Honigfalter
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Mai 2004
Marias Versprechen
von Günter Krause

Brennend heiß stand die Junisonne über der Kleinstadt am Neckar. Die Siedlung aus den siebziger Jahren malte ein friedliches Sommerbild. Kinder spielten fröhlich in den Gärten und auf den Straßen. Aus den Häusern drangen köstliche Düfte und kündeten die nahe Mittagszeit an. Hier und dort wurde Rasen gemäht oder andere schweißtreibende Gartenarbeit verrichtet. Andere genossen das herrliche Wetter an einem schattigen Plätzchen oder auf der Terrasse.
Selten störte ein Fremder die Idylle. Selten, doch heute war so ein Tag.
„Mama, schau, ein Landstreicher um en Fremden zu begutachten. Die Mütter holten ihre Kinder eilig ins Haus und schlossen vorsichtshalber die Türen ab.
Der Fremde war es gewohnt, dass, überall wo er auftauchte, die Menschen dachten, er führe Böses im Schilde. Dabei wollte er nur eines: Leben!
Der Heimatlose mit dem altersschwachen Rucksack sprach einen Mann, der gerade Gras zusammenharkte, an. „Entschuldigen Sie bitte, hätten Sie etwas zu Essen für mich?“
„Wir haben nichts zu verschenken!“, knurrte der schwitzende Mann im weißen Unterhemd zurück.
„Nur ein ...“
„Verschwinde!“, rief der Mann. „Verschwinde oder ich hol die Polizei!“ Drohend hielt er den Rechen vor die Brust. Der Landstreicher wandte sich ab und zog wortlos die Straße weiter. Nein, es war nicht sein Tag und diese Stadt mochte ihn nicht. Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, eine barmherzige Seele zu finden. Er hatte Hunger und die paar Pfennige, die er in der Tasche hatte, reichten nicht für die Butter aufs Brot.
Der Landstreicher, dessen Name niemanden interessierte und der ihn vielleicht selbst schon vergessen hätte, wenn nicht ab und zu die Polizei, seinen Ausweis hätte sehen wollen, war es gewohnt nicht mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Er wollte nicht viel, nur ein klein wenig um seinen Hunger stillen zu können.

Maria Bäumler freute sich auf das gemeinsame Mittagessen mit ihrer Tochter. Eifrig hantierte sie in der Küche, um Elkes Lieblingsessen zuzubereiten. In zwanzig Minuten würde sie hier sein. Seit ihr Mann vor drei Jahren verstorben war, waren die Besuche ihrer Kinder wie kleine Feste. Sie genoss es, für sie zukochen und sie umsorgen zu dürfen. Froh gelaunt traf sie die letzten Vorbereitungen.
Das Klingeln des Telefons schreckte Maria aus ihren Gedanken auf.
„Bäumler“, meldete sie sich.
„Mama, bitte nicht böse sein. Es ist mir etwas dazwischen gekommen, ich muss mit meinem Chef zu einem Besichtigungstermin. Glaube mir, ich hatte mich so auf das Essen mit dir gefreut!“, schallte es aus dem Telefonhörer.
„Da kann man nichts machen“, seufzte Maria Bäumler und versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Die Arbeit geht vor. Soll ich auf später kochen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein, das brauchst du nicht“, antwortete Elke, „es wird wohl sehr spät werden! Ich melde mich wieder bei dir und bitte nicht böse sein!“
„Schon in Ordnung“, beruhigte sie ihre Tochter. „Machs gut!“ Traurig legte Maria den Telefonhörer auf. Na ja, wenigstens hatte sie für den Rest der Woche vorgekocht, tröstete sie sich selbst.
Das Läuten der Haustürglocke nur wenige Minuten später ließ sie zusammenzucken. Wer mochte das ein? Kam ihre Tochter vielleicht doch noch zum Essen? Freudig eilte sie zur Haustüre.
Ihre Hoffnung erstarb, als sie den ungepflegten Mann, mit zotteligem Vollbart und ungewaschenen Haaren vor sich stehen sah. Sie bereute, nicht die Sprechanlage benutzt zu haben. Sicherheitshalber zog sie die Haustüre ein wenig zu.
