„Sie erwarten ein Kind. Es ist ein Mädchen.“ Diese Worte trafen Johanna wie ein Schlag. Sie wurde Mutter! Fassungslos sah sie auf den Monitor des Ultraschallgerätes. Dort war tatsächlich etwas. Etwas, das sie nicht richtig erkennen konnte.
Der Arzt runzelte die Stirn. „Wir werden wohl einen Kaiserschnitt machen müssen. Das Kind liegt zwar richtig, aber der Umfang des Kopfes ist zu groß. Eine natürliche Geburt ist daher unmöglich.“
„Stimmt etwas nicht?“
Der Arzt zuckte die Achseln. „Das lässt sich im Augenblick noch nicht genau sagen. Aber bis zur Geburt dauert es ja nicht mehr lange. Danach sehen wir weiter.“
Natürlich machte Johanna sich Vorwürfe. Hätte sie nicht eher bemerken müssen, dass sie schwanger war? Aber sie hatte kaum noch an jene schwüle Sommernacht gedacht. Undeutlich erinnerte sie sich an Musik, die dunkle Silhouette eines Mannes, an Gelächter, viel Alkohol, an ein Sausen in ihren Ohren. Sie hatten die ganze Zeit getanzt und als sie zusammen im warmen Gras lagen, schien der Vollmond auf sie herab. Aber das Gesicht dieses Mannes war wie ausgelöscht.
Auch hatte es zunächst keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft gegeben. Erst in den letzten Wochen rundete sich ihr Bauch ein wenig.
Viel Zeit blieb Johanna nicht, bis der Tag kam, an dem ihre Tochter geboren werden sollte.
Bei der Operation verlor sie viel Blut und sie fühlte sich danach sehr müde und schwach. So bemerkte sie nicht, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, und ihr fiel auch nicht auf, dass die Schwestern ausweichend antworteten, wenn sie nach dem Baby fragte.
Als sie sich kräftig genug fühlte, um Bekanntschaft mit ihrem Kind zu machen, kam ein Arzt an ihr Bett. Er trat von einem Bein auf das andere und vermied es, sie anzusehen. Dabei murmelte er etwas von einem großen Kopf, Untersuchungen, die schon stattgefunden hätten, und von weiteren Untersuchungen, die noch stattfinden müssten.
„Was ist? Was ist mit meinem Kind?“, fragte Johanna bange.
„Sie müssen jetzt sehr tapfer sein“, war seine Antwort.
In diesem Augenblick betrat eine Schwester das Krankenzimmer. Johanna streckte die Arme nach dem Bündel aus, das die Schwester trug. Und dann reichte man ihr das Kind, von dem sie bis vor kurzem noch nichts geahnt hatte, das aus dem Nichts gekommen war und sich heimlich in sie eingenistet und von ihr gezehrt hatte, das in ihrem tiefsten Innern herangewachsen war und nun ein richtiges Gesicht hatte mit einem Babymund, einer Babynase und runden blauen Babyaugen. Es war ein Wunder.
Vorsichtig drückte Johanna das kleine Wesen an sich. Ihr Kind schaute sie an. Sein Blick war starr. Erst jetzt bemerkte Johanna, dass es eine außergewöhnlich hohe Stirn hatte, die von einem Turban verdeckt wurde. Der Säugling verzog seine dünnen Lippen und begann zu schreien. Das kraftlose kleine Stimmchen rührte Johanna fast zu Tränen.
Aber da war noch etwas. Fast klang es wie ein Echo. Es war ein erstickter, abgedämpfter Laut. Ohne nachzudenken begann Johanna, die Bandage um den Kopf des Kindes zu lösen. Arzt und Schwester sprachen gleichzeitig auf sie ein, aber sie wickelte weiter mit fliegenden Fingern, und als sie sah, was das Tuch verdeckt hatte, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus.
