Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Mai 2004
Heimatlos
von Andreas Mahringer

Sie hatte die schwarze Hose mühelos zubekommen – ein Zeichen, daß sie in den letzten Monaten abgenommen hatte. Denn noch zu ihrem Geburtstag im September, also vor etwa acht Monaten, hatte sie die selbe Hose nur unter äußerster Anstrengung schließen können.
Während sie die schwarze Bluse zuknöpfte, schaute sie sich in den Spiegel, ob ihre Erscheinung auch nicht allzusehr den Schmerz reflektiere, der sie so tief in ihrem Herzen quälte.
Die neuen Schuhe passten zwar nicht wie angegossen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit ihnen anzufreunden – zumindest an diesem Tag und vielleicht noch die nächsten Wochen, bis die Zeit des offiziellen Trauerns vorbei war.
Sie nahm die schwarze Handtasche und vergewißerte sich, ob sie auch genug Geld mithabe – schließlich mußte sie heute für das Mittagessen bezahlen – und es waren an die zwanzig Gäste, die sie geladen hatte. Ob dies freiwillig geschah oder nicht, spielte keine Rolle; sie hielt sich dabei genau an die Anweisungen, die er ihr in seinem letzen Willen hinterlassen hatte.
Zum ersten Mal in mehr als fünfzig Jahren war sie auf sich allein gestellt, ohne ihren Mann an ihrer Seite! Sie war zwar gewohnt, mit Geld umzugehen, dennoch wog sie sich all die Jahre immer in Sicherheit, jedliche belastende Verantwortung nicht allein tragen zu müssen. Er war ihr immer eine Stütze gewesen und hatte sie stets treu und loyal im Leben begleitet.
In diesem Moment läutete die Türglocke. Sie wußte, daß dies ihre Tochter war, die sie abholte, um den endgültigen Weg ihres Gatten anzutreten – zu letzten Mal an seiner Seite, als seine Frau, und ihm das letzte Geleit zu geben.
Sie schloß die Tür, sperrte zweimal zu – eine Gewohnheit, die sich die letzten fünfzig Jahre nicht geändert hatte. Was aber anders war, war die Person, die diese Tat vollbrachte: Es war ab nun sie, sie ganz allein.

“Hast du ein wenig schlafen können?” fragte ihre Tochter, während sie sich in das Auto setze und den Sicherheitsgut ansteckte.
“Es geht. Ich habe eine Tablette genommen.” Ihre Stimme war still und fast emotionslos, aber zur Überraschung ihrer Tochter doch sehr gefaßt und sicher.
Während sie durch das Dorf fuhren, am Stadtplatz, an der Volksschule und am einzigen Supermarkt vorbei, meinte sie, ihr Kopf würde explodieren: Tausende von Erinnerungen, die sich in ihrem Gemüt festsaugten, befielen sie wie Hagelkörner, die schmerzhaft und vehement auf ihre Seele prasselten. Jeder Fleck dieses Dorfes war erfüllt von unzähligen Momenten des gemeinsam Erlebten. Jeder Millimeter rief Gefühle, Bilder, Geräusche, Gerüche, Augenblicke hervor, von denen sie wußte, daß sie, auch wenn sie in ihr weiterlebten, nun endgültig vorbei und unwiederbringlich waren. Langsam aber sicher würde die Zeit ihren grauen Schleier darauf legen und sie immer blasser werden lassen. Vielleicht schmerzte sie das am meisten: Sie war eine geborene Sammlernatur und konnte sich nur sehr schwer von etwas trennen. Die Gewißheit, daß die Verwesung ihrer gmeinsamen fünfzig Jahre, dieses Lebens, das sie sich gemeinsam aufgebaut und geschaffen hatten, unvermeidlich war, schien ihr jegliche Kraft zu rauben.
“Kommst du zurecht, Mutter?” fragte ihre Tochter.
Aus dem Fenster schauend nickte sie schweigend.
Wortlos fuhren sie weiter. Kurz darauf kamen sie an der Leichenhalle an. Es waren noch fast keine Gäste anwesend, was sie ein wenig erleichterte. Was würden die Leute sagen, wenn die Witwe zu spät kommt?
Sie stieg aus dem Auto. Die paar Trauergäste bekundeten ihr aufrichtiges Beileid. Fast alle sprachen mit einem weinerlichen Ton in ihrer Stimme. Sie selbst aber bewahrte die Fassung und keine einzige Träne war ihr bisher entkommen.
Schweigend näherte sie sich dem Podium, auf dem der Sarg aufgebahrt war. Sie machte ein Kreuzzeichen wie sich das gehörte, auch wenn sie in diesen Momenten nicht an ihren Gott glauben konnte.
In dieser Kiste waren nun die letzten Reste ihres Mannes, der noch vor wenigen Tagen – mit seiner schweren Krankheit, mit dem Tod und mit sich selbst ringend – in ihrer gemeinsamen Wohnung gelegen hatte, zu schwach, um auch nur allein Nahrung zu sich zu nehmen, von Aufstehen war keine Rede mehr, und auch das Sprechen hatte ihn schon sehr viel Kraft gekostet. Jetzt hatte er seinen ewigen Frieden, und sie wußte, daß es so gut war. Aber sie vermißte ihn. Sie wußte nun - nach dem Schrecken des qualvollen Sterbens, nach dem Besuch des Todesengels, der ihm die letzte Luft aus seinen Lungen gerissen, und seine Seele aus dem Körper entführt hatte, - daß sie allein war. In ihrem Alter mußte sie sich auf eine vollkommen neue Situation einstellen. Und wer blieb ihr noch? Zu ihren Freundinnen, wenn sie nicht schon verstorben waren, pflegte sie keinen engen Kontakt. Das hatte sie noch nie gemacht, und in den letzten Jahren – bedingt durch seine schwere Krankheit - galt ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem, der da vor ihr ruhte. Sie hatte noch ihre kleine Familie – gottseidank. Auf ihre beiden Töchter konnte sie sich blind verlassen. Sie waren immer da, und das gab ihr Kraft und Trost. Ihr Sohn litt selbst an einer unheilbaren Krankheit und konnte sie deshalb nie besuchen. Sie hoffte nur, daß es ihr um Gottes willen erspart bliebe, auch ihn eines Tages zu Grabe tragen zu müssen! Sie gab sich nun alle Mühe, den reißenden Fluß an Trauer, der plötzlich in ihrem Inneren aufzusteigen begann und durch ihre Augen nach außen wollte, zu unterdrücken und beschloß, die Totenhalle zu verlassen.
Sie träufelten noch, so wie sich das gehörte, ein paar Tropfen Weihwasser auf den Sarg und verließ dann die Leichenhalle, um die ankommenden Trauergäste zu empfangen.