„Entschuldigen Sie bitte“, fragte der Landstreicher, „hätten Sie etwas zu essen für mich übrig?“
Maria sah in seine Augen und begriff seine Frage nur zögerlich.
„Vielleicht ein Stückchen altes Brot?“, unterstrich der Mann sein Begehren. Marias Gedanken rasten hin und her. Dort das fertige Essen in der Küche, reichlich genug für zwei Personen. Hier der hungrige Fremde, der wohl seit ewiger Zeit keine warme Mahlzeit gegessen hatte. Vernunft und Herz kämpften in ihr gegeneinander an.
„Mögen Sie Sauerbraten mit Knödel?“ Marias eigene Worte drangen wie aus weiter Ferne in ihre Ohren.
„Ob ich das mag?“, fragte der Landstreicher erstaunt. „Ob ich das mag?“, wiederholte er ungläubig. „Sauerbraten mit Knödel. Wie lange habe ich das schon nicht mehr gegessen?“, sagte er leise und schloss für einen Moment die Augen. Genüßlich fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Er schluckte mehrmals. Es war deutlich zu erkennen, dass der bloße Gedanke an dieses köstliche Mahl seine Sinne in Vorfreude versetzte.
„Kommen Sie herein", forderte Maria ihn auf. Der Landstreicher wusste nicht, wie ihm geschah. Verwundert sah er die weißhaarige Frau an.
„Bitte machen sie keine Umstände! Ich kann doch auch hier draußen auf der Treppe essen."
„Kommen Sie schon herein!“
Zögernd folgte er ihr ins Haus. Der verlockende Duft aus der Küche drang in seine Nase. „Hmh, riecht das gut,“ sagte er. Maria führte ihn ins Esszimmer. Der Tisch war bereits für zwei Personen gedeckt. Der Mann lächelte.
„Wie es scheint, haben Sie mich schon erwartet?“, stellte er schmunzelnd fest.
„So sieht es fast aus!“, bestätigte Maria Bäumler und erzählte dann, dass ihre Tochter im letzten Moment das gemeinsame Essen abgesagt hatte.
„Nehmen Sie Platz“, forderte Maria ihren Gast auf. Er zögerte und sah an sich herunter. Sie verstand seine stumme Frage. „Geht schon in Ordnung. Setzen Sie sich ruhig.“
Der Landstreicher stellte seine Habseligkeiten auf den Boden und setzte sich auf die gemütliche Eckbank. Maria tischte kurze Zeit später den Braten und die Knödel auf. Sie legte ihm zwei Stücke Fleisch und einen Knödel auf den Teller. Der Fremde konnte nicht glauben, dass dieser Festtagsschmaus tatsächlich vor ihm stand und er in den Genuss kommen sollte.
Sie wünschte ihm „Guten Appetit“ und setzte sich ebenfalls. Mit vor Aufregung zitternden Händen führte er die Gabel zum Mund. Genüsslich ließ er den Bissen im Munde zergehen. „Mmh“, sagte er, „schmeckt das gut!“
Maria freute sich über das ehrlich gemeinte Lob und ein Strahlen zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Na dann lassen Sie es sich schmecken!“
Die Traurigkeit darüber, dass Elke nicht kommen konnte, war mit einem Male verflogen und der Heißhunger des Fremden regte auch ihren Appetit an. Ohne viele Worte genossen beide das Mittagessen. Für Maria war es eine Freude, dass ihm das für sie, eigentlich alltägliche Essen, so gut schmeckte. Wie oft hatte sie sich schon geärgert, wenn sie stundenlang in der Küche gestanden und ein festliches Mahl gerichtet hatte, und ihre Enkelkinder lustlos im Teller herumstocherten und nur wenige Bissen davon aßen. Oder ihre Schwiegertochter immer wieder betonte, sie müsse auf ihre Linie achten.