Da war noch ein Gesicht. Zwei hohe Stirnen, die ineinander übergingen. Darunter Augen, mit Haut überzogen, so dass sie unfertig aussahen wie die Augen einer in Stein gehauenen Statue. Die Nase war flach und breit. Statt Ohren hatte das zweite Gesicht nur Löcher unter den Schläfen. Am grässlichsten jedoch war der Mund. Er war das genaue Gegenstück zu dem Babymund, der die leisen, quäkenden Töne ausstieß, und beide Münder bewegten sich synchron.
Ohne sich dessen bewusst zu sein schrie Johanna immer weiter. Erst als das Mittel zu wirken begann, das man ihr gespritzt hatte, war sie in der Lage, Bruchstücke dessen zu verstehen, was der Arzt ihr erklärte. Ein rudimentärer siamesischer Zwilling, sagte er, vielleicht später eine Operation, Untersuchung der Gehirne, Versorgung durch Blutgefäße. Und währenddessen öffneten sich vier Lippen, schrieen zwei Münder. Die Schwester brachte ein Fläschchen. Zufrieden saugten die Lippen des intakten Gesichts am Schnuller, und die Lippen des entgegengesetzten Mundes saugten mit und machten dabei schmatzende Geräusche. Schnell umwickelte die Schwester das unfertige Gesicht wieder mit einem Tuch.
Johanna wollte es sich zuerst nicht eingestehen, aber sie war froh, dass der Säugling die meiste Zeit auf der Neugeborenenstation blieb. Sie wollte das Kind nicht ständig bei sich haben, konnte es kaum ertragen, in sein Gesicht zu schauen, den langgezogenen Kopf zu sehen, der für das Säuglingsbettchen viel zu groß schien. Aber gleichzeitig hatte sie auch ein schlechtes Gewissen. Was konnte das Kind dafür, dass es eine Missgeburt war? So oft es möglich war, wickelte und fütterte sie es selbst. Aber sie hatte nicht einen Tropfen Milch, den sie ihm hätte geben können.
Eine Operation, so sagten die Ärzte, wäre unmöglich. Der Säugling, der ein Gesicht hatte, könnte ohne das Gehirn seines unfertigen Zwillings nicht leben. Und welche Überlebenschance das Kind überhaupt hatte, das wusste niemand. Oder waren es zwei Kinder?
Als Johanna die Klinik verließ, war sie mit Angst erfüllt. Wie sollte es weitergehen? Nun war sie allein mit diesem Wesen, das sie geboren hatte. Sie musste es lieben, beschützen, versorgen und großziehen. Sie musste sich abfinden mit den neugierigen Blicken, dem Entsetzen der Menschen um sie herum. Es verwunderte sie nicht, dass man sie mied. Eine Kinderfrau zu finden war unmöglich. Selbst ihre Mutter lehnte ihr eigenes Enkelkind ab und wollte es nicht sehen. Dennoch war Johanna ihr dankbar: Ohne ihre finanzielle Unterstützung wäre sie vollends verzweifelt.
Dem Kind gab sie den Namen Jana. Das zweite Gesicht hatte keinen Namen, aber in Gedanken nannte Johanna es „Fratz“. Und manchmal beschlich sie ein ungutes Gefühl. Es schien fast so, als wäre der Fratz ein eigenständiges Wesen.
Die Monate vergingen. Schon lange verhüllte Johanna den Fratz nicht mehr mit einem Tuch. Sie konnte es nicht mehr tun, seit sie gesehen hatte, wie sich die Augäpfel unter der fest verwachsenen Hautdecke bewegten, wie sie sogar im Schlaf rollten, so als ob der Fratz träumen würde. Aus irgendeinem Grund fand sie den Anblick seiner Lippen besonders furchtbar. Aber sie konnte diesen Mund, der ins Nichts führte, auch nicht mehr mit einer Mullbinde umwickeln, denn der Fratz zeigte ein immer stärkeres Eigenleben. Sein verzweifelter Kampf sich zu befreien war so schrecklich mit anzuschauen, dass Johanna es nicht mehr über sich brachte, ihn zu knebeln.
