil meines Körpers wurde: Dem langen Arm der Rache.
Ich schmunzle mit gespielter Verlegenheit. „Es war ein Tick meiner Mutter, mich so zu nennen – sie liebte dieses Land.“ Und das ist nicht einmal gelogen.
„Öffnen Sie bitte Ihren Koffer.“
Der Staatsschützer überprüft den Inhalt, wiegt ein massives Teleobjektiv in den Händen, schraubt es auf einen der Kamerakörper und schaut hindurch.
„Wozu braucht eine Naturfotografin ein Objektiv mit nachjustierbarem Dioden-Fadenkreuz?“
Gute Frage, denke ich, aber ich bin auch darauf vorbereitet.
„Um das Objekt einzumitten, da es am Rand zu Verzeichnungen und Lichteinbußen kommt. Keine Linse ist hundertprozentig fehlerfrei und meine Agentur bezahlt mich nur für absolut perfekte Bilder.“ Ich zeige ihm eine Mappe mit Aufnahmen scheuer Wildtiere, die sich scharf vom Hintergrund abzeichnen. „Blende elf, Entfernung tausendzweihundert Meter.“
Das scheint ihn zu überzeugen.
„Und was befand sich in diesen Fächern“, fragt er und deutet auf die samtbeschlagenen Ausbuchtungen.
„Erinnern Sie mich bitte nicht daran. Es war eine sehr teure Spezialausrüstung, die mir im Hotel gestohlen wurde ... doch zum Glück war sie versichert“, entgegne ich mit einem Augenzwinkern.
„Liegt dafür eine Diebstahlsanzeige vor?“
„Selbstverständlich.“
Das digitale Windmessgerät sowie Abzug und Ladeschloss hatte ich natürlich fachgerecht entsorgt und der Karbonfaserlauf ist ein unauffälliges Bauteil meines handelsüblichen Kamerastativs.
„Nun gut, entschuldigen Sie die Verzögerung. Kommen Sie, ich begleite Sie zu Ihrem Flieger.“
Galant, denke ich, äußerst galant für einen Handlanger der Folterknechte.
Wir durchschreiten den langen Abfertigungsterminal, der mir seltsam menschenleer erscheint. Mein Begleiter schaut sich in den Gängen um und zieht mich plötzlich in eine der Nischen, die nicht von Kameras überwacht werden. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals – war mein Auftreten doch nicht so überzeugend?
„Ich weiß, was du getan hast, Aischa“, flüstert er mir ins Ohr und ich erstarre. Die Jalousie senkt sich. Eins, zwei, alles ist vorbei ...
„... und es war richtig“, fügt er leise an und küsst meine Wange und Stirn, „der Stein ist im Rollen und wird dafür sorgen, dass auch die Zurückgebliebenen ihr Land eines Tages wieder lieben werden. Gott beschütze dich für deinen Mut und deine Kraft ...“
Daraufhin tritt er wieder auf den Gang zurück und sagt betont freundlich: „Zum Terminal drei geht es hier entlang, wenn Sie mir bitte folgen möchten?“
Ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann – soweit haben uns Bespitzelung, Verrat und Folter schon gebracht, doch als ich den Flieger besteige und im Abheben den Staatsschützer winken sehe, weiß ich, dass ich einen Freund und Verbündeten jenseits der Jalousie gefunden habe. Nun glaube auch ich, die ursprüngliche Heimat meiner Mutter eines Tages wiederzusehen.

***

Anm. des Autors:
Jede Art von Gewalt ist falsch, denn sie führt, wie man sieht, stets zu Gegengewalt. Wer das Buch "Heimat" gelesen oder den Film gesehen hat, kennt sicherlich auch den Spruch: "Solches kommt von Solchem." Es ist auch ein Irrglaube, man könne die Spirale der Gewalt durchbrechen, indem man der Schlange den Kopf abschlägt. Politische Schlangen sind Hydras, ihre Köpfe wachsen 100-fach nach. Nur eine friedliche Revolution, wie es uns unsere neuen EU-Partner im Osten vorgemacht haben, führt am Ende zu Freiheit und Demokratie - zu einer Heimat, in der es sich zu leben lohnt. Aischas Motivation ist nicht politisch geprägt, sondern sehr persönlicher Art: Das kleine Mädchen in ihr wartet nur auf die Rückkehr seiner Mutter. Sie hat alles verloren - und wer nichts mehr zu verlieren hat, wird unberechenbar. Das sollten vielleicht so einige Staatschefs unserer Welt bedenken ...
Die Namenswahl meiner Protagonistin steht in keinem Bezug zu realexistierenden Staaten – sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt.
(R. „ritch“ Funke)

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