Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Juni 2004
Mutterliebe
von Dirk Christofczik

1
Nico gab Gas, so wie er es liebte. Es war ein Glücksgefühl wieder fahren zu dürfen nach den langen Monaten der Abstinenz. Endlich hatte er seinen Führerschein wieder, und das wollte er heute so richtig ausnutzen. Die Straße lag im Morgengrauen wie jungfräulich vor ihm, er wollte alles aus dem kleinen Roadster herausholen. Er nahm sich noch schnell eine Zigarette aus dem Handschuhfach, zündete sie an und sog ein paar Züge durch die Lunge. Der Wagen lag ruhig in der Spur, schnurgerade, fast wie von Geisterhand gelenkt. Mit der Zigarette im Mundwinkel fummelte Nico am Sendersuchlauf herum, um die passende Musik für seinen kleinen Geschwindigkeitstest zu suchen. Er schaute auf das Display des Radios und fluchte leise vor sich hin, weil er von einem Seniorensender zu anderen zappte. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf die Straße, und trotz des Schrecks, der ihm durch alle Glieder fuhr, trat er sofort auf die Bremse. Das Quietschen seiner Reifen durchdrang die Stille des Morgengrauens, der Wagen schlidderte über den feuchten Reif, genau auf die Bäume zu, die zu beiden Seiten die Landstraße säumten. Mit aller Kraft lenkte Nico dagegen, doch der Wagen bockte wie ein wildes Pferd und war fast nicht mehr zu bändigen. Der Zweisitzer drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse. Nico fühlte sich wie ein Zwerg, der eine wilde Fahrt in einem Kinderkreisel machte. Immer noch gab er nicht auf, er versuchte alles um die Kontrolle zurückzugewinnen, und wie durch ein Wunder wurden die Kreiselbewegungen langsamer. Die Bäume und die Straße nahmen allmählich wieder klare Konturen an, und nach einer Weile stand der Wagen still. Es sah aus, als wäre nichts passiert. Das Auto stand in Fahrtrichtung auf der rechten Spur, nur Nico keuchte, als hätte er einen Hundertmetersprint hinter sich. Aufgeregt starrte er durch die Windschutzscheibe. Im Lichtkegel seines Wagens entdeckte er den Grund für diese waghalsige Notbremsung. Er hatte sich tatsächlich nicht getäuscht, denn im Kegel des Scheinwerfers stand eine Frau, mitten auf der Straße, wild gestikulierend in offensichtlicher Panik. Nicos Hände zitterten, dann allerdings übermannte ihn die Wut auf diese Frau dort auf der Straße, die ihn fast ins Jenseits befördert hätte. Er fuhr den Wagen an den Rand der Straße, stellte den Motor ab und zog die Handbremse. Nur das Licht ließ er an, obwohl ein schriller Warnton ansprang, als er die Wagentür öffnete. Er stieg aus dem Auto, wollte sofort losschimpfen und dieser Wahnsinnigen richtig die Meinung geigen, als er bereits das verzweifelte Schreien und wilde Winken der Frau bemerkte, die aus dem Lichtkegel seines Wagens heraus auf ihn zugestürmt kam.
»Hilfe, Hilfe! Bitte helfen Sie mir!«, schrie sie in die Stille der morgendlichen Landstraße. Ein mulmiges Gefühl schoss durch Nicos Körper, schlich durch die Windungen seiner Därme, zog seinen Magen schmerzhaft zusammen und schoss wie ein Lavastrom durch seine Speiseröhre in den Kopf hinein. Ehe er sich versah, lag die fremde Frau weinend in seinen Armen.
»Hilfe, meine Tochter, bitte helfen Sie mir! Sie stirbt, helfen sie ihr doch!«, schrie sie ununterbrochen mit brüchiger Stimme. »Hören Sie, ich helfe Ihnen ja, aber wenn Sie so rumstammeln, kann ich nichts machen. Beruhigen Sie sich und sagen Sie mir, was passiert ist.«
Der Brustkorb der Frau senkte und hob sich in einem irrsinnigen Tempo, ihre Augen waren aufgerissen. Schwarze Schlieren von verwischter Schminke ließen sie wie eine Figur aus einem Horrorroman erscheinen. Langsam beruhigte sie sich ein wenig, und ihre Brust pumpte ein bisschen langsamer.
»Meine Tochter! Meine Tochter ist verunglückt. Dort drüben im Wald, wir haben dort eine kleine Hütte am See. Sie ist vom Baum gefallen!« Die Frau zeigte mit zitternden Händen auf eine Stelle im angrenzenden Wald. Nico folgte ihrem Finger und sah einen schmalen Feldweg, der sich zwischen zwei Maisfeldern in eine dichte Tannenschonung schlängelte.
»Haben Sie schon einen Krankenwagen gerufen?«
»Ja, natürlich! Aber der braucht mindestens eine Stunde, bis hierhin. Bis dahin ist meine Gina verblutet. Sie müssen mir helfen, bitte! Sie müssen sie ins nächste Krankenhaus fahren! Ich flehe Sie an.«
Verdammte Scheiße, dachte Nico und war sich im Klaren darüber, dass er aus dieser Nummer nicht raus konnte. Kriegt man Blut von den Ledersitzen?, ging es ihm durch den Kopf, dann überlegte er einen Augenblick, einfach zu verschwinden und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Er hätte es auch getan, aber er war immer noch auf Bewährung, und diese Sache hätte ihn wahrscheinlich endgültig in den Knast gebracht, also blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Frau und ihre blutende Göre in seinem neuen Wagen in die nächste Stadt zu fahren.