„Jetzt kann ich wirklich nicht mehr“, sagte er nachdem er fünf Knödel und sieben Scheiben Fleisch gegessen hatte.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte er, „ich habe Ihnen alles weggegessen, aber es hat so gut geschmeckt!“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich bin froh, dass ich nicht die ganze Woche das Gleiche essen muss!“, erwiderte sie ihm lächelnd und fügte hinzu: „Möchten Sie noch einen Nachtisch?“
„Verwöhnen Sie mich ja nicht zu sehr“, drohte er scherzend, „sonst komme ich öfters!“ Sie lachten beide und Maria´s Misstrauen dem Fremden gegenüber war endgültig gebrochen.
„So viel Gastfreundschaft wie heute habe ich noch nie erlebt“, sagte der vom Leben gezeichnete Mann gerührt und wischte sich eine Träne aus den Augen.
„Sie sind so gut zu mir. Es kommt mir vor wie ein Traum. Seit ich auf der Strasse lebe ist es das erste Mal, dass es mir so gut ging wie bei Ihnen. Dass ich sogar an den Tisch gebeten wurde, kann ich noch immer nicht glauben. Meistens wird die Haustüre vor meiner Nase zugeknallt und ich werde mit Schimpfworten und mit Hunden weggejagt. Damals, als ich auf der Straße landete, dachte ich mir es gibt so viele Menschen, die das Übrige wegwerfen, ein klein wenig davon würde mir zum Überleben reichen. Doch auch heute glaubte ich nicht mehr an das Gute in den Menschen, aber dann erlebte ich das Schönste was ich in den letzten Jahren erleben durfte. Vielen herzlichen Dank für das gute Essen und Ihre Gastfreundschaft.“ Dankbar sah er Maria an.
„Schon gut, ich habe es gern getan“, wehrte sie ab, „nicht der Rede wert!“

„Ich möchte Sie nicht länger belästigen“, sagte er, „Sie haben sicher noch viel zu tun.“
„Keineswegs“, erwiderte sie, „ich bin froh, wenn ich etwas Gesellschaft habe. Die Nachmittage und Abende können sehr lange und einsam sein, wenn man niemanden zum Reden hat. Die Besuche der Kinder sind selten und viele Bekannte habe ich seit dem Tod meines Mannes auch nicht mehr. Ich würde mich freuen, wenn Sie noch ein wenig bleiben könnten. Oder haben Sie etwas Wichtiges vor?“, fragte sie und musste selbst über ihre Worte schmunzeln.
„Lassen Sie mich nachschauen. Wo habe ich meinen Terminkalender? Ach ja, um 14 Uhr habe ich einen wichtigen Termin mit der Bank“, sagte er in so ernstem Ton, dass Maria es kurz für bare Münze nahm. Dann sahen sich beide an und prusteten los.
„Ich habe oben noch viele Sachen von meinem verstorbenen Mann. Wenn Sie möchten können Sie sich etwas davon aussuchen. Im Keller ist eine Dusche, die Sie benutzen können“, bot sie ihm an.
„Sehr gerne“, antwortete er. „Sehr, sehr gerne!“
Sie zeigte ihm die Dusche, holte Rasierzeug und Kleidung ihres Mannes aus ihrem Schlafzimmer. „Wenn es Ihnen passt, dürfen Sie gerne alles behalten!“, sagte sie zu ihm und ging wieder nach oben. Wenige Minuten später drang fröhlicher Gesang aus dem Keller herauf. Der Landstreicher genoss die erfrischende Dusche und fühlte sich hörbar wohl.

Später setze er sich zu Maria in den Garten. Jetzt, nachdem er den Staub der Strasse abgeduscht und sich rasiert hatte, sah sie erst wie jung dieser Mann noch war. Er durfte kaum älter als ihre eigenen Kinder sein. Anfang bis Mitte dreißig schätzte sie. Das Leben ohne festen Wohnsitz hatte ihn gezeichnet. Jedoch sah er nicht aus wie die anderen Obdachlosen die sie im Stadtpark gesehen hatte, die sich den Tag mit Alkohol lebenswert tranken. Er erzählte, dass er durch seine Spielsucht zum Landstreicher wurde. Sein ganzes Geld hatte er verzockt. Das Leben auf der Straße war hart, gnadenlos hart. Sie hörte ihm zu. Alles war für sie so fremd.
