Der Tod aus der Teekiste
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Juni 2004
Wechselbalg
von Birgit Erwin

Wolfram hörte seine junge Frau schreien und seufzte, während er gemächlich die Hacke beiseite legte und sich den Schweiß von der Stirn wischte. Seit sie Mutter geworden war, hatte ihre Nervosität einen eindeutigen Hang zur Hysterie bekommen. Am liebsten hätte er einfach weiter gearbeitet, aber er erinnerte sich an sein Gelübde und die ernsten Augen des alten Pfarrers.
„In guten wie in schlechten Tagen.“ Das waren seine Worte gewesen, aber damals hatte er einfach nicht glauben können, dass etwas anderes als gute Tage kommen würden.
Marthe kreischte schon wieder.
Wer hätte gedacht, dass in ihrem schmalen Körper eine derartig durchdringende Stimme wohnte? Gegen seinen Willen setzten seine Füße sich in Bewegung und trugen ihn den spitzen Schreien entgegen, die mit jedem Schritt lauter und durchdringender wurden.

Marthe kniete mit aufgelösten Haaren vor der kleinen Wiege, die schon seit Generationen im Besitz seiner Familie war. Ihre Haube saß schief, so dass der neckische Schleier ihre verzerrten Züge halb verdeckte. Sie hatte die gefalteten Hände zur Decke gereckt, und zwischen ihren unartikulierten, tierhaften Lauten erkannte Wolfram die zusammenhangslosen Bruchstücke eines Gebetes.
„Mein Gott“, dachte er und blieb in der Türe stehen. „Mein Gott, ist sie hässlich geworden.“
Laut sagte er: „Marthe, was um Gottes Willen, was ist denn jetzt wieder passiert?“
Dabei hoffte er, dass seine Stimme seine lieblosen Gedanken nicht verriet.
Die junge Frau zuckte herum. Stolpernd kam sie auf die Füße, und wohl oder übel musste er sie auffangen, als sie sich in seine Arme warf.
„Lukas“, stammelte sie dabei. „Unser süßer kleiner Lukas…“
Natürlich ging es wieder um das verdammte Balg. Wolfram glaubte schon lange nicht mehr daran, dass die Natur jede Frau dazu befähigt hatte, Kinder zu bekommen. Unwirsch ließ er sich von Marthe zu der Wiege zerren. Er erwartete, in das rote, verschrumpelte Gesicht seines Stammhalters zu blicken, in dem er beim besten Willen keine Ähnlichkeit mit sich entdecken konnte, und beugte sich vor. Wahrscheinlich hatte der Junge wieder nur einen kleinen Pickel bekommen oder…
Ihm stockte der Atem.
Er blinzelte krampfhaft, dann warf er noch einmal einen Blick in das schneeweiße Kinderbettchen. Das war nicht Lukas, das war nicht sein Sohn! Entsetzt starrte er in das fratzenhafte Gesicht des Wesens, das in der Wiege lag.
„Was ist das?“, flüsterte er erschüttert. Er merkte kaum, wie Marthe den Kopf an seine Schulter sinken ließ.
„Ein Wechselbalg“, wimmerte sie. „Die Feen haben unser Kind gestohlen.“

Wolfram ließ das Gesicht in die Hände sinken; er war am Ende seiner Kräfte. Nach stundenlangen Diskussionen und Weinkrämpfen lag Marthe endlich in der Kammer unter dem Dach und schlief. Er hatte ihr einen Kräutertee gebraut und sie zu Bett geschickt. Wie immer war sie vollkommen nutzlos im Angesicht einer Krise. Der junge Mann sandte ein kurzes, mechanisches Gebet zu Gott, in dem er sich für die wohltuende Stille bedankte, und holte tief Atem. Von seinem Platz am Ofen aus konnte er die Wiege sehen, nicht aber ihren verfluchten Inhalt. Natürlich kannte er die gängigen Geschichten über Wechselbälger. Dass Nixen und Elfen den Sterblichen die Kinder stahlen und ihre eigene Brut in den Bettchen und Wiegen hinterließen.
„Warum mein Kind, Gott“, murmelte er mit einem unterdrückten Schluchzen, „warum Lukas? Glaubst du, dass ich ihn nicht genug geliebt habe? Ist es das, Herr? Willst du mich bestrafen? Ich habe ihn geliebt. Aber Marthe hat es mir so schwer gemacht, immer hat sie nur über das Kind geredet, mich hat sie überhaupt nicht mehr wahrgenommen … oh Herr, was soll ich nur tun?“
Aber Gott blieb stumm, und plötzlich überkam Wolfram rasender Zorn. Er sprang auf, stürzte an die Wiege und griff mit beiden Händen nach dem missgestalteten Wechselbalg. Das Körperchen war dünn und knochig und der übergroße Kopf mit den spitzen Ohren baumelte ungelenk, als er es aus der Wiege zerrte.
„Warte, du Nickert!“, knirschte Wolfram. „Du sollst nicht leben, wenn mein Lukas sterben musste.“
Mit beiden Händen hob er das kleine Wesen hoch, und legte ihm die Finger an die dünne Kehle. In diesem Augenblick schlug der Wechselbalg seine großen, gelblichen Augen auf.
„Mama“, lallte er leise. „Mama…“
Mit einem unterdrückten Entsetzensschrei schleuderte Wolfram das Wesen zurück in die Wiege und rannte aus dem Haus.