Das Kind hielt Johanna Tag und Nacht in Atem. Immer wieder gab es etwas, was sie beunruhigte.
Zum Beispiel wurde ihr angst und bange, wenn sie die Mengen sah, die Jana und der Fratz verschlangen. Sie entwickelten einen ungeheuren Appetit. Vor allen Dingen der Fratz. Er riss seinen Mund ganz weit auf, so als ob er ebenfalls gefüttert werden wollte. Und solange er das tat, gab auch Jana keine Ruhe. Sie schmatzte, ihr Mund öffnete und schloss sich, öffnete und schloss sich und sie aß und aß, bis der Fratz endlich satt zu sein schien.
Auf diese Weise wurde Jana in nur wenigen Monaten groß und kräftig, viel kräftiger als andere Kinder ihres Alters. Sie wurde so stark, dass sie sogar den Kopf des Fratz mittragen konnte. Und das tat sie. Keinen Augenblick der Ruhe gönnte sie Johanna. Ununterbrochen war sie unterwegs, krabbelte rastlos durch die Zimmer, steckte alles in den Mund und lutschte daran, während Speichel in langen Fäden aus ihrem Mund und dem Mund des Fratz rann.
Schon bald lernte Jana sich aufzurichten und zu laufen. Unaufhörlich lief sie hin und her. Nichts war vor ihr sicher. Johanna folgte ihr, aber manchmal war sie so erschöpft, dass sie nicht mehr gegen ihre Müdigkeit ankämpfen konnte. Dann musste sie sich kurz hinsetzen und ihre Tochter sich selbst überlassen. Doch seltsamerweise geschah nie ein Unglück. Selbst wenn Jana sich verletzte, weinte sie nicht. Nur der Fratz verzog ein wenig sein Gesicht.
Überhaupt fiel Johanna auf, dass Jana nie auch nur eine Regung zeigte. Wenn sie sich überwand, die beiden Gesichter zu streicheln, hing das Kind wie tot in ihren Armen. Wenn sie ihm einen Kuss aufdrückte, hatte sie das Gefühl, eine Puppe geküsst zu haben. Diese Leblosigkeit war es, die Johanna besonders abstieß. Sie bemühte sich ehrlich, Liebe für ihre Tochter zu empfinden, aber stattdessen wurde ihr das Kind von Tag zu Tag unerträglicher.
Jana war nun schon über ein Jahr alt, aber sie hatte noch nicht ein einziges Mal gelächelt. Ihr Blick blieb seltsam leer. Es war, als sähe sie durch alles hindurch. Nur die Augäpfel des Fratz rollten ständig unter der Hautschicht.
Immer wieder versuchte Johanna, Kontakt mit ihrer Tochter aufzunehmen. „Jana“, rief sie und klatschte in die Hände, aber das Kind reagierte nicht. Nur im Gesicht des Fratz zuckte es. Der Arzt hatte dafür keine Erklärung. „Soweit ich es beurteilen kann“, sagte er, „ist Janas Gehör ganz normal entwickelt.“
Auch konnte sie schmatzen und schreien, doch davon abgesehen gab sie keine menschlichen Laute von sich. Sie lachte nicht und sie sprach nicht. „Wir werden uns wohl damit abfinden müssen“, sagte der Arzt schließlich, „dass Jana geistig schwerstbehindert ist.“ Aber Johanna gab noch nicht auf. „Wenn sie doch wenigstens begreifen könnte, was ich sage!“, dachte sie oft. „Dann wäre es sicher einfacher für mich, mit ihr umzugehen.“ Unermüdlich sang sie ihr Lieder vor und sprach mit ihr, aber es war vergebens. Nur das unausgereifte Gesicht des Fratz sah aus, als verstünde er jedes Wort.
Eines Tages hörte Johanna merkwürdige Geräusche. Hatte sie es sich eingebildet? Nein! „Dadadada“, hörte sie, „gagagaga“ und „babababa“. Erwartungsvoll lief sie in die Küche, wo das Kind in seinem Hochstuhl saß. „Dadada, gagaga, babababa.“ Johanna erschrak bis ins Mark. Es war nicht Jana, die diese Laute von sich gab. Es war der Fratz. Es war sein Mund, – das genaue Abbild von Janas Mund – der da brabbelte. Johanna sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.