Er bedankte sich noch mehrmals für das gute Essen, für die herzliche Aufnahme in ihrem Hause und für die wunderbaren Kleider die sie ihm geschenkt hatte. Dann nahm er seine Habseligkeiten und schritt pfeifend dem Ausgang zu. An der Gartenpforte drehte er sich um und lächelte ihr winkend zu.
Maria Bäumler verharrte einen Augenblick an der Türe. Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Der dankbare Blick dieses fremden Menschen brannte noch immer auf ihrer Seele. Zufrieden lächelte sie.
Zwei Tage später klingelte der Fremde erneut an ihrer Haustüre.
„Ja, bitte“, drang Marias Stimme aus der Sprechanlage.
„Entschuldigen Sie bitte, ich bin es, der Landstreicher von vorgestern. Ich...“ „Moment, ich komme“, unterbrach ihn Maria. Sie öffnete ihm die Haustüre.
„Ich möchte mich nochmals ganz herzlich bei Ihnen bedanken,“ sagte der Mann fröhlich und reichte ihr einen großen bunten Wiesenstrauß.
„Die sind aber schön“, freute sich Maria. „Vielen Dank! Kommen Sie doch herein!“, forderte sie ihn auf.
„Nein, nein“, erwiderte er ihr, „ich möchte nicht aufdringlich sein. Ich wollte Ihnen nur etwas zurückbringen. In einer Tasche der Lederjacke fand ich diese 200.- Euro. Durch ein Loch waren sie in den Saum gerutscht.“ Der Mann streckte ihr die Geldscheine entgegen.
„Behalten Sie das Geld ruhig, Ihre Ehrlichkeit soll belohnt werden“, erwiderte Maria und fügte hinzu: „Sie können das Geld bestimmt gut gebrauchen.“
„Schon“, antwortete der Landstreicher, „aber es ist doch ihr Geld und es ist so viel!“
„Schon in Ordnung. Möchten Sie nicht doch ein wenig herein kommen? Ich habe zwar nichts gekocht, aber wir werden schon etwas Essbares finden,“ sagte Maria. „Sie haben mich gerade mit dem Geld so reichlich beschenkt und ich möchte Ihre Gastfreundschaft nicht zu sehr in Anspruch nehmen.“
„Na gut“, antwortete Maria, „aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich wieder einmal besuchen werden!“ –
„Sehr gerne“, versprach er ihr. „Wie wäre es nächste Woche Mittwoch? So gegen zwölf?“, schlug sie vor.
„Ich freue mich schon jetzt darauf“, bestätigte er ihren Vorschlag und bedankte sich nochmals für das Geld. Dann ging er seiner Wege.

Den nächsten Mittwoch und konnte er kaum erwarten. Herzlich empfing ihn Maria zum vereinbarten Zeitpunkt. Wieder stieg herrlicher Duft aus der Küche in seine Nase. „Was gibt es denn Gutes?“, fragte er schon ein wenig vertraut, wenngleich noch zaghaft.
„Rouladen und Spätzle - mögen Sie das?“, fragte sie.
„Und wie!“, gab er ehrlich zurück.
Gemeinsam nahmen sie das Mittagessen ein. Sein Appetit war gross und sie sah, dass es ihm schmeckte. Er erzählte von seinen Erlebnissen der letzten Woche, dass er einmal unter einer Brücke, ein ander Mal in einem Heuschober genächtigt hatte.
„Ist es nicht gefährlich so mutterseelenallein im Freien zu übernachten?“, fragte Maria, die sich in den letzten Tagen viele Gedanken über ihn gemacht hatte.
„Es gab schon einige kritische Situationen, einmal wurde ich von Unbekannten brutal zusammengeschlagen und ein ander Mal fiel ein wilder Hund über mich her. Aber was solls? Was habe ich schon noch vom Leben zu erwarten? Ob ich heute oder morgen sterbe, interessiert doch niemand“, sagte er gleichgültig.
