Mainhattan Moments
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Juni 2004
M U T T E R L I E B E
von Susanne Schubarsky

„Bitte, lieber Gott, lass meine Mutter noch nicht sterben.“ Wie jeden Abend bete ich an ihrem Bett. Sie wirkt klein und hilflos, wenn sie so regungslos daliegt. Seit der letzten Embolie kann sie nur noch ihre Augen bewegen. Diese Augen. So voller Schmerz. Sie scheinen mich anzuflehen. Nein, sie darf noch nicht sterben.
Ich kontrolliere den Tropf mit der Nährlösung, ihren Katheter. Ihre Augen folgen jeder meiner Bewegungen. Ihr flacher Atem wird plötzlich rascher, unregelmäßig, stoppt. Ich beginne mit der Herzmassage. Die Bewegungen sind mit den Jahren zur Routine geworden, doch diesmal stellt sich der gewünschte Erfolg nicht ein, sie beginnt nicht wieder zu atmen. Raschere Bewegungen. Mund-zu-Mund-Beatmung. Immer noch nichts. Der Notfall-Knopf befindet sich direkt über ihrem Bett. Während ich auf das Notarzt-Team warte, bete ich wieder.

Ich sitze vor der Notaufnahme und warte. Eine der Schwestern bringt mir Kaffee. Ich höre, wie sie ihrer Kollegin etwas zuflüstert. „Das arme Ding. Erst stirbt der Vater bei diesem schrecklichen Unfall, und kurz darauf passiert die Sache mit ihrer Mutter. Seit zehn Jahren pflegt sie sie schon, tut alles für sie. Manchmal würde ich ihr wirklich wünschen, dass es bald vorbei ist. Sie hat ja gar kein eigenes Leben.“
Ich schüttle langsam den Kopf. Nein. Ich habe kein eigenes Leben, aber das hatte ich nie. Jetzt habe ich wenigstens eine Aufgabe, die meine leeren Stunden ausfüllt und die schwarzen Gedanken fern hält. Meistens.
Ein Arzt kommt durch die große Doppeltür auf mich zu. Er blickt mich ernst an. „Wir konnten Ihre Mutter vorerst stabilisieren, aber sie ist sehr schwach und ihr körperlicher Zustand ist sehr schlecht.“
Er legt mir seine Hand auf die Schulter.
Ich öffne meinen Mund, möchte etwas sagen, doch er unterbricht mich.
„Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Ihre Pflege ist bestimmt ausgezeichnet, doch manchmal, wenn ein Patient nicht mehr will, können wir nichts dagegen tun.“
Ich fühle hilflose Wut heiß in mir aufsteigen.
„Nein! Sie darf noch nicht sterben. Es ist doch noch viel zu früh. Das ist nicht gerecht!“
Der Arzt sieht mich seltsam an.
„Beruhigen Sie sich. Wir tun selbstverständlich alles Menschenmögliche für Ihre Mutter. Aber in ihrem Zustand ist es nicht sicher, dass wir erfolgreich sind. Jetzt braucht sie unbedingt Ruhe und wir können nur abwarten, bis es ihr wieder besser geht.“
Er drückt noch mal beruhigend meine Schulter. „Sie können gerne hier warten, ich informiere Sie so schnell wie möglich.“

Die Wartezeit ist endlos, und immer wieder versuchen die schwarzen Gedanken durchzudringen. Nein. Ich will mich nicht erinnern. Ich muss mich auf mein Ziel konzentrieren.
Endlich der Arzt.
„Ihrer Mutter geht es gut. Wir werden sie noch einige Tage hier behalten, aber dann können wir sie wieder in Ihre Pflege nach Hause entlassen. Sie müssen die Morphium-Dosis erhöhen, sie scheint besonders von den Schmerzen sehr geschwächt. Das können wir ihr auf jeden Fall erleichtern. Und auf die wund gelegenen Stellen müssen Sie Acht geben, die können sich leicht entzünden.“

Sie wirkt erholt, sieht überhaupt besser aus, als sie eine Woche später von der Ambulanz wieder nach Hause gebracht wird. Gut.
Die Sanitäter sind nett und sprechen mir Mut zu. Ich lächle für sie. Erst lange nachdem sie weg sind, denke ich daran, das Lächeln wieder von meinem Gesicht zu nehmen. Ich brauche es nicht mehr.
Ruhig liegt sie da, die Augen weit offen. Ich setze mich neben ihr Bett. „Hast du Schmerzen?“
Sie blinzelt einmal. Ja.
Ich hole das Morphium, zeige ihr das kleine Fläschchen. Ihre Augen flehen mich an. So wie ich jahrelang gefleht habe, dass sie mir hilft, mich befreit aus der Hölle. Doch sie hat nur zugesehen, nichts gesagt, nichts getan, während ich gelitten habe. Bis ich mir selbst helfen konnte. Vater ist viel zu schnell gestorben. Diesen Fehler werde ich nicht noch einmal begehen.
Ich öffne das Fläschchen, drehe es um, leere den Inhalt über ihr Bett. Tränen rinnen langsam über ihre vertrockneten Wangen. Ich habe schon lange keine Tränen mehr.

„Bitte, lieber Gott, lass meine Mutter noch nicht sterben.“



Kontakt: Susanne@Schubarsky.at

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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