Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Juni 2004
Knoten
von Florian Tietgen

»Es wird Zeit, Frau Mundrach.«
Er soll mich hier verweilen lassen. Dich in meinen Händen, allein mit meiner Erinnerung, die viel zu frisch ist, um sie in der Vergangenheit zu denken.

»Stefan!«
Ich rüttle leicht an deinen Beinen, um dich zu wecken. Hätte ich die Musik nicht gehört, wäre ich nicht einfach in deine Wohnung gegangen. Immerhin habe ich den Schlüssel nur für Notfälle. Ist es ein Notfall, wenn du dich drei Tage nicht meldest? Du weißt doch, dass ich mir dann Sorgen mache.
Es ist so ordentlich hier. Anscheinend brauchst du mich nicht mehr. Ein paar Blumen könnten nicht schaden. Ich werde welche mitbringen, wenn ich dich das nächste Mal besuche.
»Stefan, aufwachen!«
Ich schüttle dich etwas fester an der Schulter. Du siehst so friedlich aus, erst recht, wenn du im Schlaf lächelst. Deinen Schlaf hast du von mir. Wie oft musstest du mich mit aller Gewalt aus den Träumen reißen, um pünktlich zur Schule zu kommen, als du noch ein Kind warst?
Ab und zu an Sonntagen oder wenn Ferien waren, hast du dich auf Zehen in mein Zimmer geschlichen, um den Wecker auszustellen. Du wusstest, wie lange ich immer wach blieb. Du hast mir meinen Schlaf gegönnt.


»Wie lange stehst du schon unter der Dusche?«
Es war jeden Sonntag das Gleiche. Stefan hat nie begriffen, warum sie sich den Wecker stellte. Sie konnte doch ausschlafen. Nur wenn Stefan es schaffte, vor ihr wach zu sein und den Wecker abzustellen konnte sie sich nicht zu ihm legen, an seinen Ohren und an seiner Nase knabbern, seinen Bauch küssen oder die gekräuselten Haare zwischen ihren Beinen an ihm reiben.
»Warum hast du mich nicht geweckt, als du aufgestanden bist?«
Stefan kannte die Fragen auswendig. »Guten Morgen, Mama.« Manchmal ließ sie sich besänftigen, wenn er freundlich genug war. »Ich wollte erst duschen, danach hätte ich dich geweckt.« Das war bestimmt die falsche Antwort. Aber es war die Wahrheit.
»Welch hilfloser Versuch«, höhnte Elke. »Kannst du nicht ein einziges Mal morgens zu mir unter die Decke kriechen und mich mit Küssen wecken, wie Kinder, die ihre Eltern lieben? Immer muss ich zu dir kommen.«
Wenn sie wüsste, wie Recht sie damit hat. Warum konnte er es nicht genießen, dass seine Mutter ihn liebte?
»Aber du fliehst unter die Dusche, um mich ja nicht in den Arm nehmen zu müssen.«
Flucht hätte keinen Sinn gehabt. Stefan wollte doch nur in Ruhe duschen. Er wollte fertig sein, bevor sie aufwacht, wollte angezogen sein, damit sie sich nicht zu ihm unter die Dusche stellen konnte.
»Alles, was ich will, ist doch, dass du nicht so wirst, wie andere Männer, wie dein Vater zum Beispiel, der mich einfach sitzen gelassen hat, als ich mit dir schwanger war.«
Ekelte Stefan sich vor seiner Mama, weil er war, wie sein Vater? Wie könnte er es schaffen, nicht mehr wie er zu sein?
»Ist es so schwer, ein bisschen rücksichtsvoll und zärtlich zu seiner Mutter zu sein? Was habe ich falsch gemacht? Warum bist du bloß so sehr Mann? Wenn du die Frauen so wenig achtest, wirst du nie eine Freundin finden.«
Warum fiel Stefan immer nur nachts eine Antwort ein, wenn ihm das schlechte Gewissen wütend den Schlaf raubte?