„Jetzt hör aber auf“, protestierte Maria energisch. „Du bist gerade mal halb so alt wie ich und hast dein Leben noch vor dir. Bemitleide dich nicht selbst, nimm es selbst in die Hand und mache das Beste daraus. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Glaube mir, auch in meinem Leben gab es nicht nur glückliche Zeiten. Oftmals standen mein Mann und ich vor Situationen, an denen wir glaubten, es geht nicht mehr weiter.“ Maria war in Fahrt und bemerkte nicht, dass sie ihn einfach duzte.
Der Fremde staunte über ihre deutlichen Worte. So hatte nur seine Mutter mit ihm geredet.
„Es ist nicht so einfach die Jahre auf der Straße zu vertuschen. Wer will so einen schon in seinem Betrieb haben? Jeder glaubt du bringst es nicht. Und ohne festen Wohnsitz bekommst du keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung. Es ist ein Teufelskreis“, erwiderte er mutlos.
„Wenn du es möchtest werde ich versuchen dir zu helfen. Ich werde mich umhören, ob jemand eine Hilfskraft braucht und mit der Wohnung werden wir auch eine Lösung finden“, antwortete Maria, deren Stimme keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihre Worte in Taten umsetzen würde.
„Das würden Sie für mich tun?“, fragte der Mann ungläubig, „Sie kennen mich doch überhaupt nicht!“ „Ich verspreche es dir“, beteuerte Maria und reichte ihm die Hand zum Zeichen ihrer Entschlossenheit.
Stunden später brach er gesättigt und frohen Mutes auf. Sie vereinbarten, dass er am Mittwoch in zwei Wochen, wieder zum Essen zu ihr kommen sollte. „Vielleicht gibt es bis dahin schon eine Lösung“, machte sie ihm zum Abschied Mut.

Maria Bäumlers Worte hatten ihn die ganzen Tage nicht mehr losgelassen. Fest entschlossen wollte er alles tun, um ein neues Leben zu beginnen. Mit ihrer Hilfe würde er es schaffen, war er sich sicher. Er träumte von einer kleinen Wohnung, einem weichen, warmen Bett und von einem geregelten Leben. Von Nähe und Zuneigung einer Lebensgefährtin und verspürte den Wunsch nach Geborgenheit und Familienglück. Er sah hoffnungsvoll auf sein weiteres Leben. Vielleicht würde bald alles anders sein.
Die vierzehn Tage, die zwischen den beiden Besuchen bei Maria Bäumler, lagen, vergingen für ihn viel zu langsam. Sehnlichst wünschte er sich den Mittwoch herbei.
Endlich brach der verheißungsvolle Tag an. Wieder ging er durch die Straßen dieser Stadt, die ihn vor ein paar Wochen so sehr enttäuscht und dann doch unendlich glücklich gemacht hatte. Die Blicke der Menschen störten ihn heute nicht.
Kurz vor zwölf Uhr betrat er das Grundstück von Frau Bäumler. Er klingelte an der Haustüre und wartete das sie ihm öffnen würde. Wieder hatte er einen Strauß Wiesenblumen für sie gepflückt.
Das Klingeln blieb ungehört. Nichts rührte sich jenseits der Haustüre. Zum zweiten Male drückte er auf den Klingelknopf. Wiederum wurde nicht geöffnet. Langsam ging seine Freude in die Erkenntnis über, dass sie wohl nicht zu Hause war. Hatte er sich im Tag geirrt, fragte er sich unsicher. Heute war doch Mittwoch! Vielleicht war sie auch kurzfristig verreist? Viele Möglichkeiten schossen durch seinen Kopf. Nein, dass sie ihm einfach nur nicht öffnen wollte, daran glaubte er nicht, dafür hatte sie schon zu viel für ihn getan. Vielleicht klappt es Morgen, beruhigte er sich. Er war sich sicher, dass Frau Bäumler ihn nicht im Stich lassen und ihr Versprechen halten würde.