»Kommen Sie! Steigen Sie ein, wir holen Ihre Tochter. Kommen wir mit dem Wagen bis zur Hütte?«, fragte er gespielt besorgt.
»Ja, Sie können den Feldweg lang, er führt direkt dorthin.«
»Haben Sie keinen Wagen?«
»Nein, mein Mann hat uns gestern abgesetzt. Er musste noch zu einem Termin in München, dann wollte er morgen nachkommen.«
Nico führte sie zu seinem Auto, spielte den Galanten und hielt ihr die Tür auf. Der Feldweg war eher ein Trampelpfad. Nico hatte Angst um seinen Wagen und erwartete jeden Augenblick mit der tiefer gelegten Karosserie an einem Stein hängen zu bleiben. Er fluchte innerlich und wäre am liebsten schnurstracks umgedreht.
»Ein Segen, dass Sie gerade vorbeigekommen sind. Gina hat schon so viel Blut verloren, ich habe solche Angst. Danke, dass Sie mir helfen!«
Nico lächelte gequält, jeder Schlag an den Unterboden tat ihm mehr Leid als das Mädchen und ihre Mutter. Du blöde Schlampe, hättest du nicht dreißig Sekunden später auf dieser verdammten Landstraße stehen können, dachte er wütend, während er die Frau aus den Augenwinkeln beobachtete.
Mitte dreißig, wahrscheinlich! Lange blonde Haare, fast bis zum knackigen Arsch, verlebtes Gesicht, zumindest das, was man unter der ganzen Spachtelmasse sehen kann, aber sonst ganz hübsch. Geile Titten und straffe Beinchen, vielleicht sollte ich lieber versuchen, dich ins Bettchen zu bekommen.
»Da vorn an der Weggabelung nach links, dann noch ein paar hundert Meter, dann sehen Sie das Haus. Hoffentlich lebt sie noch, meine kleine Gina.«
Er bog nach links ab. Sie waren mittlerweile von beiden Seiten von dichten Tannen eingeschlossen, und der holprige Pfad wurde von einem etwas angenehmeren Kiesweg abgelöst.
»Sie wird schon in Ordnung sein ...? Wie heißen Sie eigentlich?«
»Was?«
»Wie heißen Sie? Ich bin Nico!«
»Ähm ja, natürlich! Ich heiße Kira.«
»Schöner Name!« Mit rasender Wut im Bauch hörte Nico, wie die Kieselsteine an den Lack spritzten und dort wahrscheinlich ihre Visitenkarte hinterlassen würden.
»Sehen Sie, da vorn ist es!«
Nico sah in einiger Entfernung die Konturen einer flachen Holzhütte, in der Mitte erblickte er ein erleuchtetes Rechteck. Als sie näher kamen, sah er die dicken Stämme eines Blockhauses, im Hintergrund schlummerte friedlich ein kleiner See. Nico stoppte den Wagen genau vor dem Aufgang zu einer kleinen Veranda. Der Wagen stand noch nicht ganz, da sprang Kira schon aus dem Auto und rannte die schmalen Stufen hinauf. Oben angekommen drehte sie sich um und winkte Nico aufgeregt zu.
»Kommen Sie doch! Wir müssen uns beeilen!«
Er antwortete nicht, stieg aus dem Wagen und begutachtete mit einem Blick den zerkratzten Lack an seinem Wagen. Mit Schaum vor dem Mund lief er über den knirschenden Kies und folgte Kira auf die Veranda. Sie öffnete die Holztür, dann schob sie die bunten Plastikstreifen zur Seite, die als Schutz vor Insekten in den Rahmen der Tür gehängt waren, und bat Nico, vor ihr in die Hütte zu gehen. Mit einem Mal beschlich Nico ein ungutes Gefühl, er führte dies aber darauf zurück, dass ihn die Szenerie an einen blutigen Horrorfilm erinnerte, den er ein paar Tage zuvor mit einigen Kumpeln geschaut hatte. Vorsichtig steckte er seinen Kopf in den Raum, blickte sich ein wenig um und trat dann ganz hinein. Er musterte das Innere: eine, kleine altmodische Couch, ein Ohrenbackensessel, Fernseher, ein Herd und ein Kühlschrank. Die hintere linke Ecke des Raumes mit einem roten Samtvorhang abgehängt. Von einem Kind keine Spur.
»Wo ist sie denn?«, fragte Nico.
»Da, hinter dem Vorhang! Sie liegt im Bett. Bitte holen Sie Gina! Tragen Sie die Kleine in den Wagen.«
Langsam ging Nico durch den Raum, die alten Schiffsbohlen unter seinen Füßen schienen sich zu biegen, zumindest knarrten sie so, als ob er jeden Augenblick in den Keller stürzen würde. Vor dem roten Samtvorhang blieb er stehen, der Stoff duftete frisch, nicht alt und vermodert, wie er es in dieser etwas schäbigen Hütte erwartete hätte. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Vorhang auf und starrte auf ein altes Bett mit aufwändig verziertem Kopf- und Fußteil aus Messing. Nicos Blick fiel auf die Wand hinter dem Bett. Überall hingen Fotos, die gesamte Wand war mit Bildern zugeklebt, nur an wenigen Stellen schimmerte die Blümchentapete hindurch. Das Gesicht eines Mädchens lachte ihm auf jedem der Fotos entgegen. Er erstarrte, als er das Kind nach einer Weile erkannte. Er bemerkte nicht einmal mehr die Handschellen, die an jedem der vier Messingpfosten befestigt waren.