Er merkte erst, dass er zum Fluss gelaufen war, als er schon das Rauschen des Wassers hören konnte. Seit er ein Kind war, liebte er den Fluss. Statt seinem Vater zu helfen, hatte er am Ufer die Nachmittage verträumt und in den unsteten Wellen nach der schönen Dame gesucht, die ihm mit ihren grünen Augen entgegen zu lachen schien. Abends hatte es Prügel gesetzt, aber seine Träume hatten sie ihm nicht austreiben können. Lange Zeit war er nicht einmal auf den Gedanken gekommen, dass es Träume waren sondern hatte geglaubt, die Frau sei Wirklichkeit, die ihm so begehrenswert aus dem Wasser entgegenlächelte. Erst hatte er sie sich als Mutter gewünscht, später war es eine andere Art der Berührung gewesen, nach der er sich sehnte. Doch irgendwann war sein Vater gestorben und die Bewirtschaftung seines Hofes trat an an die Stelle der Tagträume. Er hatte geheiratet und war selber Vater geworden.
Die Träume waren der Wirklichkeit gewichen.
Wolfram ließ sich in das Gras fallen und lehnte den Kopf gegen einen Baum. Die raue Rinde in seinem Nacken war tröstlich, ebenso wie der kühlende Wind, der vom Wasser her über sein heißes Gesicht strich. Als er den Kopf drehte, um durch den Anblick der Kirchturmspitze nicht mehr an sein Leben erinnert zu werden, sah er sie. Der Wind spielte mit ihren langen schwarzen Haaren, und ihre grünen Augen waren mit einem seltsamen Ausdruck von Trauer und Zärtlichkeit auf ihn gerichtet.
Wolfram stolperte auf die Füße und stürzte ihr mit ausgestreckten Händen entgegen.
„Es gibt dich also wirklich? Ich dachte immer...“
Der Fluss benetzte ihre bloßen Füße, aber der Saum ihres Kleides war trocken. Wolfram brach ab, und die fremde Frau lächelte. Er stieß einen gellenden Schrei aus: Sie hatte grüne Zähne.
„Du bist eine Wasserhexe“, flüsterte er fassungslos. „Mein Leben lang habe ich von dir geträumt, aber du bist nur eine seelenlose Ausgeburt der Hölle, du Zerrbild einer Frau.“
Er hob die Hände, als wolle er sie schlagen, dann ließ er sie kraftlos sinken. Plötzlich wich die Wut tiefer Müdigkeit. „Wo ist mein Sohn?“, fragte er beinahe flehend. „Warum hast du mein Kind gestohlen?“
Eine klare Träne rollte über die makellose Wange der Nixe, während sie ihn unverwandt ansah.
„Damit mein Kind leben kann“, flüsterte sie endlich. „Du hast mich seelenlos genannt, und das ist wahr. Ich bin nicht an die Beschränkungen gebunden, die euer Gott euch kurzlebigen menschlichen Wesen auferlegt hat. Sieh mich an. Ich bin tausend Jahre alt und mehr, und ich werde weitere tausend leben. In dieser Zeit werde ich vielleicht ein oder zwei Kinder zur Welt bringen. Du hast von meinen Brüsten geträumt, nicht wahr? Du musst nicht erröten, es ist meine Natur, euch zu verführen. Es sind die Brüste einer Sirene, nicht die einer Mutter.“ Eine zweite Träne folgte der ersten. „Ich bin so mächtig, und doch habe ich keine Milch für mein eigenes Kind. Das ist der Grund, warum wir unsere Kinder in eure Wiegen legen. Damit sie leben.“
„Und unsere Kinder?“, fragte Wolfram bitter.
Die Nixe schwieg.
„Manchmal überleben sie“, sagte sie endlich mit abgewandtem Gesicht.
Das Wasser rauschte. Es war ein wunderbarer Tag. Ein Teil von Wolfram konnte immer noch nicht fassen, was gerade geschah. Er sah in die traurigen, alterslosen Augen der Wasserfee und suchte vergebens, Hass und Zorn in seinem Herzen wieder anzufachen.
„Warum gerade mein Kind?“, fragte er endlich. Es waren die gleichen Worte, die er zuvor an Gott gerichtet hatte. „Warum Lukas?“
Ihre einzige Antwort bestand in einem Blick, der ihn schwindelig werden ließ. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Marthe ihn so angesehen. Bei dem Gedanken an seine Frau verfinsterte sich sein Gesicht, und er wich einen Schritt zurück. Auch das abstoßende Ding in der Wiege fiel ihm wieder ein. Die Nixe schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn ihre Züge verdüsterten sich.
„Auch wir lieben unsere Kinder!“
„Und was soll jetzt werden?“
„Ich weiß es nicht.“ Die Nixe seufzte. „Der Zauber wirkt nicht immer, der die Menschenfrauen dazu bringt, unsere Kinder anzunehmen. Wenn er versagt, tötet ihr sie. So ist es doch.“
Wolfram sah auf seine Hände.
„Ja. So ist es. So erhalten wir unsere Kinder zurück.“
Plötzlich glitt sie zu ihm und schlang ihre Arme um seinen Hals. Ihre Hände waren kühl und ihre Augen schienen ihn zu verschlingen wie grüne Teiche.
„Gib mir mein Kind zurück. Verzeih mir, und gib es mir zurück. Ich werde eine andere Mutter finden … irgendwo … weit fort. Aber lass nicht zu, dass sie es töten. Wirst du das für mich tun?“
Wolfram konnte nur nicken. Ihre Nähe benebelte seine Sinne. Alles an ihr war süß und kühl. Er erwiderte ihre Umarmung, und als ihre Lippen seinen Mund streiften, vergaß er für die Dauer einiger Herzschläge, dass daheim eine Frau auf ihn wartete.
„Danke!“, raunte die Nixe in sein Ohr. „Ich danke dir. Du bist gut.“
In der nächsten Sekunde war Wolfram allein. Er ließ die Arme sinken, die zuletzt nur noch die leere Luft umarmt hatten.

