Ganz schön bissig ...
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Mai 2004
Die Geschichte vom Stacheldraht
von Gerlinde File

Es war einmal ein junger Mann, dem starb sein Vater, und er hinterließ ihm nichts weiter als einen Lagerschuppen, der vom Boden bis zur Decke gefüllt war mit Stacheldraht. Der Vater hatte es als sein Lebenswerk betrachtet, alles und jedes mit Stacheldraht zu versehen, um Sicherheit zu schaffen, wie er sagte. Aber der Junge haßte Stacheldraht, so wie er seinen Vater bisweilen gehaßt hatte. Obwohl dieser Draht ein schönes Sümmchen Geldes wert war, wollte er ihn nicht einmal verkaufen, denn dann hätte eben der Käufer den Draht ringsum durch die Landschaft gespannt, und dazu wollte der etwas ratlose Erbe nicht Vorschub leisten.
Er hatte viel mit seinem Vater gestritten, unser Held, und er hatte sich oft danach gesehnt, endlich Ruhe zu haben, aber jetzt, da der Vater tot war, hatte sich eine ungeheure Leere in seinem Leben breit gemacht und er wußte mit sich und seiner Umgebung nichts Rechtes mehr anzufangen. Unter der strengen Aufsicht des Vaters hatte er immer hart gearbeitet und sich auch ein schönes Sümmchen Geldes auf die Seite gebracht. Dieses Geld holte er jetzt von der Bank. Er packte das Nötigste in einen kleinen Koffer, setzte sich in den nächsten Zug und fuhr auf und davon. Er reiste kreuz und quer, mal da und mal dorthin, schaute sich an, was man ihm als sehenswert empfahl, beobachtete die Leute, wie sie alle geschäftig ihre Ziele verfolgten, aber nirgends fühlte er sich zugehörig, nur völlig überflüssig, und ruhelos suchte er bald wieder das Weite.
Auf seiner rastlosen Suche legte er immer größere Entfernungen hinter sich und eines Tages gelangte er in eine weite, öde Gegend, die war so ganz anders als alles, was er von zu Hause gewohnt war. Die Landschaft war felsig und karg, überall dorniges Gestrüpp. Nur da und dort fand er einen wunderschönen, riesigen Kaktus. Diese seltsamen Pflanzen hatten es ihm vom ersten Moment an angetan. Schon als er den ersten Kaktus sah, blieb er wie angewurzelt davor stehen, betrachtete ihn lange, und es wurde ihm so seltsam traurig ums Herz. Erst konnte er sich das nicht erklären, aber dann wurde ihm klar: Diese stacheligen Gesellen erinnerten ihn an den vielen Stacheldraht, den er zu Hause zurückgelassen hatte, und natürlich an seinen Vater.
Unser Landstreicher trieb sich eine ganze Weile in dieser Gegend herum. Bei jedem Kaktus blieb er stehen, betrachtete ihn lange, lernte ihn von anderen unterscheiden und manchmal geschah das Wunder, daß ihn einer dieser abweisenden Gesellen mit einer riesengroßen, roten Blüte beglückte. Wenn er so eine Blüte gefunden hatte, blieb er stundenlang davor stehen,und immer wieder endete das Schauspiel damit, daß die Blüte zu welken begann und in sich zusammenfiel. All die wehrhaften Stacheln ringsherum konnten das nicht verhindern, Kaktusblüten blühen nur für einen Tag. Anfangs weinte er, wenn er sich von so einer Blüte verabschiedete, aber mit der Zeit begriff er, daß es gerade diese kurze Lebensspanne war, die die Blüten so kostbar machte, und er begann dabei, über sein eigenes Leben nachzudenken.
In seinem Herzen erwachte die Sehnsucht nach der Heimat, die er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Er packte sein Bündel und schon kurze Zeit später stand er vor seinem Haus, das unverändert am Rande der Straße saß, als ob es auf ihn gewartet hätte.
Zuerst ruhte er sich aus von der Reise, aber schon am nächsten Tag ging er in den Lagerschuppen und betrachtete nachdenklich die vielen Rollen Stacheldraht, die sich vor ihm türmten. Dann ging er hinaus in den Garten, hob ein Loch von etwa einem Meter Durchmesser aus, füllte dieses Loch mit großen Bachkieseln, holte sich aus dem Schuppen eine Rolle Stacheldraht und versuchte, daraus einen Kaktus zu bauen. Am Angfang war das schwierig, denn er wußte noch nicht so recht wie er das anstellen sollte. Er stach sich bei der Arbeit die Finger und sonst was blutig, aber er gab nicht auf, begann immer wieder von vorne, arbeitete immer langsamer und bedächtiger und zuletzt stand ein wunderschöner Kaktus aus Stacheldraht vor seinem Haus. Einer war ihm nicht genug: Er bastelte noch einen und noch einen, jeden noch schöner als den vorherigen. Er wurde dabei immer geschickter und es kam fast nie mehr vor, daß er sich dabei an den Stacheln des Drahtes stach.
Die Leute, die am Haus vorbeikamen, blieben stehen, um sich diese seltsamen Gebilde anzusehen. Sie verwickelten den Hausherrn in lange Gespräche über Leben und Tod und über den Sinn und Unsinn von spitzen Stacheln, und so mancher wollte danach so einen Stacheldrahtkaktus mit nach Hause nehmen. Da begann der Mann, etwas kleinere Drahtkakteen in Blumentöpfe zu pflanzen. Das Geschäft florierte, ja es wurde ein richtiger Modegag, zwischen den richtigen Kakteen am Blumenfenster einen Gesellen aus Draht aufzustellen.
Der Mann wurde zwar nicht reich, aber er hatte ein gutes Auskommen und mit der Zeit schmolzen die Türme von Stacheldraht in seinem Lager dahin. Voll Wehmut dachte er dabei manchmal an seinen Vater zurück, der ihm all diesen Stacheldraht hinterlassen hatte, wie er diesen Draht anfangs gehaßt und wie er ihn lieben gelernt hatte. Er wurde selbst ein alter Mann und eines Tages holte er das letzte Stück Stacheldraht aus dem Schuppen und bastelte daraus den kunstfertigsten und schönsten Kaktus, den er je gemacht hatte. Dann ging er schlafen, wie einer, der ein großes Werk vollendet hat.
Am nächsten Tag fanden ihn die Leute tot in seinem Bett. Sie trugen ihn hinaus auf den Friedhof und setzten den letzten Kaktus, den er gemacht hatte, auf sein Grab.

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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