Am nächsten Tag klingelte er wieder um die Mittagszeit an ihrer Haustüre. Aber auch diesmal wurde nicht geöffnet. Das gleiche wiederholte sich einen Tag später und seine Hoffnung erstarb vollends. Eine Nachbarin, die im Garten arbeitete fragte er, ob sie wüsste was mit Frau Bäumler sei. Die Frau musterte ihn von oben bis unten und ließ ihn mit grimmiger Miene ohne eine Antwort stehen. Das alte Leben ließ ihn nicht los. Verachtet von den Menschen würde er weiter durch die Lande ziehen, würde sein Dasein mit Betteln fristen. Das war sein Schicksal. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er niemals in diese Stadt gekommen und auf Frau Bäumler getroffen wäre.
Wehmütig sah er auf das Haus von Frau Bäumler, in dem er einige schöne Stunden erleben durfte, in dem er als Mensch behandelt wurde. Dann machte er sich auf den Weg. Ziellos wie immer. ließ er sich von seinen Füßen tragen.
Die nächste größere Ortschaft wollte er auf jeden Fall noch heute erreichen. Jedoch war sein Wille größer als seine nachlassende Kraft, die ihn zwang sich irgendwo hier draußen in der Natur ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Dank der 200 Euro, die Frau Bäumler ihm geschenkt hatte, konnte er sich eine tägliche, wenngleich bescheidene, Ration an Essbarem und eine Flasche Wasser leisten.
Auf einer abgeschiedenen Waldlichtung entdeckte er einen großen Jägerhochstand und beschloss darin sein Lager für die kommende Nacht aufzuschlagen. Er kletterte hinauf um den Hochstand zu inspizieren. Der Hochstand bot genügend Platz, so dass er sich bequem schlafen legen konnte. Die alten Tageszeitungen, die er dort fand, würden ihm bestens als Unterlage dienen. Nachdem er alles erkundet hatte, stieg er wieder hinab um den Einbruch der Dunkelheit abzuwarten. Der Landstreicher setzte sich unter einen Baum, beobachtete die Vögel und verbrachte die Zeit damit in den alten Zeitungen zu lesen. Als es dunkel wurde und er sich sicher wähnte, dass niemand seine Ruhe auf dem Hochsitz stören würde, kletterte er hinauf um sich schlafen zu legen. Die Jahre auf der Straße hatten es mit sich gebracht, dass er an jedem Ort schon nach kurzer Zeit einschlafen konnte und so erwachte er ausgeruht am frühen Morgen.
Ein neuer Tag begrüßte ihn. Die Zeitungen, die er gestern noch nicht gelesen hatte, packte er in seinen Rucksack, vielleicht suchte ja doch irgend jemand eine Aushilfskraft. Das Feuer, das Frau Bäumler in ihm entfacht hatte, war noch nicht erloschen.
Frohen Mutes, mit einem Liedchen auf den Lippen, zog der Landstreicher seines Weges. Heute hatte er ein Ziel, er wollte in die etwa 30 km entfernte Großstadt, um sich irgendwo als Tagelöhner zu verdingen. Er wollte nicht mehr betteln müssen. Lieber wollte er sich für kargen Lohn sein Essen verdienen. Er wusste noch nicht wie er es anstellen und wie und wo er Arbeit finden sollte, doch er würde es versuchen. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!“ Maria Bäumlers Worte hatten sich fest in sein Bewusstsein eingeprägt.
Er nutzte die kühlen Morgenstunden um ein gutes Stück Weg voranzukommen. Die 30 Kilometer wollte er heute unbedingt bewältigen. Gegen elf Uhr hatte er gut die Hälfte der Strecke hinter sich gelassen und erreichte eine größere Ortschaft. In einer Bäckerei kaufte er sich drei frische Brezeln und eine große Flasche Mineralwasser, dann setzte er sich in einer Grünanlage auf eine Bank und genoss das duftende Laugengebäck.
Der Landstreicher kramte die Zeitungen, die er vom Jägersitz mitgenommen hatte, aus seinem Rucksack heraus. In der Samstagsausgabe der vergangenen Woche, hoffte er, bei den Stellen- oder Kleinanzeigen vielleicht doch ein Angebot zu finden, das für ihn in Frage käme.