»Was soll das?«, hörte Nico noch zu sich selber sagen, da spürte er einen Stich in seinem Oberarm. Er drehte sich um und stand Auge und Auge mit der Frau, die ihn so flehend um Hilfe gebeten hatte. In seinem Oberarm steckte eine Spritze! Langsam drückte die Frau den Kolben in den Zylinder und katapultierte die Flüssigkeit in seinen Arm. Nico bemerkte noch den zufriedenen Ausdruck auf ihrem Gesicht, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

2
Nico wurde vom Motorengeräusch seines Wagens wach. Er lag auf dem Messingbett und fühlte sich wie gerädert. Als er sich bewegen wollte, merkte er, dass er mit Händen und Füßen in Handschellen steckte und sich nur wenige Zentimeter bewegen konnte. Wieder hörte er den Motor seines Wagens aufheulen, einige Sekunden später drang ein lautes Klatschen von draußen herein, dann erstarb das Motorengeräusch mit einem Blubbern. Nico war sofort klar, was da draußen passiert war, und vor seinem geistigen Auge sah er seinen teuren Sportwagen im See versinken.
»Du alte verkackte Schlampe!«, schrie er und zerrte an den Handschellen. Das Einzige, was dieses sinnlose Unterfangen brachte, waren schmerzende Handgelenke und tiefe Abdrücke unterhalb seiner Fußknöchel. Er versuchte sich zu beherrschen und ruhig zu liegen. Wenn er war, hatte er noch nie besonders gut Schmerzen aushalten können. Eine Invasion von Gedanken fiel in Nicos Kopf ein. Er schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Er musste seine Gedanken ordnen und herausfinden, was diese Frau von ihm wollte. Er war gefangen, mitten in einer einsamen Gegend, in den Händen einer offensichtlich Wahnsinnigen.
Als er seine Augen wieder öffnete, stand sie unmittelbar vor dem Bett und schaute ihn schräg an. Nico zuckte zusammen, wobei sich die Handschellen schmerzhaft in seine bereits entzündeten Gelenke pressten. Er jaulte laut auf, was bei der Frau nicht die geringste Reaktion hervorrief.
»Was wollen Sie von mir?«, schrie er sie an. Die Frau schwieg beharrlich und beobachtete ihn nur mit ihrem ausdruckslosen Gesicht. Wieder meldete sich Nico lauthals zu Wort.
»Sag was, du Miststück! Mach mich los, sofort!«
Die Frau schaute ihn weiter an, nach einer Weile hob sie ihren Arm, griff sich fest auf den Kopf, zog mit einem Schwung ihre blonden Haare herunter und schleuderte sie hinter sich auf den Boden. Raspelkurze, pechschwarze Haare, durch die man auf ihre Kopfhaut blicken konnte, kamen zum Vorschein. Nico schaute sie mit großen, völlig verwirrten Augen an. Nachdem sie sich ein Feuchttuch aus einer Tasche, die neben dem Bett stand, genommen hatte und sich die dick aufgetragene Schminke provisorisch entfernt hatte, wurden Nicos Augen noch einmal so groß. Aus seinem Gesicht sprach nun größtr Angst, gepaart mit totaler Überraschung.
»Sie?«, stammelte er leise.
»Da staunst du, nicht wahr?«
Nachdem sie ihre Verkleidung abgelegt hatte, wusste Nico sofort, wer da vor ihm stand. Er kannte sie aus der Gerichtsverhandlung, die gegen ihn geführt worden war, weil er vor zwei Jahren im Suff ein Kind überfahren hatte. Um Gottes willen, das ist die Mutter der Kleinen!, dachte Nico starr vor Entsetzen. Es war ihm nun klar, was sie von ihm wollte, sie lechzte nach Rache, sie wollte ihn umbringen.
»Ich habe dir ja schon im Gerichtssaal gesagt, dass du nicht so leicht davonkommen wirst. Jetzt wirst du büßen für das, was du meiner kleinen Tina und mir angetan hast!«, fuhr sie fort. Sie sprach deutlich, ohne erkennbare Aufregung. Es klang, als ob sie sich die Worte sorgsam zurechtgelegt hätte.
»Verdammt, was willst du von mir? Willst du mich umbringen?«
Nico wollte, dass es selbstbewusst klang, doch in seiner Stimme schwang eine jämmerliche Angst mit, die er nicht zu verbergen vermochte.
