Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Mai 2004
Hoffnung ist ein kaltes Wort
von Andreas Seiller

Mein Name ist David. Einfach David!
Ich wurde im Jahre 1850 geboren, wahrscheinlich im Mai,
aber dies weiß hier keiner genau, da man mich eines Morgens, in eine alte Decke gehüllt, vor der Eingangstür dieses Kinderheimes in Münster fand.
In diesem „Kinderwaisenhaus“, welches vor wenigen Jahren ins Leben gerufen wurde, nahm man mich als neuen Zögling auf.
Da ich namenlos war, gab mir eine der Ordensschwestern den Namen David.

Meine Erzeuger hatten mich einfach der Barmherzigkeit anderer Menschen überlassen. Oftmals fragte ich mich warum… Trauer und Hass empfand ich bei dem Gedanken an diese Menschen, die mich aus ihrem Leben verstoßen hatten.
Nicht einmal einen Namen hatten sie mir zugebilligt.

Nun wuchs ich also hier in diesem Kinderheim auf, zusammen mit anderen Jungs und Mädchen, wobei eine sehr strikte Trennung der Geschlechter durchgeführt wurde. Ich fand, dass dieses veraltete, kalte Gemäuer eher einem Käfig glich, als dass es für Kinder geeignet schien.
Ich teilte den Schlafraum mit vierzig Jungen und da die Anzahl der Betten nicht ausreichend war, schliefen einige zusammen oder mit einer dünnen Decke auf dem nackten Holzboden.
Im Bett neben mir lag Anthonius, ein kleiner, schmächtiger Junge, dessen
Beine verkrüppelt waren, weswegen er immer in einem alten Rollstuhl saß.
Wir waren Freunde geworden und ich fühlte mich für ihn verantwortlich da er sonst niemanden hatte. Oft, wenn er nachts in seinem Bett lag und leise weinte, kroch ich unter seine Decke und hielt ihn so lange in meinem Arm, bis
er ruhig schlief. Ich liebte ihn wie einen Bruder und wenn er von einem anderen Kind gehänselt wurde, dann schlug ich wütend zu, was oftmals eine Prügelstrafe nach sich zog. Schon bald waren meine Handflächen von den Schlägen mit einem harten Weidestock gezeichnet.
Anthonius Freundschaft und die Aufgabe, ihn wie einen Bruder zu beschützen
und stets für ihn da zu sein, machte mir das Leben in diesem Hause etwas erträglicher.
Mit bereits sieben Jahren gehörte ich zu den ältesten und konnte mich mittlerweile auch mit meinen Fäusten durchsetzen, wenn es darum ging, ein Stück trockenes Brot mehr ergattern zu können. Ich teilte dies stets mit Anthonius, damit er Kraft bekam, um seinen Rollstuhl alleine bewegen zu können. Liebe erfuhren wir an diesem Ort nur sehr wenig. Die meisten Ordensschwestern scheuten jede körperliche Berührung, die wir uns doch sosehr wünschten.
Nur eine warme Hand auf der Stirn, eine zärtliche Berührung an der Wange...
Zuneigung.

An den „Elterntagen“, wie wir diese nannten, presste ich,
zusammen mit Dutzenden weiterer Kinder, meine Nase an den vergitterten Fenstern platt und hoffte, dass jemand kam, der mich auserwählte,
der mich, anstelle eines eigenen Kindes, in seine liebevolle Obhut nahm.
Doch neben dieser Hoffnung empfand ich zugleich eine große Angst;
Was wäre, wenn man Anthonius auswählen würde? Oder wenn die Wahl auf mich fallen würde, wer wäre dann für Anthonius da?
Könnte vielleicht das Wunder geschehen, dass man uns beide in eine Familie aufnahm?
Ich sprach jede Nacht ein stilles Gebet für dieses Wunder und hoffte, dass Gott mich erhören würde.
Doch mein Wunsch blieb unerfüllt und von Jahr zu Jahr schwand meine Hoffnung immer mehr, jemals dieses Heim verlassen zu können, um irgendwo eine neue Heimat zu finden, in der ich mich wohlfühlen konnte.

Das Leben an diesem Waisenhaus war von harter Arbeit und schlechtem Essen geprägt.
Ab dem frühen Morgen mussten wir die Zimmer reinigen, in den Gärten jäten,
Obst von den Bäumen pflücken, Schuhe putzen und danach begann der Schulunterricht der bis in den späten Nachmittag andauerte.
Wie die Ordensschwestern selbst lebten wir hier nur sehr bescheiden, was unser Essen betraf und so kam es nicht selten vor, dass mir am Abend im Bett der Magen knurrte.

„Kinder, bitte versammelt euch alle in der Halle“, flötete die freundliche Stimme von Schwester Angelika durch das Gebäude. Ihre Stimme klang sonst immer strafend; nur an diesen Tagen war sie auf seltsame Art freundlich.
Wie Ameisen strömten wir Kinder voller Erwartung in die Halle hinab.
Dann standen wir in unseren besten Kleidern und gekämmten Haaren,
ängstlich und neugierig zugleich, in einer langen Reihe in der Halle.
Die Mädchen in ihren schwarzen Röcken standen uns Jungen gegenüber und in der Mitte, zwischen uns, zwei Kinderbetten – mit unseren neuesten Bewohnern, die quäkend auf sich aufmerksam machten.
Diese hilflosen Schluchzer zogen – wie fast immer – auch die Augen der vermeintlichen neuen Eltern magisch an. Kleinkinder und Babys waren als Adoptivkinder sehr beliebt.
Ich beobachtete die zierliche Frau mit ihren blonden Haaren sehr genau.
Ihr Gesichtsausdruck beim Anblick der beiden Säuglinge verriet mir sofort, dass auch sie viel lieber ein kleines Kind bei sich aufnehmen wollte.
Und ich behielt Recht.

Dutzende Hoffnungsblasen zerplatzten, als das junge Ehepaar Schwester Angelika nach kurzer Zeit zunickte.
Das Geschäft war abgeschlossen – ein Heimatloser hatte ein neues Zuhause und damit Menschen gefunden, die ihn vielleicht liebten, die seine Herkunft eventuell verschweigen würden – in guten wie in bösen Zeiten.

Ich sah die Tränen in den Augen meiner Heimgenossen, spürte ihre Verzweiflung und den Neid, den ich bereits Dutzende Male selbst empfunden hatte.
Meine Tränen waren längst versiegt und meine Verzweiflung hatte meinen Charakter gefestigt.
Neben mir saß Anthonius in seinem alten Rollstuhl.
Er weinte stille Tränen und ich legte ihm meine Hand auf die schmale Schulter. Ich schämte mich dafür, dass ich erhofft hatte, dass wir zusammen blieben und nicht durch dieses Paar getrennt wurden.
Seine Tränen liefen ihm über die blassen Wangen. Anthonius war ja erst fünf – im Gegensatz zu mir somit noch ein kleines Kind.
Durch seine Lähmung würde er wohl niemals in den Genuss neuer Eltern kommen und mit mir zusammen die nächsten Jahre in diesem Heim verbringen, welches niemals unser Zuhause sein konnte.
Vielleicht würden wir in ein paar Jahren eine Heimat finden in der wir glücklich sein konnten. Noch waren wir kleine, schwache Kinder aber die Zeit rückte näher, in welcher wir dieses Heim zusammen verlassen würden.



Mail: aseiller@web.de
Homepage : www.seillerbuch.de

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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