Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
Einmal noch hinaus ins Paradies.
Okay, es ist eng dort. Nicht weil so viele da sind, sondern weil es so klein ist. Eingezäunt.
Große, braune Sichtschutzzäune um mich herum. Und dazwischen nur ein paar Meter Gras im Quadrat.
Aber mit Blumen.
Ich will mich auf das trockene Grün legen, damit der Himmel mich ansehen kann, doch es steht ein Wäscheständer mit einem Bettlaken darauf.
Kein Platz.
Egal, denke ich, der Wäscheständer ist auch schön. Das Laken zeigt dem Wind, in welche Richtung er wehen muss.
Schön genug, für ein gebrauchtes Paradies.
Es ist nicht einmal so schönes Wetter. Die Sonne hat heute nur wenige Strahlen für mich übrig.
Aber Wolken sind da.
Früher dachte ich noch, Wolken wären weich wie Watte. Ich wünschte immer, in eine hineinzufallen. Als Zwischenstopp auf dem Weg zum Mond oder so.
Heute weiß ich, dass mich Wolken nicht auffangen können. Schade. Aber schön sind sie trotzdem.
Und früher, das ist ja auch schon lange her.
Ich setze mich auf das Gras und lehne mich gegen den Sichtschutz. Die Knie ziehe ich an den Körper und halte sie fest. Ich lausche, aber die Vögel sind still.
Wie sollte es auch anders sein, hier sind ja weit und breit keine Bäume. Nur Bretter, aneinander genagelt, damit man das Paradies nicht sieht.
Von drinnen höre ich das Klappern von Geschirr. Mama wäscht ab. Na gut, denke ich. Fast so schön wie Vogelgesang.
Eigentlich kann sie losgehen, meine kleine Feier. Es kommt niemand mehr, ich habe ja nur mich selbst eingeladen. Weil es so eng ist.
Meine Hände schweben über dem Gras, berühren es ganz leicht. Vielleicht würde ich an einer Blume riechen, wenn gerade niemand hinsah. Weil es doch so kitschig ist. Aber ich habe eine Allergie, kann es eh nicht machen. Noch so ein Fehler.
Ich blicke zu dem Fenster da oben. Der Ausguck meines Zimmers. Am Sims steht ein Vogelkäfig. Meine beiden Wellensittiche schauen zu mir herunter. Hinter ihnen gibt es ja nichts mehr zu sehen. Alles leer geräumt. Auch seltsam, dass sie da oben sind und nicht bei mir, hier unten.
Fast so, als sei das Paradies ein Puzzle und man müsse die einzelnen Teile erst noch suchen, bevor sie zusammengesetzt werden können.
Ich schließe die Augen und atme einige Male tief ein.
Und plötzlich tropft die Lüge aus meinen Augen, die Lüge vom wahren Leben. Ganz kurz nur und ich wische sie schnell mit dem Ärmel weg.
Die Koffer sind gepackt, verstaut im Kofferraum. Ich werde schon klarkommen. Klar!
Tschüß Gras. Tschüß Blumen. Tschüß Neun–Quadratmeter–Paradies. Wir haben uns nur flüchtig gekannt. Bei jeder Flucht ein bisschen besser.
Die Wellensittiche fangen an zu singen. Sie zwitschern. Ein schönes Abschiedsgeschenk.
Obwohl, sie kommen ja mit. Aber sie wissen es nicht. Macht nichts.
Mein Blick gehört meiner Uhr.
Früher war es noch einfach, die Momente einzufangen.
In Ägypten oder so. Einfach Wasser in die Sanduhr kippen und schon verklebt die Zeit und verrinnt nicht mehr.
Und heute? Ich weiß nicht mal, wie man meine Uhr öffnet. Um die Batterien rauszuholen.
Ich bin viel zu früh dran, will bleiben und gehen.
Mühsam erhebe ich mich, klopfe den Paradiesstaub von meiner Hose.
Ich öffne die Terrassentüre und trete ein. Mama schaut auf und schnell wieder weg. Geschirr spülen. Einen Teller weniger. Ab sofort.
Ich gehe an ihr vorbei, die Treppe hoch. Als ich in mein Zimmer trete, singen sie immer noch, die Paradies-Vögel. Viel lauter kommt es mir vor, vielleicht weil sie sich freuen, mich zu sehen. Vielleicht, weil kein Schrank und kein Regal mehr ihre Laute schlucken.
Ich bleibe einen Moment lang stehen und suche nach den Bildern, nach Stichworten meiner Kindheit.