»Genau! Ich werde dich umbringen! Du wirst von diesem Bett nicht mehr runterkommen, jedenfalls nicht lebendig. Dafür werde ich sorgen!«
»Du bist ja wahnsinnig!«
»Auch das hast du richtig erfasst. Du bist ja schlauer, als ich dachte. Ja, ich bin wahnsinnig! Wahnsinnig allein ohne meine Tina, die du altes Drecksschwein einfach so umgefahren hast. Hast sie liegen lassen in ihrem Blut. In dieser dreckigen Gosse.«
Während sie das sagte, kramte sie wieder in der Sporttasche herum. Sie beförderte einen Hanfstrick hervor, dann ging sie hinüber zu dem einfachen Holztisch vor dem Herd und griff sich einen Stuhl, stellte ihn vor das Bett und setzte sich mit dem Strick in der Hand auf die Sitzfläche. Langsam begann sie damit das Seil an den Enden zusammenzulegen, sodass eine Art Schlaufe entstand, dann führte sie das eine Ende nach unten und wickelte es dreimal um den Stiel der entstandenen Schlaufe. Nico kannte den Knoten, den seine Peinigerin da legte, es war ein Henkersknoten, das war selbst für einen Laien erkennbar.
»Wollen Sie mich hängen?«, fragte er sie direkt.
»Nein!«, antwortete sie und kümmerte sich weiter um den Knoten. Sie machte noch ein paar Handgriffe, dann war die Schlinge fertig. Sie begutachtete ihn mit starrer Miene, dann legte sie ihn neben den Stuhl auf den Boden.
»Weißt du Bastard eigentlich, wie lange sie noch gelebt hat?«, fragte sie Nico leise.
Er antwortete nicht, er wollte auch nichts sagen, denn er hatte Angst, sie weiter aufzuheizen.
»45 Minuten! Eine Dreiviertelstunde! Du Schwein hast sie liegen lassen! Hättest du wenigstens einen Krankenwagen gerufen, dann würde sie vielleicht noch leben. Sie hat sich auf der Straße zu Tode gequält. Ihre kleinen Arme waren gebrochen, ihre linke Hand hing nur noch an den Sehnen, und ihre Rippen waren gebrochen. Sie lag auf dieser dreckigen Straße und hat Blut gespuckt. Sie hat gewartet, dass ihr irgendjemand zu Hilfe käme, doch es kam niemand, weil du niemanden gerufen hast. Genau aus diesem Grund liegst du jetzt hier auf diesem Bett mit dem frischen Bezug, der dein Leichentuch werden wird.«
Sie schrie nicht, erhob nicht einmal ihre Stimme, als sie das sagte. Es klang nicht wie eine Anklage, sondern wie die Verlesung eines Urteils, eines Todesurteils. Nico war sprachlos, er wollte nicht auf diesem alten Bett sterben, aber was sollte er tun? Er war angekettet, völlig bewegungslos, und vor ihm saß diese Frau, die ihn skrupellos umbringen würde, dessen war er sich vollkommen sicher. Er kam zu dem Schluss, dass er keine Optionen hatte, er war dieser Frau ausgeliefert.
»Also wollen Sie mich doch hängen?«, sagte er heiser und deutete mit dem Kopf auf den Strick neben dem Stuhl. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, der Strick ist nicht für dich!«, antwortete sie lapidar, dann stand sie von ihrem Stuhl auf und ging zur Tür. Auf dem Absatz drehte sie sich um.
»Wenn ich mit dir fertig bin, wenn du jammernd auf dem Bett liegst und um Gnade winselst, dann werde ich mich mit diesem Strick erhängen.« Sie nickte mit dem Kopf auf den Strick am Boden.
»Vor deinen Augen!«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Hilflos, wie meine kleine Tina, wirst du dann da liegen, aber niemand wird kommen. Ich habe keine Ahnung, ob du verblutest oder verdurstest, aber das ist dann wohl ziemlich unwichtig, nicht wahr?«
Dann ging sie nach draußen. Nico war paralysiert. Er hatte auch keine Zeit darüber nachzudenken, ob sie es wirklich ernst meinte, denn Sekunden später kam sie zurück, in der Hand einen Baseballschläger aus Aluminium. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, auf ihrem Schoß hatte sie den Schläger abgelegt. Mit beiden Händen umklammerte sie den Griff des Sportgeräts.
»Der hier, der ist für dich!«, sagte sie, erhob sich von dem Stuhl und baute sich vor dem Bett auf. Nico fing an zu schreien, er wand sich in seinen Fesseln und schnitt sich mit dem kalten Stahl die Hände blutig. Dann sah er, wie die Frau den Baseballschläger über ihre Schulter hievte und einen Moment ausharrte.
»Gebrochene Arme!«, schrie sie gellend und ließ den Schläger mit voller Wucht heruntersausen. Nico erkannte den Schriftzug auf der Schlagfläche: Abbey Bats, bevor ihn das Aluminium genau auf den Bizeps seines rechten Arms traf. Der Oberarmknochen brach krachend, bohrte sich durch das Fleisch und ragte wie ein Stoßzahn aus seinem Arm heraus. Nicos Schreie waren so schrecklich und laut, dass sie wahrscheinlich durch den ganzen Wald hallten. Doch die Frau störte das nicht, sie stand nur da und blickte herab auf den schreienden Mann, in dem sie nur den Killer ihrer geliebten Tochter sah. Nico blieb nicht bei Bewusstsein, die Schmerzen waren einfach zu groß. Als er wieder aufwachte, saß die Frau wieder auf dem Stuhl, auf ihren Schenkeln der blutverschmierte Baseballschläger. Von dem weißen Bettlaken war nicht mehr viel zu sehen, es war tiefrot, durchtränkt von seinem Blut. Immer noch fegten wahnsinnige Schmerzen durch den zerschmetterten Oberarm, die Wunde des offenen Bruches war verkrustet, und nur noch wenig Blut drang zwischen Haut und Knochen hervor. Etwas oberhalb der Wunde war der Arm mit einem Stück Mullbinde abgebunden.