Zuerst las er die Neuigkeiten des Weltgeschehens, dann die lokalen Nachrichten und blätterte weiter zu den Stellenanzeigen. Der Landstreicher stutzte plötzlich. Der Mann konnte nicht glauben, was er da schwarz auf weiß lesen musste. Durch einen tragischen Unglücksfall wurde Maria Bäumler mitten aus dem Leben gerissen. Es traf ihn wie ein Fausthieb ins Gesicht. Fassungslos las er immer wieder die Todesanzeige durch, bis die Buchstaben in einem Tränenmeer verschwammen. „Maria Bäumler ist tot“, stammelte er wieder und wieder vor sich hin. Ein tragischer Unglücksfall. Was ihr wohl zugestossen war? Und einen Tag bevor er sie besuchen wollte, war ihr Begräbnis gewesen. Sie war eine so gute Frau, warum gerade sie? Ausgerechnet der einzigste Mensch, der ihn in den letzten Jahren als Mensch behandelt hatte, musste sterben. Das Leben war so ungerecht.
Lange saß er zusammengesunken auf der Parkbank und hielt die Zeitung mit der schrecklichen Nachricht in der Hand. Er dachte an die Begegnungen mit ihr und ein schwermütiges Lächeln spielte um seine Lippen. Er war dankbar, dass er diese herzensgute Frau kennen lernen durfte, die so viel für ihn getan hatte. Er spürte das Verlangen Maria Bäumler an ihrer letzten Ruhestätte aufzusuchen, um ihr nochmals für alles zu danken und um für sie zu beten.
Die selben Straßen, die er am Vormittag froh gelaunt und hoffnungsvoll gegangen war, schleppte er sich am Nachmittag traurig bedrückt wieder zurück.
Am nächsten Tag suchte er den Parkfriedhof auf, wo Maria Bäumler begraben lag. Viele Blumen und Kränze schmückten die frische Grabstätte.
„Danke“, sagte er leise, „Danke für alles was Sie für mich getan haben.“ Dann setzte er sich auf eine Bank ganz in der Nähe des Grabes. Die Stille des Friedhofes wirkte beruhigend auf ihn. Irgendwie fühlte er sich Maria so nahe. Stundenlang saß er dort und ließ seiner Trauer freien Lauf. Gegen Mittag verabschiedete er sich von Maria und versprach ihr, am nächsten Tag wieder zu kommen.
Eigenartigerweise hatten diese knapp zwei Quadratmeter Boden eine so ungeheuere Anziehungskraft auf ihn, dass er es auch am nächsten Tag nicht schaffte, ihr für immer auf Wiedersehen zu sagen. Es war der einzigste Platz auf dieser Erde, mit dem ihn etwas verband und das Versprechen Marias, ihm zu helfen, schien so groß zu sein, dass er zu spüren glaubte, dass sie ihn auch im Tode nicht vergessen hatte.
Auch einen Tag später stand er andächtig versunken an ihrem Grab.
„Haben Sie sie gekannt?“, fragte plötzlich eine Männerstimme direkt neben ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Der Landstreicher hatte den Friedhofsgärtner nicht bemerkt.
„Sie war eine so gute Frau“, antwortete er zaghaft auf die Frage des Gärtners und fügte hinzu: „Ja, ich durfte sie kennenlernen!“
„Der ganze Stadtteil war tief erschüttert, über das Unglück das ihr widerfahren ist und viele hundert Menschen erwiesen ihr die letzte Ehre“, sagte der Gärtner.
„Wie ist es den passiert?“, fragte der Landstreicher mit stockender Stimme.
„Es war ein schrecklicher Unfall“, sagte der Friedhofsgärtner immer noch fassungslos, „sie ging bei grün über die Straße und wurde von einem betrunkenen Autofahrer angefahren. Sie hatte keine Chance. Noch am selben Abend verstarb sie an ihren schweren Verletzungen im Krankenhaus.“
„Arme Frau Bäumler“, sagte der Landstreicher traurig.