Wortlos folgte sie dem Sarg, den sechs Gendarmen trugen. Die Gendarmeriekapelle des Dorfes begleitete mit militärisch klingender Marschmusik seinen letzten Weg und verlieh ihrem Mann damit die Würde, die er sein ganzes Leben ausgestrahlt, und die sie immer an ihm bewundert hatte. Während des Gottesdienstes konnte sie keinen klaren Gedanken fassen, zu heftig prasselte der Hagel an Erinnerungen auf sie ein.

Wie aus der Ferne vernahm sie Fragmente der Rede, die ein ehemaliger Arbeitskollege von der Bezirkhauptmannschaft hielt: Karl M. sei, durch eine harte Kindheit bei strengen Zieheltern und einer Jugend geprägt von totalitären Ideen im Schatten eines schrecklichen Krieges aufgewachsen, habe aber – vielleicht gerade dadurch – einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn entwickelt, den er im Beruf des Gendarmen und als Angehöriger der sozialistischen Partei des Landes, an deren Ideale er glaubte, augelebt… Er sei ein guter Mann und Vater gewesen … habe es geliebt zu reisen … die lange Krankheit sei wie ein Schatten über seinen letzten Lebensjahren gelegen und habe ihn gezwungen, in völliger Abgeschiedenheit der Öffentlichkeit zu leben …