Der junge Mann sah schon von weitem den Menschenauflauf, der sich vor seiner Hütte gebildet hatte. Eine plötzliche Angst befiel ihn, und er begann zu rennen. Marthe musste aufgewacht sein. Die Erinnerung zerrte an ihm. Er wusste, dass er seine Frau im Stich gelassen hatte, doch das Singen in seinem Herzen wollte nicht aufhören. Er dachte an schwarze Haare und grüne Augen und einen Kuss, der nach Seerosen schmeckte. In diesem Augenblick wurde die Türe seines Heims aufgestoßen. Zwei Gestalten erschienen auf der Schwelle. Es waren Marthe und der Pfarrer. Als die junge Frau ihn sah, stieß sie einen ihrer schrillen Schreie aus und rannte ihm entgegen. Tränen strömten aus ihren verheulten Augen.
„Wolf!“, schluchzte sie. „Wolf, er ist wieder da!“
Sein Gehirn war leer.
„Was meinst du?“
„Als ich aufgewacht bin und du nicht da warst, hab ich den Pfarrer geholt. Dieses Ding musste einfach weg!“, rief sie, während sie ihren Mann über die Schwelle und zu dem kleinen Kinderbettchen zerrte. Ihre schrille Stimme zerrte an seinen Nerven so wie ihre dünne Hand an seinem Arm. „Da, unser Lukas!“
Sie drängte ihn zu der Wiege. Wolfram streifte mit einem flüchtigen Blick das verschrumpelte rote Gesicht des Säuglings, dann starrte er auf die Flecken auf dem Holzfußboden neben der Wiege. Schweiß trat ihm auf die Stirn.
„Was ist das?“
Marthes Gesicht verzog sich vor Ekel.
„Ach das … das war das Ding … der Wechselbalg. Der Pfarrer hat ihn mit Weihwasser besprengt. Er hat angefangen zu schreien und zu wimmern wie eine Katze, die ersäuft werden soll, und dann ist er selber zu Wasser zerflossen. Und als er fort war, lag Lukas wieder in seinem Bettchen und lachte wie ein kleiner Engel. Da, halt ihn doch auch einmal … guck mal, Lukas, Papa ist da!“
Wolfram nahm das Kind auf die Arme, das seine Frau ihm aufdrängte, ohne es wirklich wahrzunehmen. Im Herzen hörte er einen Schrei, von dem er wusste, dass er ihn sich nur einbildete. Aber er wusste auch, dass er ihn nie vergessen würde.
„Verzeih mir“, flüsterte er.
Marthe blinzelte, dann strich sie ihrem Mann sanft über die Wange. „Es ist nicht deine Schuld. Und jetzt ist ja alles wieder gut.“

An diesem Tag und an vielen folgenden ging Wolfram an den Fluss und wartete auf die Nixe, um ihre Vergebung zu erflehen. Er sah sie nie wieder.

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