„Das Leben kann grausam sein. So schnell kann alles vorbei“, sagte der Gärtner leise und ließ den fremden Mann mit seinen Gedanken wieder alleine. Er verrichtete seine Arbeit auf dem Friedhof und sah immer wieder zu dem Landstreicher hinüber. Der braungebrannte, etwa fünfzigjährige Gärtner fragte sich, was dieser vom Leben gebeutelte Mann mit Frau Bäumler zu tun hatte, dass er so sehr um sie trauerte und nun schon den dritten Tag hier auf dem Friedhof zu brachte. Er hatte keine Vorurteile dem Landstreicher gegenüber, wie viele der Friedhofsbesucher, die argwöhnisch einen großen Bogen um den ungepflegten Mann machten. In den nächsten Tagen hielt er immer wieder ein Schwätzchen über das Wetter und über Frau Bäumler mit ihm. Er brachte ihm sogar ab und zu eine Kleinigkeit zu essen mit. Der Landstreicher bedankte sich herzlich über die willkommenen Speisungen.
Doch auch für ihn ging das Leben weiter. Er konnte nicht alle seine Tage hier auf dem Friedhof zu bringen. Frau Bäumler lag dort im Grabe, ihr Versprechen ihm dabei zu helfen ein geregeltes Leben zu beginnen, konnte sie nicht mehr ausführen. Ihre eindringlichen Worte aber hallten noch immer in seinen Ohren und es schien als würde sie ihm zurufen: Gib nicht auf. Nimm dein Leben in die Hand. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

So stand er dann am siebten Tage an Marias Grab, um sich ein letztes Mal bei ihr zu bedanken und um sich zu verabschieden. Auch dem Friedhofsgärtner, der so nett zu ihm war, wollte er Auf Wiedersehen sagen. Mit leicht schleppendem Gang schob der Mann seine Schubkarre vor sich her.
„Guten Morgen“, grüßte der Landstreicher freundlich.
„Guten Morgen“, gab der Gärtner mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
„Geht es Ihnen nicht gut heute Morgen?“, fragte der Landstreicher anteilsvoll.
„Irgendwie habe ich mir einen Nerv eingeklemmt. Jeder Schritt tut weh. Es war halt zu viel in den letzten Wochen, seit mein Geselle gekündigt hat und ich alles alleine machen muss. Es ist ja nicht nur der Friedhof, ich habe noch einige private Gärten zu betreuen. Aber was soll ich machen? Die Arbeit verrichtet sich nicht von selbst!“, klagte der Gärtner.
„Haben Sie denn keinen neuen Gesellen eingestellt?“, wollte der Landstreicher wissen.
„Pah“, machte der Gärtner. „Finden Sie mal einen! Die wenigen Guten die es gibt, haben ihre sicheren Stellen. Viele geben den Beruf auf, weil sie in der nahen Autofabrik oder sonst wo, ein vielfaches von dem verdienen, was wir Gärtner zahlen können. Wer will schon bei Wind und Wetter draußen die schwere Arbeit verrichten? Und die Aushilfskräfte die mir das Arbeitsamt geschickt hat, waren spätestens nach zwei Tagen wieder verschwunden, da sie vom Arbeitsamt mehr Geld erhalten, wie von mir, wenn sie hier arbeiten. Tja, so ist das eben“, schloss der Gärtner resignierend seine Ausführung und zuckte hilflos mit den Schultern. Der Landstreicher hatte dem Gärtner ruhig zugehört. Doch innerlich war er aufgewühlt. Vielleicht... vielleicht war dies seine Chance?
„Wenn, wenn...“, stammelte er und brachte erst nach einem Anlauf seine Frage an: „wenn ich Ihnen vielleicht ein wenig helfen könnte?“
„Siiie?“, gab der Gärtner, der den Landstreicher in keinster Weise mit Arbeit in Verbindung gebracht hätte, langgezogen zurück.
„Sie?“, wiederholte er nachdenklich.
„Ich meine nur...“, der Landstreicher war verunsichert, „nur wenn...“
„Guter Mann“, unterbrach ihn der Gärtner und ein freudiges Strahlen erhellte sein Gesicht, „Wissen Sie was? Sie schickt der Himmel!“

Maria hatte ihr Versprechen auf wundersame Weise wahr gemacht und für den Landstreicher begann in dieser Minute ein neues Leben..

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