Fast jeden Tag konnte man ihn mit seiner Angelrute zum Fluss gehen sehen, diesen kauzigen Menschen. Ob es regnete oder die Sonne schien, stets hatte er seinen alten welligen Hut mit den bunten Federn am Hutband auf. Sein langer Mantel schleifte fast über den Boden, er war ihm viel zu groß. Das war wohl mal ein Regenmantel gewesen, aber jetzt sah schon das Leinen durch die Schicht darüber, die früher Wasser abweisend war. Darunter trug er nur ein Hemd und eine knielange Hose. Immer wieder blieb er stehen und zog die farblosen Wollsocken hoch, die jedes Mal erneut auf seine ungepflegten Schuhe rutschten. Die schmalen Lippen in dem faltigen Gesicht waren ständig in Bewegung. Kaute er etwas oder murmelte er nur vor sich hin? Alle paar Schritte sah er sich um. Ging ich hinter ihm und begegnete dabei seinem Blick, so schaute ich in verschwommene Augen, die unruhig um sich blickten und doch nichts wahrnahmen. Er lebte in seiner Welt, in der die reale Welt keinen Platz hatte. Stets ging er an dieselbe Stelle am Fluss, klappte bei einem Busch sein Stühlchen auf, setzte sich darauf und warf die Angelrute aus. Dann saß er reglos da, nur seine Lippen bewegten sich.
Die Menschen drehten sich nach ihm um, manche lachten laut, viele hinter vorgehaltener Hand. Die anderen Angler, die hier den Weg entlang am Ufer des Flusses saßen und darauf warteten, dass Fische anbissen, fassten sich bezeichnend an den Kopf, wenn sie über ihn sprachen. Einmal hörte ich, wie einer sagte: „Der macht uns noch unser ganzes Fanggebiet kaputt.“
Ich verstand nicht, warum. Er tat doch nichts weiter, als dazusitzen und darauf zu warten, dass ein Fisch an seiner Angel anbiss. Was kann die andern daran so stören? Neugierig blieb ich bei ihm stehen, als ich wieder einmal am Fluss entlangging. Da fiel mir auf, dass er keinen Eimer oder sonst ein Behältnis für die gefangenen Fische bei sich hatte. In diesem Augenblick zuckte seine Angel. Es hatte einer angebissen. Er sprang auf und zog einen großen Fisch aus dem Wasser heraus. Ich sah, wie neidisch die andern herüberblickten. Wo aber wollte er den nun hineintun?
Da glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen. Ganz behutsam befreite er den um sein Leben zappelnden Fisch vom Haken und warf ihn zurück ins Wasser. „Pass das nächste Mal besser auf!“, rief er ihm hinterher. Er lachte und es klang glücklich. Dann warf er seine Angel wieder aus und setzte sich.
Ich trat zu ihm. „Das war doch ein wunderbarer Fang. Warum haben Sie ihn ins Wasser zurückgeworfen?“
„Ich habe ihm das Leben gerettet“, antwortete er mir.
Jetzt sah er mich mit seinen trüben Augen voll an und ich erkannte, wie stolz und zufrieden er darüber war. „Machen Sie das mit jedem Fisch?“
Er nickte eifrig. „Ich bin ein Lebensretter! Ich rette allen das Leben.“
Ich schaute ihn verblüfft an. „Aber jeder Fisch, den Sie wieder hineinwerfen kann schon bald am nächsten Angelhaken hängen und gefangen werden. Es gibt doch noch viele Haken im Fluss von den anderen Anglern.“
Er schüttelte energisch seinen Kopf. „Nein! Jeder Fisch, der an meinem Angelhaken war, wird sich hüten, noch einmal einen Bissen von einem anderen zu nehmen.“
Welche Logik! Oder war da etwas dran? Waren die andern Angler darum auf ihn so schlecht zu sprechen? Irgendwann erfuhr ich, dass man ihn von seinem Angelplatz verjagt hatte.
Ich überlegte noch, was er nun wohl tun werde, ob er sich einen andern Angelplatz gesucht habe, da sah ich ihn bei einem Spaziergang am Rand einer Wiese hocken. Was tat er dort? Als ich näher kam, erkannte ich, dass er Mausefallen vor sich hatte, in die er sorgfältig je ein Stück Käse tat. Wollte er diese jetzt hier auf der Wiese verteilen und dann in seiner Logik Mäusen das Leben retten? Hoffte er auch, dass diese Mäuse danach nie wieder in eine Falle gehen würden?
Aber gerade als ich ihn danach fragen wollte, kam der Besitzer der Wiese und rief drohend schon von weitem, dass er sich wegscheren solle. Gehetzt packte der kauzige Mann die Mausefallen zusammen. Ein verängstigter Blick streifte mich, dann rannte er an mir vorbei und weiter, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Er wurde wohl oft weggejagt. Darum verstand er vielleicht die Welt nicht, denn er wollte doch nur Leben retten. Wahrscheinlich versuchte er sich damit ein bisschen wichtig unter den Menschen zu fühlen, die ihn nur verlachten und verjagten.
„So ein Verrückter! Wer weiß, was der im Schilde führte“, rief mir der Besitzer noch zu, dann ging er. ‚Er wollte nur Leben retten’, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Aber hätte er das verstanden? Verstand ich das überhaupt, dass man erst etwas fängt, um es dann frei zu lassen.
Lange war ich dem kauzigen Mann nicht mehr begegnet, bis ich einmal im Wald spazieren ging. Da sah ich, wie er eifrig im Waldboden eine tiefe Grube aushob. Was sollte das jetzt? Wollte er nun Rehen das Leben retten? Aber wieso? Die wurden doch vom Jäger geschossen und nicht gefangen. Sollte er etwa ...? Er wird doch nicht?
Ein paar Tage später stand in der Zeitung zu lesen, dass ein Waldarbeiter in eine tiefe Grube gefallen wäre, von der niemand wisse, wer sie da gegraben habe. Nur dem glücklichen Zufall sei es zu verdanken, dass er schon bald daraus gerettet werden konnte, weil ein verwirrter Mann mit einer kleinen Leiter gerade vorbeikam und ihm behilflich war.
Der Lebensretter!
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