Du scheinst getrunken zu haben. Eine leere Wodkaflasche steht neben dem Sofa auf dem Tisch. Vielleicht wolltest du gar nicht einschlafen? Sonst wärest du sicher in das teure Bett gegangen, das ich dir zum Umzug geschenkt habe. Lange schläfst du bestimmt nicht dort auf der Couch. Immerhin läuft die Musik noch.
Wie lange habe ich deine Wangen nicht mehr berührt. Ob ich es darf? Als du klein warst, mochtest du es, wenn ich dir mit dem Zeigefinger ganz leicht über die Lippen strich. Das war schön. Einmal noch. Vielleicht weckt dich die Erinnerung auf?
Du solltest viel öfter in die Sonne gehen. Ich habe doch so einen schönen Garten. Warum nutzt du ihn nicht?
»Stefan!« Willst du mich ärgern oder warum wachst du nicht auf?
Wie schön war es, als du lieber bei mir bleiben wolltest, als dich mit Freunden im Hof zu treffen. Nie wolltest du von meiner Seite weichen. Nie konnte ich dich rausschicken. Egal wie schön das Wetter war. Immer musste ich dich zwingen, mir mal ein paar Stunden Ruhe zu gönnen.


»Muss ich wirklich zu Manuel gehen?« Die Sonne schien. Sie hatten den Tag im Schwimmbad verbracht. Elke wollte ein bisschen lesen oder fernsehen, die Stille des Abends genießen oder mit einer Freundin telefonieren. War das zu viel verlangt?
»Manuel ist dein Freund, Stefan. Und Freundschaften muss man pflegen.«
»Ich bin aber so erschöpft. Ich mag jetzt nicht mehr zu Manuel gehen.« Am Morgen, da wäre Stefan gern mit Manuel ins Freibad gegangen. Aber die Mutter hatte den Freund fortgeschickt. Stefan würde lieber mit ihr an den See fahren, hatte sie ihm erklärt. Das Wasser im Schwimmbecken sei doch viel zu stark gechlort und Stefan würde ihn am Abend besuchen.
»Fragst du jemals, wie es mir geht? Ob ich vielleicht auch erschöpft bin? Du hast es ihm gestern versprochen. Wenn du deine Verabredungen nicht einhältst, bist du kein Freund, sondern ein Arschloch! Also gehe jetzt zu Manuel! Du kannst doch sonst auch nie schnell genug von mir fortkommen!«


»Stefan.« Zärtlich flüstere ich deinen Namen. Mein Zeigefinger spürt keinen Widerstand an deinen Lippen. Warum sind sie so blass? Fast bläulich? Und warum spüre ich keinen Atem?
»Stefan!« Jetzt packe dich fest an beiden Schultern, reiße dich hoch und presse dich auf das Sofa zurück. Die Panik möchte mir etwas einreden, was unmöglich wahr sein kann? Dein Herz? Kann ich fühlen, ob es noch schlägt? Vielleicht, wenn ich die Hand unter deinen Pulli halte? So wie früher, wenn du Fieber hattest? Du bist so kalt!
»Stefan!«, kreische ich. »wach endlich auf!«
Wo hast du nur dein Telefon? Ich muss unbedingt einen Notarzt anrufen. Welche Nummer war das noch?
»Hallo? – Kommen Sie bitte schnell! - Mein Sohn.«
Gut, dass sie mir am anderen Ende Fragen stellen. Fragen sind etwas, an dem ich mich festhalten kann. Ein Glück, dass sie Geduld mit mir haben, auch wenn ich immer unklarer und hektischer meine Antworten in den Hörer stammle, bis endlich die erlösende Auskunft kommt: »Wir schicken sofort jemanden vorbei.«
Wie lange dauert das Lied eigentlich noch? Oder fängt es immer wieder von vorne an?
»Die Fenster sind verdunkelt. Das Telefon ist stumm. Die Klingel hab ich abgestellt, nun bringe ich dich um.«
Habe ich das nicht schon mal gehört?
Darf ich meinen Mund auf deinen pressen, um dir meinen Atem zu leihen, nur so lange, bis du wieder deinen eigenen findest? Deine Lippen empfangen mich, aber die Lungen sind versperrt. Wie kann ich es schaffen, dir wieder Leben einzuhauchen?
Nein, so darf ich nicht denken. Du lebst. Du atmest nur nicht. Wenn die Ärzte kommen, werden sie es schon schaffen, aus deinem Lächeln wieder ein Lachen zu zaubern, so hell und klar, wie ich es aus deinen Kindertagen kenne. Wo bleiben sie nur?
»Sie hat dich viel geprügelt. Du gabst es ihr zurück. Du tötetest die Greisin mit rhetorischem Geschick.«
Was hörst du da? Hast du eine Vorstellung, wie es ist, geschlagen zu werden? Meine Mutter hat mich windelweich geprügelt. Du hattest es doch gut bei mir. Ich habe dich so sehr geliebt. Du konntest mir vertrauen, mich als Freundin sehen, der du alles erzählen könntest.
Warum musstest du dich betrinken?