Während der hölzerne Sarg in das Grab gesenkt wurde, fühlte sie nichts. In genau jenem Moment empfand sie weder Trauer noch Verzweiflung. Sie konnte nicht einmal denken. Auch der Hagel in ihrem Herzen hatte aufgehört und war der Leere gewichen. Jeder der Trauernden schien sie – zumindest aus den Augenwinkeln – zu beobachten. Und alle bewunderten ihre Fassung, ihre Ruhe und die Würde, die sie ausstrahlte. Viele der anwesenden begannen spätestens in diesem Moment zu weinen, oder konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten. Dies geschah nicht so sehr aus Mitgefühl, sondern vielmehr aus Furcht, aus Verzweiflung, die sie in sich trugen, es möge sie nur kein ähnliches Schicksal erwarten: Nach einem mühevollen, langen Leidensweg doch verlieren und sich unwillentlich den kalten Händen des Todes hingeben zu müssen. Im Grunde ihres Herzens wußten sie alle, daß sie früher oder später damit rechnen mußten. Der Tod verschonte niemanden. Und auch die Form, in der er – früher oder später - nach einem greifen würde, war ungewiß und keinem bekannt. Diese Ohnmacht, ja Hilflosigkeit, ließ sie schaudern.
In diesen Augenblicken versuchten die Anwesenden, ganz besonders aber die Töchter und der Sohn, der – an den Rollstuhl gefesselt – ebenfalls beiwohnte, ihre Erinnerungen unter Kontrolle zu haben, denn gerade diese unwiederbringlichen Bilder, Momente und Erlebnisse an den geliebten auf ewig unerreichbaren Menschen waren es, die das Feuer der Verzweiflung entfachten, das keine Tränen der Welt zu löschen vermochten.
Doch sie blieb ruhig und kontrolliert. Sie warf die handvoll Erde und den Blumenstrauß, den sie von ihren Töchtern besorgen hatte lassen, still und sanft in das Loch in der Erde und dachte nichts.

Der Leichenschmaus verlief ohne Zwischenfälle. Ihr Enkel, den sie sehr selten sah, saß neben ihr. Das beruhigte sie, denn sie hatte seitdem er ein kleiner Bub gewesen war, eine sehr enge Bindung zu ihm gehabt. Und diese Bindung war noch immer aufrecht und sollte hoffentlich noch lange so bleiben.

Nach der Mahlzeit, die – obwohl die Küche des Restaurants berühmt war für ihre Vorzüglichkeit (und auch an diesem Tag ihrem Ruf mühelos gerecht wurde) - keinem so richtig zu munden schien, begannen die Geladenen sich zu verabschieden. Zuerst vereinzelt, dann machten sich fast alle auf den Weg. Am Ende blieb nur der enge Familienkreis übrig: Ihre Töchter, deren Ehemänner und Kinder.

Wieder begann der Hagel in ihr, und die Bilder schienen immer schneller in ihr hochzukommen. Oder kamen sie von außen? Sie wußte es nicht mehr. Sie fühlte nichts mehr. Ihr war, als ob sie sich in einem Schneesturm in einer kalten Winternacht befand, obwohl es an diesem Maitag ausgesprochen heiß und sonnig war. Dennoch herrschte in ihrer Seele tiefster Winter. Sie nahm ihr Umfeld nur mehr sehr vage wahr, so wie es ist, wenn man seine eigene Hand vor Schnee und Wind nicht mehr vor Augen sieht, und die beißende Kälte nicht mehr klar denken läßt.

Ihre Töchter brachten sie nach Hause – doch welches zuhause? Das Heim, das sie seit fünfzig Jahren mit jemandem geteilt, und den sie nun für immer verloren hatte? Das Heim, das für sie untrennbar mit einem Menschen verbunden war, den es jetzt nur mehr in ihrer Erinnerung und auf ein paar Fotos gab, die auch bald vergilben würden? Das Heim, in dem das Bett nun viel zu groß war, wo nun niemand wohnte, für den sie kochen könnte? Das Heim, in dem das Schweigen der Wände lauter sein würde als der Schrei, den der Schmerz in ihrer Seele hervorrief? Das Heim, in dem sie sich nur unsicher und verlassen fühlen würde? Das Heim, welches ihr schließlich fremder sein wird als das entfernteste Land der Welt? Sie war heimatlos. Allein. Ohne Anker und ohne Halt. Und dennoch konnte sie dieses Heim nicht aufgeben, noch pulsierten die Erinnerungen in seinen Ecken und Schränken. Noch konnte sie die Schritte ihres Gatten wahrnehmen, noch konnte sie einen Hauch seines Wesen riechen, seinen Schatten fühlen, und vielleicht sogar das langsam verhallende Echo seiner Stimme wahrnehmen.

Sie drehte den Schlüssel zweimal um und öffnete dann die Tür. Ein kurzer Wink und ein starrer Blick ohne Lächeln oder Zeichen von jeglicher anderer Gefühlsregung, und sie ließ die Tür ins Schloß fallen.
Niemand konnte sehen, wie sie, erdrückt von der Lawine an Erinnerungen, Hilflosigkeit und Verzweiflung, und die Hände an den Kopf legend, als ob sie sich vor dem Hagel an Gefühlen und Bildern schützen wollte, und ertrinkend im Strom ihrer eigenen Tränen nach Luft ringend, auf die Knie fiel und sich nur allein und fremd fühlte.

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