»Du hast mir den Arm abgebunden?«, röchelte Nico mehr als er sprach.
»Ja!«
»Warum? Ich dachte, du willst mich sterben sehen!«
»Das will ich auch! Aber so schnell kommst du mir nicht davon.«
»Warum tun Sie mir das an? Es war ein Unfall, ich hatte Angst, ich habe aus Panik gehandelt!«
Die Frau lachte leise vor sich hin, dabei klopfte sie mit den Fingern auf dem Baseballschläger herum.
»Du Drecksschwein warst besoffen und hast mein Kind sterben lassen, damit du deinen elenden Hals aus der Schlinge ziehen kannst. Aber das kann ich nicht zulassen! Du wirst sterben, wie sie gestorben ist!«
Nico dämmerte immer noch vor sich hin, halb wach, halb bewusstlos, und deshalb bemerkte er erst nach einer ganzen Weile den Strick, der mittlerweile an einem der Deckenbalken hing und drohend herabbaumelte.
»Ich habe dich beobachtet! Dein Leben gesehen, deine Freunde, dein Mädchen. Alles das, was Tina niemals haben wird. Sie wird niemals wieder zur Schule gehen, mit ihren Freunden im Kino lachen oder einem hübschen Jungen hinterhersehen. Niemals wird sie Kinder haben, die ihr die Nächte rauben und um die sie sich Sorgen machen kann. Sie hat nichts, sie ist tot, und du bist ebenfalls nicht mehr hier, zumindest nicht mehr lange.«
Nico hörte gar nicht richtig zu. Die Schmerzen lenkten ihn ab und der Gedanke, wie er dieser Irren entkommen kann. Im Grunde gab es nur eine Möglichkeit, er musste sie dazu bringen, die Handschellen zu öffnen, aber selbst dann hätte er mit seiner Verletzung nur eine geringe Chance, diese Frau zu überwältigen.
»Ich muss pinkeln!«, sagte er plötzlich. Die Frau stockte in ihrem Redefluss, sah ihn an und schien zu überlegen.
»Dann mach dir in die Hose!«, erwiderte sie.
»Was?«
»Wenn es dir gut genug geht, um zu pinkeln, dann bist du auch fit genug für Lektion Nummer 2!«
Die Frau stand vom Stuhl auf, in der rechten Hand baumelte der Schläger wie ein verlängerter Arm.
»Oh nein, bitte nicht!«, stammelte Nico und versuchte sich so weit wie möglich an die Wand zu drücken. Einige der Fotos flatterten von der Wand und fielen hinter das Bett. Sein ganzer Körper bebte vor Angst um seinen zweiten Arm, und er hoffte, er würde einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall bekommen, um diese Schmerzen nicht noch einmal ertragen zu müssen. Er schaute ihr in die Augen, und Nico sah nichts als blanken Hass; dann hob sie mit beiden Händen den Baseballschläger in die Luft.
»Gebrochene Rippen hatte sie!«, schrie sie und ließ den Schläger auf seinen Bauch hinuntersausen. Nico krallte seine Hände in das Bettlaken. Er presste die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen seine Zunge abzubeißen. Dann hieb sie zum zweiten Mal mit dem Schläger auf seinen Bauch und zertrümmerte mit einem Schlag weitere Rippen. Nico spürte noch einen stechenden Schmerz in seiner Brust, dann fiel er wieder in Ohmnacht.

Er hatte keine Ahnung, wie lang er weggetreten war. Als er aufwachte, sah er, dass sie ihn bis auf die Unterhose ausgezogen hatte. Seine lädierte Hand steckte nicht mehr in der Handschelle, der Arm war nun verbunden, und der Bauch war mit elastischen Verbänden umwickelt. Trotzdem war der Schmerz unerträglich, und besorgt registrierte er das rasselnde Pfeifen, wenn er versuchte zu atmen. Der Stuhl vor dem Bett war leer, darüber baumelte der Strick an einem der Eichenbalken unter der Decke. Nico hatte in das Bett uriniert, wahrscheinlich während seiner Ohmnacht. Erst jetzt bemerkte Nico, dass sie ihn nicht nur ausgezogen hatte, sondern dass auch das Bett mit einem frischen Laken bezogen war. Er spürte zwar noch die Reste des warmen Urins an den Innenseiten seiner Schenkel, doch das Bett war sauber und duftete nach Weichspüler. Vorsichtig versuchte Nico seinen Kopf ein wenig anzuheben, doch die Stiche in seiner Brust und seinem Unterleib waren so stark, dass er sich sofort wieder auf das Kissen sinken ließ. Stattdessen neigte er seinen Kopf ein wenig zur Seite. Der Stuhl vor dem Bett war leer, die Frau war nicht mehr da.
Sie hat sich nicht erhängt, sie ist einfach weg und lässt mich hier verrecken, dachte Nico resigniert. Die Tür zum Haus stand offen, der Abend brach langsam an, und eine feuchte Kälte kroch von draußen herein. Dann hörte er Schritte, erst leise in einiger Entfernung, dann Absätze, die laut auf den Stufen der Veranda klackten. Die Frau war wieder da, sie stand im Türrahmen und beobachtete ihn.