Endlich.
»Kommen Sie rein!«, fordere ich stockend die Männer auf. Ich schaue sie kaum an, sondern wende mich gleich ab, um ihnen den Weg zu weisen.
Es sind so viele Geräte im Koffer, so viele Werkzeuge der Hoffnung, die sie bei sich tragen. Die könnten sie doch wenigstens benutzen, anstatt sich wortlos über dich zu beugen und deine Augenlider zu öffnen. Wie schaffen sie es, sich zu mir zu drehen, ohne etwas versucht zu haben und mir ins Gesicht zu sehen, während sie mir routiniert mitteilen: »Es tut uns Leid. Wir können nichts mehr tun.«
Was heißt das? Sie können nichts mehr tun? Sie können dich doch nicht so einfach aufgeben! Meinen Stefan doch nicht.
»Dürfen wir kurz telefonieren?«
Ich kann nicht mehr mit dem Kopf nicken. Wie bekomme ich es hin, ihnen wortlos das Telefon zu geben?
»Schrei nur Mutter. Niemand kann dich hören.«
Und wie schalte ich diese verdammte Musik aus?
»Mund auf, Mutter. Niemand wird uns stören.«
Ich kann nicht einmal mehr schreien.
»Soll ich das abstellen?«, fragt mich einer der Männer.
Jetzt kann ich nicken. Auch hinsetzen kann ich mich. Im Stehen kann ich mein Gesicht nicht verbergen, muss gefasst bleiben und zuhören, wie der Arzt die Polizei ruft.
»Der Junge war ihr Sohn?«, fragt der andere.
Was heißt, du warst? Du bist es noch. Du wirst immer mein Sohn bleiben!

»Lassen Sie los, Frau Mundrach. Es ist Zeit Abschied zu nehmen.« Weiß er wie das ist?
Wie wenig von dir übrig ist. Ein Häuflein Asche ist alles, was ich von dir in den Händen halte.
Urnenbeisetzung. Welch friedliches Wort dafür, dass ich alles, was du mir gelassen hast unter der Erde verscharren soll. Könnte ich nicht wenigstens diesen Rest von dir behalten und in dein Zimmer neben die Fotos stellen?
Warum sehe ich dich auf den Fotos nie lachen? Dabei hast du so oft gelacht, dass ich deine gute Laune manchmal nicht ertragen konnte.

Was hast du dir dabei gedacht, Stefan? Mich zuschauen zu lassen, wie sie dich in einem Zinksarg auf die Straße tragen? Hast du einmal darüber nachgedacht, dass du mir das Herz damit brechen könntest?
Warum hast du mich allein gelassen? Warum musste ich mich darum kümmern, deine Beerdigung zu organisieren, deine Wohnung zu kündigen und aufzulösen? Warum musste ich so viele mitleidige Hände schütteln? Hättest du daran nicht denken können? Da hattest doch gar keinen Grund dich zu betrinken. Dir ging es doch gut. Du hattest mich.
Verzeih mir meine Wut, Stefan. Es war doch ein Unfall? Du hast es bestimmt nicht gewollt. Der Arzt hat bestimmt keine Ahnung. Der behauptet, du hättest dir Tabletten in den Wodka gemischt oder sie mit ihm hinuntergespült. Wie kann er es wagen? Was will er mir einreden? Schuld?
Nie wärest du auf die Idee gekommen, mir solchen Schmerz zuzufügen. Du hast mich doch geliebt. Hast du doch, oder?



Die kursiv gesetzten Textpassagen entstammen dem Lied „Die Fütterung" von Heinz Rudolf Kunze. Die Verlagsrechte der Texte liegen beim Oktave Musikverlag.

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