Von da an wurde die Situation immer beängstigender. In kürzester Zeit lernte der Fratz zu sprechen. Aber er benutzte diese Fähigkeit nur, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. „Trinken!“, rief er, „Bring Saft!“, während Janas Blick über Johanna hinwegglitt, und wenn sie nicht sofort sprang, wurde seine Stimme immer lauter. Unablässig wiederholte er: „Trinken! Saft!“ Oder aber er kreischte: „Essen! Essen! Mehr, mehr!“, während Janas Kiefer mechanische Kaubewegungen machten. Wenn sie ihm gab, was er wollte, gluckste er zufrieden, doch wenn sie mit ihm sprach, beachtete er sie nicht.
Auch sagte er nie ein Wort zu seinem Zwilling, doch Johanna spürte deutlich, dass er auf irgendeine Weise mit Janas Leib kommunizierte. Tagaus tagein trieb er sie ohne Pause treppauf treppab, und selbst wenn Jana schon gähnte und sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte, ließ der Fratz sie mit ihren Armen um sich schlagen und nach Johanna treten, wenn sie ins Bett gelegt wurde.
Nach und nach begriff sie die Wahrheit, die sie erschauern ließ: Der Fratz war der Geist, der sich in Janas Körper eingenistet hatte und sich ihrer Sinne bediente. Er sah mit ihren Augen, hörte mit ihren Ohren, schmeckte mit ihrer Zunge und tastete mit ihren Händen. Der Fratz war ein Eindringling, ein Parasit, und immer mehr entwickelte er sich auch zu einem gefährlichen Feind.
Dies wurde ihr kurz vor Janas viertem Geburtstag klar. Sie saß mit dem Kind am Küchentisch, trank Kaffee und schnitt Kartoffeln in Scheiben. „Auch Kaffee!“, verlangte der Fratz und Jana streckte ihre Hand nach Johannas Kaffeetasse aus. „Du darfst noch keinen Kaffee trinken“, erklärte Johanna. Der Fratz schrie wütend auf. Blitzschnell ergriff Jana die Tasse und schüttete Johanna das brühheiße Getränk über die Hand. Mit einem Schmerzenslaut sprang sie auf und lief zum Spülbecken. „Du bist ein böses Kind!“, schimpfte sie, während sie die Hand unter Wasser kühlte. „Zur Strafe bekommst du heute kein Abendessen und ich bringe dich sofort ins Bett!“
Sie bemerkte nicht, dass Jana nach dem scharfen Küchenmesser griff und es unter dem Tisch verbarg. Als sie das Kind aus seinem Stuhl heben wollte, fuhr die kleine Hand hervor und schnitt ihr mit dem Messer tief in den Unterarm. Entsetzt blickte Johanna auf die blutende Wunde und dann in das unbewegte Gesicht ihrer Tochter. Stumm nahm sie dem Kind das Messer fort, hob es aus seinem Stuhl und trug es die Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Dabei hielt sie es so weit wie möglich von ihrem Körper ab.
Als die heiseren Wutschreie endlich verstummt waren, schlich sie sich im Halbdunkel an das Kinderbett und blickte verzweifelt auf das schlafende Zwitterwesen hinunter. Welches Gesicht gehörte zu ihrem Kind? Janas? Das verunstaltete Gesicht des Fratz? Oder beide? Keins von beiden? Was sollte sie nur tun?
Gleich am nächsten Morgen, als Jana noch schlief, suchte sie ihren Hausarzt auf.