»Ich dachte schon, du würdest sterben. Das wäre viel zu früh und schnell gewesen.« Sie ging hinüber zum Herd, nahm einen verbeulten Kessel vom Herd und füllte ihn unter dem Hahn mit Wasser.
»Als ich so auf dich eingeschlagen habe, da konnte ich einfach nicht aufhören!«, fuhr sie fort, während sie ein Einwegfeuerzeug aus ihrer Hosentasche holte und eine Platte des Gasofens entzündete.
»Ich habe dich ausgezogen und verbunden. Schließlich brauche ich dich noch eine Weile lebend.« Sie stellte den Kessel auf die Flamme, dann kam sie rüber und setzte sich auf den Stuhl.
»Ich mache uns einen Tee! Willst du Einen?«
Nico dachte nicht daran zu antworten, er überlegte immer noch, ob eine Chance bestünde, sie irgendwie auszutricksen. Er schaute sie an, dann kam ihm eine Idee. Nico fing an zu drücken, presste Luft in seine Backen und biss die Zähne zusammen. Die Schmerzen in der Brust waren fürchterlich. Die Frau zog eine Braue nach oben und schaute ihn skeptisch an.
»Was ist los?«, fragte sie nach einer Weile.
»Na ja, ich muss mal!«
»Schon wieder, du hast dich doch erst im Schlaf voll gepinkelt!«
»Ich muss nicht pinkeln!«, sagte Nico und hoffte, dass sie nicht verlangen würde, dass er ins Bett schiss.
»Ach du scheiße!«
»Genau!«
Zum ersten Mal spürte Nico in ihrem Gesicht einen Anflug von Unsicherheit. Sie zuckte ein paar Mal nervös mit dem Augenlid, dann schien sie zu überlegen. Sie wiegt die Gefahr ab, mich draußen oder sonst wo scheißen zu lassen, dachte Nico zufrieden. Er witterte jetzt eine Chance, denn sie hatte ihre Souveränität ein bisschen verloren, sie zauderte und verließ ihre Linie. Er musste sie jetzt weiter mit dem Rücken an die Wand drängen. Sie hatte ihre sichere Deckung nur einen Millimeter verlassen, sie bemerkte nicht die Falle, die Nico ihr stellte. Für eine Sekunde bot sich ihm die Chance für einen Blattschuss.
»Kein schöner Anblick, wenn der Dreck im Bett liegt, vom Geruch ganz zu schweigen.« Wieder drückte und presste Nico, als ob er dabei wäre, seinen Darm zu entleeren.
»Stopp! Ich hole einen Eimer!«, schrie sie ihn plötzlich genervt an, stand auf und ging zum Herd. Sie hat angebissen, ging es Nico durch den Kopf. Kein Volltreffer, aber sie ist angeknockt, dachte er.
»Heißen Sie wirklich Kira?«, rief Nico rüber zum Herd. Anscheinend hatte sie ihn nicht gehört, zumindest antwortete sie nicht sofort. Sie öffnete den Schrank unter dem Spülbecken und kam mit einem Plastikeimer zurück zum Bett.
»Mein Name geht dich nichts an! Ich werde dir jetzt die Füße losmachen, dann machst du hier in den Eimer und legst dich wieder aufs Bett. Wenn du irgendwelche Mätzchen machst, steche ich dich ab!« Sie wedelte mit einem großen Küchenmesser vor seiner Nase.
»Hast du verstanden?«, fuhr sie fort. Nico nickte unmissverständlich, doch innerlich freute er sich diebisch, denn langsam begann er, die Fäden zu übernehmen. Wenn er im richtigen Moment reagieren würde, dann hätte er vielleicht eine kleine Chance. Er hatte vor, sie sofort anzugreifen, wenn seine Füße nicht mehr in den Handschellen steckten. Nico hatte zwar starke Schmerzen und sein Blutverlust war erheblich, doch er spürte, dass er die Kraft für einen heftigen Schritt noch mobilisieren könnte. Was blieb ihm auch anderes übrig, eine zweite Chance würde sich ihm wahrscheinlich nicht bieten. Mit einer Hand fummelte die Frau ein rotes Schlüsselband unter ihrer Bluse hervor, in der anderen Hand hielt sie das Fleischmesser. Dann sah Nico den kleinen Schlüssel, der am Ende des Bandes baumelte. Sie streifte das Band über ihren Hals, dabei ließ sie Nico nicht eine Sekunde aus den Augen, dann beugte sie sich langsam zu ihm herunter und öffnete die Handschelle an seinem linken Fuß. Bevor sie den Schlüssel in das Schloss der anderen Fußschelle steckte, verharte sie einen Augenblick, und Nico dachte, dass sie es sich noch einmal anders überlegen würde. Doch dann öffnete sie die Schelle an seinem anderen Fuß. Nico atmete durch, dann trat er ihr mit voller Wucht ins Gesicht. Er traf sie mit dem Scheinbein direkt auf der Nase. Deutlich hörte man das Nasenbein zerbrechen. Sie taumelte rückwärts, stolperte über den Stuhl und fiel zu Boden.
