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Philipp Rebmann hätte nie gedacht, dass er den heutigen Tag einmal herbeisehnen würde. Er durchquerte das Büro, trat ans Fenster, spreizte die Jalousie auseinander, um einen Blick auf die Pforte des Friedhofes zu werfen. Noch nichts zu sehen. Heute, am 3. Mai, vor drei Jahren, hatte er seine Frau Esther, auf dem Stadtfriedhof, der auf der anderen Straßenseite des Bürogebäudes lag, beigesetzt. Ob sie sich heute wieder sahen?
Philipp schämte sich. Nicht etwa, weil er an Esther dachte. Nein, weil sie mehr und mehr in Vergessenheit geriet, seit er der Frau in dem weinroten Kleid begegnet war. Er ging zurück zum Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen, drückte die Lehne in eine bequeme Stellung, kritzelte kleine Ringe auf seinem Block und fragte sich, ob es sich lohnte zu warten. Immer wieder blickte er auf seine Armbanduhr. Er war erschöpft, die letzten Stunden erwiesen sich als die schlimmsten. Angst begleitete das Gefühl der Hoffnung. Wartete er vergeblich?
Drei Monate erhielt ihn die Hoffnung am Leben. Seit dem Tag, an dem man Esther begraben hatte, vergingen seine Tage leer und ohne Freude. Und dann vor zwei Jahren begegneten sie sich zum ersten Mal, an Esthers Sterbetag, als er ihre Grabstätte besuchte. Schweigend standen sie da, im schmalen Gang zwischen den Gräbern, fast nah waren sie sich. Seine Gedanken waren in diesem Moment nicht bei Esther. Philipp sah zu der Frau mit den dunklen Haaren und dem weinroten Kleid. Sie erwiderte seinen Blick und lächelte. Als sie fort war, trat er an das Grab mit dem grünen Granitstein, auf das sie geblickt hatte und las die Inschrift. Frederik Pfalzgraf. Er war auf den Tag genau, ein Jahr vor Esther gestorben.
Danach begegneten sie sich noch viermal. Sie nickten sich zu, lächelten und gingen zögernd und für unbestimmte Zeit auseinander. Philipps Verlangen ihr zu folgen wurde übermächtig. Die Wochen vergingen, der Wunsch sie wieder zusehen, wurde immer stärker.
Irgendwann ertappte er sich, beim studieren der Telefonregister. Er stieß auf einige Pfalzgraf, unschlüssig schlug er das Telefonbuch zu und unternahm nichts. Vielleicht fand doch alles nur, in seiner Phantasie statt. Immer öfter stand er am Fenster und starrte hinunter auf das Friedhofsportal. Mit der Zeit wurde klar, dass sie höchst selten kam. Er hatte die Tage am Kalender markiert. Heute an Frederiks Sterbetag, würde sie erscheinen. Sein Name war ihm schon vertraut, wie der eines Freundes, der ein Geschenk für ihn bereithielt. Als der Zeiger der Wanduhr auf sieben sprang, knipste Philipp die Schreibtischlampe aus. Er war der Letzte, wie immer seit Esthers Tod. Seine Tage waren überladen von Aktivitäten, die keine Zeit zum nachdenken boten. Er verließ das Bürogebäude und ging mit großen Schritten das Trottoir entlang, bemerkte es und verlangsamte seinen Gang. Er hatte noch Zeit, gewöhnlich kam sie gegen halb acht.
Er überquerte die Straße, ein Entgegenkommender grüßte ihn. Philipp nickte, hielt den Kopf gesenkt. Nichts durfte ihn aufhalten. Drei lange Monate hatte er auf diesen Moment gewartet. Wer würde das verstehen. Sein Schritt beschleunigte sich wieder. Er betrat den Friedhof und folgte dem Kieselsteinweg, der wie ein weißes Band zwischen den Grabreihen lag. Erinnerungen schlichen in Philipps Kopf. Er und Esther, er lächelte bei dem Gedanken, sie hatten sich von Kindesbeinen an gekannt und es hatte nie eine andere Frau, in Philipps Leben gegeben. Er sah sie vor sich, bleich an Seidenkissen gelehnt, mit sehnsuchtsvollem Blick ins Leben. Die entsetzliche Diagnose, hatte den Glanz aus ihren Augen genommen. Die Zeit zerrann in ihren Händen. Der Cocktail aus Morphin, machte Esther zu einer Zeitreisenden. Sie sprach über Dinge die lange vergangen waren und sie vermischte die Ereignisse, wie sie gerade in ihre Erinnerung kamen. Sie lachte, wenn Philipp dem heulen nahe war und sie weinte, wenn er Glück empfand. Es war schwer das sterben, doch konnte der Tod überhaupt leicht sein? Vor Esthers Grab blieb er stehen und sah sich um. Die Blumenvase auf Fredericks Grab war noch leer. Gott sei Dank, sie war noch nicht hier gewesen. Er war erleichtert und sein Herz klopfte schneller, bei dem Gedanken an sie. Er beobachtet jeden einzelnen Passanten genau. Noch nie hatte er vergessen Blumen für Esther zu kaufen, heute war es geschehen. Ärgerlich zog er den verwelkten Strauß aus der Vase, wühlte mit der anderen Hand in seiner Hosentasche, nach ein paar Euro und beschloss sich heute mit einem bescheidenen Gebinde aus dem Automaten, der sich vorne am Portal befand, zu begnügen. Er hoffte, Esther würde ihm verzeihen. Als er zurückkam, erschrak er zutiefst. Fassungslos starrte er auf ein frisches Blumengebinde, dass nun Frederik letzte Ruhestätte zierte.
„Philipp Rebmann, Du bist ein Dummkopf“, verfluchte er sich selbst. Aufgewühlt sah er sich um, rannte zum Eingang zurück, danach zum Ostausgang des Friedhofes. Nichts! Er gab nicht auf, selbstquälerisch suchte die einzelnen Grabreihen ab und die kleine Kapelle. Erschlagen ließ er sich schließlich auf eine Bank fallen, vergrub sein Gesicht in seine Hände. Philipp versuchte seine Gedanken zu ordnen. Gut, er wusste was zu tun war. Er hatte alles für diesen vernichtenden Moment vorbereitet. Sein Dasein hatte den Tiefpunkt erreicht. Es war Zeit zu handeln. Der handgeschriebene Brief steckte in der Innenseite seines Sakkos. Nie wieder, wollte er wartend aus dem Bürofenster starren, das hatte er sich geschworen. Er saß bis in die Dunkelheit unter dem Akazienbaum, durch den der Abendwind strich. Als die Enttäuschung nachließ und er statt ihrer gar nicht mehr empfand, trottete er, die Hände in die Hosentaschen vergrabend, davon.
„Philipp,... Philipp Rebmann.“ vernahm er eine weibliche Stimme.
Er hob den Kopf. Vor sich, im halbdunkeln, entdeckte er eine schmale Silhouette. Die Gestalt näherte sich langsam und trat vor ihn. Lange standen sie sich schweigend gegenüber.
„Du kommst spät!“ sagte er erleichtert.
Sie lächelte.
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