„Wenn ich Sie recht verstehe“, sagte der Arzt und sah sie prüfend an, „dann glauben Sie, dass Ihre Tochter – wie soll ich mich ausdrücken – dass Jana eine Art Marionette ist?“
Johanna nickte. „Sie besitzt übernatürliche Kräfte. Aber ihr Körper wird nur benutzt. Er ist nur ein willenloses Werkzeug.“
„Und das unausgereifte Gesicht, das Sie ‚Fratz’ nennen, beherrscht diesen Körper?“
„Ja. Er ist das Gehirn. Ein Schmarotzer. Und er ist böse. Er hat mich verletzt und wird mich vielleicht eines Tages sogar umbringen. Ich habe Angst.“
Der Arzt stand auf und suchte etwas in seinem Schrank. „Ich gebe Ihnen etwas mit.“
„Mir? Was denn?“
„Etwas zur Beruhigung. Sie werden sehen: Dann fühlen Sie sich besser.“
„Ich brauche kein Beruhigungsmittel. Es geht um das Kind. Es muss weggeschlossen werden. Glauben Sie mir, es ist gefährlich!“
Der Arzt drückte ihr eine flache Schachtel in die Hand. „Versuchen Sie es damit. Und wenn es nicht hilft, kommen Sie noch mal wieder.“
Als Johanna die Haustür aufschloss, hörte sie schon im Flur das Geschrei. „Raus!“, brüllte der Fratz. „Raus! Raus!“ Er wollte aufstehen, sein Frühstück. In der Tür zum Kinderzimmer blieb Johanna stehen. Ein übler Geruch schlug ihr entgegen. Jana hatte die Hose voll gemacht und den Kot überall im Bett und an den Wänden verschmiert. War es Absicht? Wollte das Kind sie bestrafen, weil sie nicht sofort zur Stelle gewesen war?
Voll Ekel und Abscheu ging sie zu Jana hin. Sie stand in ihrem Gitterbett und stampfte mit den Füßen. Als Johanna sie hochhob, trommelte sie mit beiden Fäusten gegen ihre Brust. Plötzlich spürte sie, wie sich kleine kalte Finger ganz fest um ihren Hals und auf ihre Kehle legten und zudrückten. Hasserfüllt verzog sich der Mund des Fratz, während Janas Augen ausdruckslos durch sie hindurchblickten.
Johanna schrie auf und ließ los. Aber das Kind fiel nicht. Es krallte sich an ihrem Hals fest. Johanna wurde schwarz vor Augen. Mit aller Kraft löste sie die starren Finger der Kinderhände. Jana stürzte zu Boden. Aber sofort stand sie wieder auf und lief aus dem Zimmer zur Treppe. Johanna war erschüttert. Hatte sie eben die Mordlust eines Kleinkindes gespürt? Wollte Jana sie wirklich töten mit ihren bloßen Händen! Sie war doch noch ein kleines Kind!
Johannas Hals schmerzte. Ihr Bauch war übersät mit blauen Flecken. Unten hörte sie den Fratz wie immer rastlos umherlaufen. Johanna taumelte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer und holte eine Flasche Cognac aus dem Schrank. Mit zitternden Fingern schenkte sie sich ein. Der Alkohol stieg ihr sofort zu Kopf. Dennoch leerte sie das ganze Glas. Das Beruhigungsmittel, das der Arzt ihr gegeben hatte, fiel ihr wieder ein. Pillen würden ihr Problem nicht lösen können. Oder vielleicht doch?
Sie goss sich ein zweites Glas ein und schluckte eine der kleinen blauen Tabletten. Danach schlich sie sich in die Küche. Ihr Gang war unsicher. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Jana – oder war es der Fratz? – aß für ihr Leben gern Bananenbrei. Johanna erhitzte Milch in einem Topf, löste alle Beruhigungstabletten darin auf, fügte viel Zucker hinzu und goss diese Mischung über Zwieback und zwei zerkleinerte Bananen. Sorgfältig vermengte sie alle Zutaten und rief dann: “Jana! Dein Frühstück ist fertig!“ Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Hände zitterten, als sie Jana und den Fratz in den Hochstuhl zwängte und den Teller vor sie hinstellte.
Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch. Jana richtete ihre toten Augen auf sie. Sie machte keine Anstalten, einen Löffel Brei zum Munde zu führen. Auch das Gesicht des Fratz blieb reglos.