Nico richtete sich auf. Schreiend vor Schmerzen schaffte er es, sich quer auf das Bett zu legen, sodass er mit den Füßen die Erde berührte; mehr ließ die straffe Handschelle an seinem linken Arm nicht zu. Stöhnend sondierte er die Lage. Die Frau lag benommen auf dem Boden, über ihr der Holzstuhl. Direkt vor dem Bett lag das lange Fleischmesser. Ein paar Meter weiter erkannte er das rote Band mit dem Schlüssel für die Handschelle - unerreichbar! Das Messer, dachte Nico. Vorsichtig versuchte er mit dem linken Fuß an das Messer zu kommen, ein Auge auf die Frau am Boden gerichtet, mit dem anderen fixierte er das Messer. Der Kessel auf dem Ofen begann zu pfeifen, erst leise, nach einer Weile laut wie die Pfeife einer Kirchenorgel. Mit der Spitze seines großen Zehs konnte Nico den Griff des Messers berühren, aber es reichte nicht, es näher heranzuziehen. Er wurde langsam unruhig, denn die Frau am Boden, begann hörbar zu keuchen. Nico streckte sich, versuchte die Schmerzen zu ignorieren und schaffte es tatsächlich, das Messer ein Stück näher an das Bett zu ziehen. Sofort versuchte er den Griff mit seinen Zehen zu greifen, doch es entglitt ihm. Mit aufkeimender Panik beobachtete Nico, wie sich die Frau langsam vom Boden aufrappelte. Nach wenigen Sekunden saß sie auf ihrem Hintern, blickte erstaunt auf Nico, dann auf das Messer am Boden. Jetzt oder nie musste Nico es wagen. Kräftig schob er seine Zehen um das Messer, schleuderte es kräftig in die Luft, wo es in einem hohen Bogen auf das Bett zuflog und nur Zentimeter neben seinem malträtierten, aber freien Arm landete. In dem Augenblick, wo sich seine Peinigerin auf ihn stürzte, gelang es Nico mit seiner Hand, das Messer leicht anzuheben. Er brauchte nicht einmal zuzustechen, denn sie warf sich praktisch selbst in die Klinge. Sie lag halb auf Nico, das Messer bis zum Schaft im Unterleib. Er spürte das warme Blut auf seiner Hand. Er war erneut einer Ohnmacht nahe, denn das Gewicht der Frau drückte auf seinen zerquetschten Brustkorb. Mit großen Augen schaute sie ihn an, röchelte, spuckte Blut auf sein Gesicht, dann sackte sie zur Seite, und Nico schaffte es, sie auf das Bett zu rollen. Eilig riss er ihr das Schlüsselband vom Hals, öffnete die letzte Handschelle und rappelte sich vom Bett auf. Gekrümmt wie ein Buckliger schlurfte er stöhnend vom Bett weg. Zur Straße, ich muss es zur Straße schaffen, dachte er, dann fiel ihm sein Handy ein.
Aber wo war es? Sein Blick kreiste durch den Raum, dann sah er die Sporttasche, aus der sie vorhin den Strick geholt hatte, direkt neben dem Herd stehen. Er humpelte rüber. Immer noch pfiff der Wasserkessel seine eintönige Melodie. Nico wollte sich gerade zur Tasche bücken, als ein Schrei das Pfeifen des Kessels übertönte.
»Stirb, du dreckiger Mörder!«
Die Klinge bohrte sich tief in seine Schulter und wurde wieder herausgezogen. Nico schnappte sich den Kessel vom Herd, drehte sich um und schlug ihn mit letzter Kraft der Frau auf den Schädel. Das kochende Wasser, das aus dem Kessel lief, verbrühte seine Hände und ihr Gesicht, aber er hörte nicht auf. Sie wurde rot wie ein Hummer, aus ihrem eingeschlagenen Schädel spritzte das Blut und bildete auf dem Boden eine dunkle Lache. Nach dem vierten Schlag fiel sie dann endlich um. Nico rang nach Luft, er pfiff fast so laut wie der Kessel, der jetzt völlig zerbeult am Boden lag. Er stützte sich auf dem Gasherd ab. Ihm war schwindelig, denn er atmete zwar Sauerstoff, doch nur Bruchteile davon füllten seine Lunge. Die Beine versagten, er sackte zusammen und fiel auf die Knie, aber er schaffte es, eine Ohnmacht zu verhindern.

3
Es war schwer zu sagen, wie lange er dort auf dem Boden gekauert hatte, doch irgendwann kam er wieder zu sich. Ein frischer Luftzug, der von draußen durch die offene Tür wehte, brachte ihn wieder zur Besinnung. Benommen starrte er auf die Leiche der Frau, sah das Blut am Boden, das sich einen Weg zwischen den Ritzen des Parketts gesucht hatte. Der zerschmetterte Kopf lag auf der Seite, ihre Haare waren durchzogen von geronnenem Blut, dazwischen schimmerte das Weiß ihrer Schädeldecke durch. Nico packte sich die Sporttasche und suchte nach seinem Handy. Er wühlte nicht lange in den Wäschestücken der Toten, denn plötzlich fiel ihm ein, dass er das Handy ins Handschuhfach seines Wagens gelegt hatte.