So wie in meinem Zimmer sieht es auch in meinem Kopf aus. Ich hatte so vieles aufbewahrt. Und jetzt? Alles weggezogen, es wird ohnehin neu möbliert.
Vorsichtig hebe ich den Käfig an und wische ein paar Daunenfedern von den Gittern. Die beiden Vögel sind irritiert, haben aufgehört zu singen. Wo soll es hingehen, fragen ihre zuckenden Köpfe und mir tut es Leid, dass ich sie nicht eingeweiht habe. Ich trage sie nach draußen, zum Auto. Milde Luft schlägt mir entgegen, der Himmel färbt sich langsam in das abendliche Blaugrau.
Während ich den Käfig hinten im Auto festschnalle, schwappt ein wenig Wasser auf die Sitzbank. Egal, denke ich. Wasser werde ich heute noch genügend haben. Ich muss nur aufpassen, dass es meine Sicht nicht trübt.
Als ich die Türe zuschlage, fangen sie aufgeregt an, zu flattern. Jetzt wissen sie es.
Es geht weit weg und sie dürfen noch nicht einmal dorthin fliegen.
Ich gehe zurück, mache die Haustüre von innen zu. Ein komisches Gefühl.
In der ganzen Wohnung ist es nun sehr still. Jetzt, wo die Vögel weg sind.
Nur Papas Finger tippen laut auf einer Tastatur. So wie sich das anhört, sind es ganz komische Wörter.
Ich stehe im Türrahmen der Küche, lehne mich dagegen.
»Mama, ich gehe jetzt.«
Sie beeilt sich, ihre grellgelben Handschuhe auszuziehen. Es will nicht gelingen, sie sitzen so fest.
Papa taucht hinter mir auf. Er war im Büro. Es ist ja gar nicht Sonntag.
»Bist du sicher, dass du klar kommst?«, will Mama wissen, ihre Handschuhe quietschen, wollen sich nicht lösen. Ich nicke.
Ich drehe mich um, suche Papas Blick. Er lächelt.
Für uns drei wäre doch Platz gewesen im Paradies, denke ich. Aber jetzt ist es zu spät.
Das Lächeln fällt wie ein weißes Tuch von seinem Gesicht, als er mir in die Augen sieht. Vor mir muss er nicht schauspielern, jetzt nicht. Es reicht allerdings nicht zum Weinen, die Trauer versiegt, bevor sie die Tränen erreicht. Schade eigentlich. Geweint wird nur alleine.
Ich umarme Mama, sie drückt mich an sich. Ihre Handschuhe hinterlassen dunkle Flecken auf meinem Pullover.
»Ruf mal an!«, meint sie und ich nicke. Dann merke ich, dass sie das nicht sieht, weil mein Kopf auf ihren Schultern ruht.
»Ja«, sage ich und die Tränen stören, die im Hals stecken geblieben sind. Ich lasse von ihr ab, wir haben keine Sanduhren mehr.
Papa tritt an mich heran. Er sieht mich freundlich an, dann packt er mich an der Schulter. Meine Stimme ist weg. Ich hab sie versehentlich runtergeschluckt.
Papa umarmt mich, klopft mir kräftig auf den Rücken, auf die Wasserflecken.
»Mach’s gut, mein Junge«, fällt ihm ein. Schön.
Mit einer Hand suche ich Mama, taste ins Leere hinein, bevor ihre Hand die meine ergreift. Ich könnte sie mitnehmen, ihre Gummihände. Aber das würde nichts bringen.
Ich sage »Danke für alles« und betone auch noch das falsche Wort.
Worte sind so wenig, »alles« eine solche Untertreibung. Aber mehr habe ich nicht. Nur das.
Bilder sagen mehr als tausend Worte. Und ich kann nicht malen. Pech gehabt.
Ich lasse sie los.
Digitaluhren, sekundengenau, ich muss gehen.
Ich will irgendetwas hier vergessen, damit ich noch einmal kurz zurückkommen muss. Aber meinen Rucksack habe ich schon in der Hand und das sähe ja blöd aus, den jetzt auf den Boden zu schmeißen. Einfach so.
Sie begleiten mich zur Türe, bleiben an der Schwelle stehen, als würde dort ihr Leben enden und meines anfangen.
Papa legt den Arm um Mamas Schulter und sie winken mir, als ich einsteige und losfahre.
Dem nächsten kleinen Paradies entgegen.
Hoffentlich singen meine Vögel dort auch noch.
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