Johanna betrachtete ihn verwirrt. Sonst war der Fratz doch immer so gierig. „Da, iss!“, sagte sie mit schwerer Zunge und schob den Teller etwas näher an das Kind heran.
Janas Arme hoben sich mechanisch und schoben ihn weit von sich weg.
„Es ist Bananenbrei. Den magst du doch so gern!“ Johanna nahm den Löffel, füllte ihn reichlich und versuchte ihn Jana in den Mund zu schieben. Aber Jana presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass es unmöglich war, ihr etwas von dem Brei einzuflößen. Johanna wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ihr Blick fiel auf den Mund des Fratz. Seine fadenförmigen Lippen grinsten hämisch.
Da verlor sie die Beherrschung. „Du Scheusal!“, schrie sie, „Du bist ein Ungeheuer! Ich hasse dich!“ Völlig außer sich stieß sie dem Fratz Löffel um Löffel des vergifteten Bananenbreis in die Mundhöhle. Der Brei rann wieder heraus und troff am Fratz und an Janas Gesicht hinunter. Die ganze Zeit über grinste der Fratz, während Jana ihren Mund fest geschlossen hielt.
Johanna rannte aus der Küche. Sie lachte und weinte zugleich. Wieder setzte sie sich ins Wohnzimmer und versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war. „Komm!“, klang es aus der Küche. „Raus aus Stuhl!“ Aber Johanna überhörte es. Nur langsam konnte sie einen halbwegs klaren Gedanken fassen. Sie hatte also wirklich gerade versucht, ihr eigenes Kind umzubringen. Doch es war ihr nicht gelungen. Es war ihr nicht gelungen, weil dieses Wesen offensichtlich übersinnliche Kräfte besaß. Und wenn es ihre Gedanken lesen konnte, dann war es ihr immer einen Schritt voraus. Niemals würde sie es besiegen können.
In der Küche hörte sie einen lauten Knall. Der Fratz hatte so lange versucht, sich aus dem Hochstuhl zu befreien, bis der Stuhl umgefallen war.
Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich. Johanna sah, dass Jana über einer Augenbraue blutete, aber das kümmerte den Fratz wenig. Er zwang sie weiterzulaufen. Johanna fühlte sich wie gelähmt. Sie begriff, was vorging, doch sie konnte sich nicht rühren. Es war, als ob sie von außen auf ihr Leben schauen würde.
Auf dem Tisch stand die Cognacflasche. Der Fratz wollte die Flüssigkeit kosten. Jana trank mehrere Schlucke. Es tat ihr nicht gut. Sie hustete und begann zu schwanken. Der Fratz schickte sie dennoch hinaus aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte Johanna, wie sie die Stufen zum Kinderzimmer hinaufkletterte. Sie musste schon fast oben sein, da verlor sie plötzlich das Gleichgewicht und stürzte die steile Treppe hinunter.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Johanna genügend Kraft aufbrachte, um aufzustehen und in den Flur zu gehen. Jana lag auf dem Boden. Ihre Beine schienen merkwürdig verrenkt. Der große Kopf lag halb verdreht auf der Seite. Aus einem Ohrloch des Fratz war ein wenig Blut geflossen. Zögernd legte Johanna ihre Hand auf Janas Brust. Das Herz schlug nicht mehr.
Krämpfe verzerrten das Gesicht des Fratz. Seine Augäpfel rollten unablässig. Sie bewegten sich hin und her, auf und nieder, als wollten sie die durch die Hautschicht hindurchbrechen.
Johanna setzte sich auf die unterste Treppenstufe und sah dem Fratz beim Sterben zu. Sie war so erschöpft, dass sie noch nicht einmal schreien konnte, als sich plötzlich ein Auge in dem unfertigen Gesicht öffnete und sie anstarrte. „Mama“, wimmerte der Fratz, „Mama“, ehe sein Blick verlosch.
E-Mail: evamarkert@arcor.de
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