Dann eben zur Straße, dachte er, packte mit der gesunden Hand an den Rand des Ofens und zog sich schwerfällig auf die Beine. Dann schlurfte er rüber zur Tür und schleppte sich auf die Veranda. Die Dämmerung war bereits angebrochen; die Kälte traf ihn wie ein Schlag. Nico versuchte in Gedanken den Weg zu rekonstruieren, den sie am Morgen mit seinem Wagen gekommen waren. Er kam zu dem Schluss, dass es mindestens anderthalb wenn nicht sogar zwei Kilometer gewesen sein mussten. Er resignierte innerlich, denn sein Bauch schmerzte bei jedem Schritt, als ob ein Speer in seinen Innereien herumwühlte. Sein zerquetschter Arm hing leblos von seiner Schulter herunter.
Nico inspizierte die Veranda. Ein Stapel Kaminholz, ein Campingtisch und ein alter Weidenschaukelstuhl. Er humpelte zum Tisch herüber, zog die schmutzige Wachstischdecke ab, rollte sie und knotete die beiden Enden zusammen. Dann stülpte er sich die Decke über den Kopf und legte einen gebrochenen Arm in die provisorische Schlinge.
Als er unter dem Dach der Veranda hervortrat und vorsichtig auf die Treppe trat, bemerkte er den leichten Nieselregen, der aus dem Abendhimmel tropfte. Er streckte seine Zunge raus und genoss die Feuchtigkeit auf der trockenen Haut. Mit kleinen Schritten machte er sich auf den Weg durch den Kies. Die spitzen Steine pieksten in seine Sohlen. Nico hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Es kam ihm wie Stunden vor, bis zu der Weggabelung, wo der Feldweg begann, der zwischen den Maisfeldern zur Straße führte. Es waren vielleicht noch fünfhundert Meter bis zur Straße, er sah schon die Lichter der Autos, die an den Feldern vorbeifuhren. Nico schöpfte Mut und neue Kraft aus der greifbar nahen Rettung. Wie ein Betrunkener torkelte er den Feldweg entlang, den lädierten Arm in der Schlinge, die andere Hand schützend vor dem Bauch. Ein leichter Wind streifte durch die Felder und ließ es in den Maiskolben unheimlich rascheln. Nico war es egal, er sah nur die Lichtkegel, auf die er sich mühsam zuschleppte. Zwischendurch fiel er immer wieder hin. Mit seinen schmutzigen Knien, nackt bis auf die Unterhose und mit weit aufgerissenen Augen, wirkte er wie ein Irrer, der gerade aus einer Anstalt geflohen war.
Der Regen wurde stärker, innerhalb von wenigen Sekunden brach ein Schauer los und durchnässte alles, was kein Dach über den Kopf hatte. Durch Nicos Zehen presste sich glitschiger Matsch, seine Haare klebten am Kopf, und der Verband an seinem Bauch wurde schwer wie ein Bleigürtel. Er taumelte, hielt sich mit Mühe und Not auf den Beinen, um dann doch wegzuschliddern und mit dem Hintern im Schlamm zu landen. Dabei rutschte ihm die Unterhose bis unter die Backen, doch Nico registrierte es nicht. Er stand wieder auf, er brauchte Minuten dafür, dann steuerte er weiter auf die Landstraße zu. Die Motorengeräusche wurden immer lauter, die Straße war direkt vor ihm. Lastwagen rauschten vorbei, Autos folgten im Sekundentakt. Die Straße war stark befahren, ganz anders als am Morgen, als die Allee einer verlassenen Sackgasse glich. Nico begann leise um Hilfe zu rufen, doch es waren gestammelte Silben, die aus seinem Mund den Weg ins Freie fanden. Es waren nur verschleierte Bilder, die seine Augen dem Gehirn übermittelten, denn die Strapazen und der strömende Regen hatten seinen Körper völlig ausgelaugt. Er tastete sich mit dem gesunden Arm die letzten Meter, dann fühlte er die Rinde eines Baumes, eines mächtigen Baums und Nico wusste, dass er direkt an der Straße stand. Ein Motorrad düste vorbei, Nico sah das Rücklicht verschwommen, als ob er durch ein Milchglasfenster schaute.
»Hallo? Hilfe, bitte helfen Sie mir!«, stammelte er heiser. Er schwankte einen Schritt nach vorn und winkte mit dem gesunden Arm, genauso wie die Frau am Morgen ihm zugewunken hatte. Er konnte nicht viel erkennen, doch nachdem er sich ein paar Mal die Augen gerieben hatte, erkannte er den weißen Mittelstreifen, auf dem er stand. Bremsen quietschten, Räder blockierten, dann traf ihn der verchromte Bullenfänger des Geländewagens von hinten in den Rücken. Nico merkte, wie er abhob, sich in der Luft überschlug, und einen Augenblick fühlte er sich schwerelos, entbunden von jedem physikalischen Gesetz. Als er auf dem nassen Asphalt aufschlug, wurde er eines Besseren belehrt. Wie er da so auf dem Rücken lag und in den sternenlosen Abendhimmel schaute, sah er für einen kurzen Augenblick das zufriedene Gesicht der Frau. Sie grinste nicht hämisch, sie lächelte nur zufrieden und nickte kurz. Nico gab sich geschlagen, er hatte verloren und sie ihren Willen; dann hörte er das Hupen wie von einem vorbeifahrenden Schiff. Doch es war nicht das Nebelhorn eines Dampfers, es war die Fanfare eines Sattelschleppers, der ihn eine Sekunde später erfasste und seinen Kopf wie eine reife Tomate zerquetschte.


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